Die Andamanen und Nikobaren sind zwei im Bengalischen Golf zwischen Vorder- und Hinterindien gelegene Inselgruppen, die trotz ihrer räumlichen Nähe doch ganz verschiedene Menschen aufweisen. Beide stehen unter englisch-indischer, wenn auch eigener lokaler Verwaltung. In Port Blair auf den Andamanen befindet sich die Strafkolonie des indischen Königreichs, etwa sechzehntausend Menschen, die zu lebenslänglicher oder doch wenigstens langjähriger Haft auf diesem idyllisch schön gelegenen Stück Erde verurteilt sind.
Die Ureinwohner der Andamanen sind Negrito, Leute von sehr kleiner Statur (ein Meter achtundvierzig Zentimeter für die Männer) und dunkler Hautfarbe mit kurzem Kopf und spiralgelocktem Haar (Abb. 374 und 375), also Verwandte der Semang auf Malakka und der eigentlichen Negrito auf den Philippinen, die wie diese auf recht niederer Kulturstufe stehen. Hingegen sind die Bewohner der Nikobaren hochgewachsene, hellfarbige Menschen mit langem Schädel und langem, schlichtem Haar, die eine höhere Kultur bereits besitzen, wahrscheinlich von der südöstlichen Spitze des asiatischen Festlandes herstammen und den wilden Malaien verwandt sind. So verschieden wie die Bewohner der Andamanen und Nikobaren in ihrem Äußern sind, ebenso unterscheiden sie sich in ihren Gebräuchen und religiösen Ansichten.
Die Andamanesen kennen feste Wohnungen nicht; sie leben unter Laubdächern. Ihre Kleidung ist sehr primitiv und besteht aus einem Blätterschurz; vielfach gehen sie auch ganz nackt. Körperschmuck ist bei ihnen nur gering entwickelt. Beliebt ist Bemalung mit rotem Ocker, besonders unter den Weibern, die sich außerdem ihr Gesicht, bisweilen auch Arme, Beine und Rumpf mit breiten weißen Farbstreifen schmücken. Kokette Personen legen sich ein aus Pflanzenfasern geflochtenes schmales Band um die Hüften, an dem als Berlocke ein kleiner schöngeglätteter und gebleichter Fischknochen herabhängt. Auch Tatauierung kommt bei beiden Geschlechtern vor (Abb. 374). Es scheint, daß diese Muster, die durch kleine Einschnitte auf Brust und Rücken hervorgebracht werden, teils Kennzeichen der geschlechtlichen Reife, teils Stammesmarken abgeben. Die Waffen der Andamanesen sind Bogen und Pfeil, sowie Speere. Ihre soziale Einrichtung ist die Großfamilie; eine feste Organisation gibt es nicht. Die Erzeugung des Feuers ist ihnen merkwürdigerweise unbekannt, auch ihre Sprache besitzt keinerlei Bezeichnung, die dafür spricht, daß sie vormals sich auf die Feuerzubereitung verstanden hätten. Trotzdem verfügen sie heutzutage wohl über Feuer, aber es wird stets an schon vorhandenem angezündet. Dagegen sind die Andamanesen imstande, rohes Topfgeschirr anzufertigen und es auch bereits mit einfachen Mustern zu versehen. Ihre Nahrung sind die Erträge der Jagd und des Bodens. Bemerkenswert ist die Sitte, daß ein jeder, ganz gleich ob Mann oder Weib, irgendein Tier sein ganzes Leben lang von seiner Nahrung ausschließen muß; bei Übertretung dieser Vorschrift steht zu gewärtigen, daß sich dem Betreffenden die Haut abschält, er weiße Haare bekommt und so weiter. Bei der Auswahl der verbotenen Speise ist in den meisten Fällen die Behauptung der Mutter maßgebend, daß diese dem Kinde Verdauungsbeschwerden mache, in anderen Fällen wird irgendein Tier aus eigenem Antrieb erwählt, natürlich zumeist ein wenig schmackhaftes (Individualtotemismus).
Die Andamanesen stehen in geistiger Hinsicht auf der Stufe des Kindes. Nach den Schilderungen von Richard Temple sind sie gegen Fremde argwöhnisch, aber auch gastfrei, undankbar, nachäffend, eitel und unter dem Einfluß der Eitelkeit fleißig und ausdauernd, gelehrig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, die schnell erreicht wird, geistig leicht ermüdend, von kurzem, aber zähem Gedächtnis, geneigt für Spiel und Scherz; sie sind ferner sorglos und unbekümmert, waghalsig, aber nicht mutig, selbstsüchtig, aufbrausend, ganz unverantwortlich im Zorn, aber leicht auch zu besänftigen. Unter sich sind sie in der Regel liebevoll und freundlich, rücksichtsvoll gegen alte Leute, Schwache und Hilflose, gütig gegen ihre Frauen und Kinder und stolz auf die letzteren, die sie häufig verwöhnen. Werden sie aber gereizt, dann werden sie grausam, neidisch, verräterisch und rachsüchtig.
Phot. E. H. Man.
Abb. 374. Andamanese mit Schmucknarben,
die von Frauen an beiden Geschlechtern zwischen acht und achtzehn Jahren angebracht werden. Sie bestehen aus einer Reihe von Einschnitten, die mit einem Glasscherben erzeugt werden.
Phot. Lady Eadley-Wilmot.
Abb. 375. Trauernde Andamanesen,
die ihren Körper mit olivgrünem Lehm beschmieren und ihn dann mit gelbem Ocker bemalen. Im Vordergrunde in der Mitte eine trauernde Mutter mit senkrechter Streifenbemalung, links von ihr eine trauernde Gattin mit dem Schädel des Verstorbenen auf dem Rücken.
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Soziale Empfindungen werden im allgemeinen nicht in Worte gekleidet. Kommt man zusammen, dann starrt man sich eine Zeitlang schweigend an, bis der Jüngere das Schweigen mit einer alltäglichen Bemerkung bricht. Dann erst erfolgt eifriges Erzählen von Neuigkeiten; diesen zuzuhören bereitet dem Andamanesen ein großes Vergnügen. Wenn hingegen Verwandte zusammenkommen, dann setzt sich einer dem anderen auf den Schoß (Abb. 376); sie schmiegen sich fest aneinander an, weinen laut und gebärden sich überschwenglich; nach einer langen Trennung dauert dieses Verhalten unter Umständen stundenlang. Beim Abschied reicht man sich die Hand, pustet darauf und tauscht Abschiedsworte aus.
Phot. Heywood Seton-Karr.
Abb. 376. Gegenseitige Begrüßung der Andamanesen nach langer Abwesenheit.
Phot. A. R. Brown.
Abb. 377. Eheschließung der Andamanesen.
Die Andamanesen bekunden eine kindliche Vorliebe für Spiele; sie kennen ein einheimisches Blindekuhspiel, Bockspringen und ein Versteckspiel. Scheinjagden auf Tiere, Scheinbegräbnisse und Geistersuchen sind ihr Lieblingssport; sie veranstalten auch gern Wettspiele beim Schwimmen, Werfen, Schaukeln, Bogenschießen und Ringkampf. Die Beschaffung der Nahrung ist natürlich ihre Hauptbeschäftigung; dann kommt aber sogleich der regelmäßige Abend- oder Nachttanz, eine seltsame, eintönige Aufführung, bei der die Füße rhythmisch auf einem besonderen Schallbrett (einem schildartig ausgehöhlten Stück Holz, das auf einem Querholz ruht) aufschlagen, ein oder mehrere Lieder aus dem Stegreif gesungen und die Hände in gleichmäßigem Takte auf die Lenden geklatscht werden. Dieser Tanz findet jeden Abend statt, sofern sich nur genügend Teilnehmer zusammenfinden; er wird stundenlang, bei besonderen Gelegenheiten auch die ganze Nacht lang ausgedehnt. Beide Geschlechter tanzen die ihnen zugewiesenen Rollen. Diese Vergnügungen und die Schildkrötenjagd sind die einzigen Beschäftigungen, die den Andamanesen die ganze Nacht hindurch wachzuhalten vermögen.
Phot. A. R. Brown.
Abb. 378. Eine andamanesische Mutter,
die ebenso wie ihr Kind am Kopfe geschoren ist.
Die Religion der Andamanesen besteht in der einfachsten Form des Animismus, das heißt sie beschränkt sich auf eine unbestimmte Furcht vor den Geistern der Ahnen und den bösen Geistern des Waldes, der See und der Krankheit; sie ist darauf bedacht, Handlungen zu vermeiden, die für diese unangenehm sind. Außerdem kennen sie eine Art höchsten Wesens, den Sturmgott, Puluga genannt, der früher auf der Erde auf dem höchsten Berge der Andamanen lebte, jetzt aber im Himmel in einem großen Hause wohnt. Er hat die ganze Welt und alle Dinge geschaffen, ausgenommen die bösen Kräfte. Daher besitzt er auch über diese keine Macht; er begnügt sich damit, ihnen seine Beleidiger anzugeben. Puluga hat auch eine Frau, die er sich selbst schuf, und viele Kinder, die sich im Verein mit der Mutter damit vergnügen, von Zeit zu Zeit Fische und Krabben in die Flüsse und in das Meer für die Bewohner der Erde zu werfen. Verehrung oder Gottesdienst kommt bei den Andamanesen in keinerlei Form vor. Man braucht sich gar nicht weiter um die höchste Gottheit zu kümmern, darf nur das nicht tun, wodurch sie veranlaßt werden könnte, den Ertrag des Dschungels zu schädigen. Jedoch kennen sie einige Maßregeln, um sich vor Unglück zu schützen. So tragen sie stets Feuer bei sich, um den Waldgeist zu verscheuchen, sie werfen explodierende Blätter ins Feuer und verbrennen Bienenwachs, um den Sturmgeist fernzuhalten, sie schwirren mit dem Bogen und machen sich dabei lustig über den Mond bei einer Finsternis und ähnliches mehr. Die Andamanesen glauben stark an Träume, die oft genug ihr späteres Benehmen beeinflussen, auch an die Aussprüche weiser Männer, von solchen, die prophetische Träume haben, mit einem zweiten Gesicht begabt sind und die Macht besitzen, mit Geistern zu verkehren, oder imstande sind, Glück und Unglück herbeizuführen. Solche Leute betreiben eine primitive Zauber- und Hexenkunst und ziehen dabei für sich Nutzen aus den Dingen, die sie zu diesem Zweck mit Tabu belegen. Der Andamanese hat eine bestimmte Vorstellung über die Seele, die er von seinem Spiegelbild im Wasser, nicht von seinem Schatten herleitet. Sie wandert nach dem Tode in eine andere Dschungelwelt und lebt dort, wie sie hier auf Erden gelebt hat; hin und wieder besucht sie die Erde und bekundet eine deutliche Neigung, in andere Wesen einzugehen. Demnach hat jedes empfangene Kind schon vorher ein Dasein geführt. Auch Tieren und im besonderen Vögeln werden menschliche Eigenschaften beigelegt. Gefangene, die von den Andamanesen ermordet worden waren, fand man mit schweren Steinen bedeckt, um die Vögel zu warnen, daß sie den Engländern nicht verrieten, was vorgefallen war, und wohin sich die Mörder begeben hatten. Die Andamanesen besitzen eine Unmasse Märchen, an deren Wirklichkeit sie glauben; in ihnen spielt die Verwandlung von Menschen in Tiere, Vögel, Fische, Steine und andere Gegenstände eine große Rolle; daher erblicken sie in den wichtigsten Tieren ihrer Fauna die tierischen Formen ihrer Ahnen.
Phot. E. H. Man.
Abb. 379. Pfahlbaudorf der Nikobaresen zu Camorta Harbour.
Die großen Gebäude sind Wohnhäuser, die kleineren mit geradem Dach Küchenhäuser. Die Stangen zur Linken sind zum Schutze gegen die bösen Geister aufgestellt.
Das Kind erhält bereits vor der Geburt seinen Namen, der beim männlichen Geschlecht allerdings meist bei Eintritt der Mannbarkeit, bei der Hochzeit und im höheren Alter einen Wechsel oder eine Abänderung erfährt. Heißt ein Knabe zum Beispiel Hira, so wird dieser Name bei der Reife in Guma-hira, bei der Hochzeit in Maya-hira und im Alter in Maya-jangi-hira umgeändert. Hübsch ist die Sitte, ein Mädchen bei der zweiten Namensgebung nach einem von sechzehn auserwählten Bäumchen zu benennen, das gerade um die Zeit, in der es das Reifealter erreicht, blüht. Am Morgen nach der Geburt wird dem Kinde das Kopfhaar geschoren; würde dies sofort geschehen, dann könnte das Kind sterben. Auch an der Mutter wird dieses Verfahren, wenn auch nur teilweise, vorgenommen (Abb. 378). Bald nach der Geburt formt der Vater dem Kinde den Kopf, indem er mit angewärmten Händen ihn von allen Seiten zusammendrückt; in gleicher Weise verfährt er mit den übrigen Körperknochen. — Merkwürdig ist der Brauch, daß innerhalb des Stammes einer die Kinder des anderen annimmt; Kinder, die nach dem sechsten oder siebenten geboren werden, leben daher selten bei ihren Eltern. Haben die Knaben und Mädchen die Zeit der Reife erreicht, so finden bestimmte Einweihungsfeierlichkeiten statt. Nachdem sie Jahre hindurch bestimmten Speiseverboten (Enthalten des Genusses von Schildkröten, Schweinen, bestimmten Fischen, Honig und so weiter) sich unterworfen haben, werden diese Verbote durch besondere Feiern gruppenweise wieder aufgehoben. Eine zeitweise Absonderung der Novizen findet aber nicht statt, und beide Geschlechter dürfen an den Feierlichkeiten teilnehmen.
Phot. E. H. Man.
Abb. 380. Ringkampf der Nikobaresen,
der bei ihnen sehr beliebt ist. Dieser Kampf wird an den Geisterpfosten am Landungsplatze des Dorfes abgehalten. Auch die Vorliebe dieses Volkes für europäische Kleidung zeigt sich in diesem Bilde. Der rechts außen stehende Eingeborene trägt nichts als einen steifen Hut, neben ihm steht ein birmanischer Händler, der übernächste trägt außer dem Tropenhelm nur ein Hemd usw.
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Phot. E. H. Man.
Abb. 381. Modelle der Nikobaresen von Häusern, Kanus, Lärmgeräten, um die Geister zu erschrecken,
wozu die Brettchen in der Mitte mit eingeschnittenen tanzenden Männern und Frauen und die Figuren unmittelbar darüber dienen. Die drei Kopfbedeckungen daneben werden in der Nacht vor dem großen Erinnerungsfest an die Verstorbenen den ausgegrabenen weiblichen Schädeln aufgesetzt.
Die Heirat wird durch die Eltern oder Verwandten zustande gebracht; auch kleine Kinder werden bereits miteinander verlobt und müssen, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht haben, diese Vereinbarung erfüllen. Die Ehe der Andamanesen ist die Einehe. Auch Leviratsehe besteht, das heißt die Pflicht für den unverheirateten jüngeren Bruder, die Witwe des verstorbenen Bruders oder für einen kinderlosen Witwer, die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau zu heiraten, vorausgesetzt, daß kein zu großer Altersunterschied besteht. — Der Hochzeitsritus ist ein ganz einfacher und besteht nur darin, daß an einem Morgen in Gegenwart des Häuptlings und derer, die es angeht, der Bräutigam seine Beine über die der Braut legt (Abb. 377), und daß man zum Zeichen der vollzogenen Ehe Fackeln um sie anzündet. Trotz dieser gewiß einfach zu nennenden Zeremonie, der jede religiöse Bedeutung abgeht, bleibt die Ehe doch eine feste; eine Scheidung kommt selten vor, niemals aber nach der Geburt eines Kindes. Ebenso ist Polygamie oder Blutschande ausgeschlossen. Auf Untreue ruht Todesstrafe für beide schuldigen Teile, obgleich geschlechtlicher Verkehr schon vor der Hochzeit die Regel ist.
Mehr Bedeutung als den übrigen Ereignissen des Lebens legt man der Bestattung der Toten bei. Kleine Kinder werden nur einfach unter dem Fußboden der elterlichen Hütte begraben, dagegen die Erwachsenen entweder in einer flachen Gruft beigesetzt, oder, was als eine besondere Ehre gilt, zu einem Bündel zusammengebunden, auf eine Plattform oder in die Zweige eines Baumes gelegt. Kränze aus Rohrblättern werden sichtbar um den Platz herum aufgehängt, der ungefähr drei Monate lang vereinsamt bleibt. Merkwürdig ist, daß dieses alles ohne irgendwelches Weinen oder Wehklagen vor sich geht. Nach Ablauf dieser Zeit werden die Knochen des Verstorbenen ausgegraben, gewaschen, zerbrochen und an die Bekannten verteilt, auch zu Schmuck verarbeitet; man legt ihnen großen Wert bei, einmal als Andenken an den Toten und zum anderen als Linderungsmittel bei Schmerzen wie überhaupt als Heilmittel bei Krankheiten; es genügt, sie einfach auf die erkrankte Körperstelle zu legen. Der Schädel erfährt meistens eine besondere Ehrung. Der nächste Angehörige pflegt ihn mit roter Farbe bemalt und mit Fransen aus Holzfasern verziert, vom Halse herab das ganze Leben lang auf dem Rücken oder auf der Brust zu tragen (Abb. 375). Die Trauer selbst besteht darin, daß man sich den Kopf mit grüngrauem Lehm beschmiert und den übrigen Körper mit gelbem Ocker bemalt — die Eltern schmücken sich mit senkrechten Streifen —, sowie das Tanzen einstellt.
Phot. E. H. Man.
Abb. 382. Opfer an die bösen Geister in Gestalt von Früchten,
dargebracht von den Angehörigen eines Toten, um sie bei guter Laune zu erhalten.
Die Nikobaresen, die bereits bei ihrer Einwanderung die Eigenschaften der Kontinentalvölker, denen sie angehörten, mitbrachten, aber diese frühere Halbkultur wegen der isolierten Lage ihrer neuen Heimat unverändert beibehielten, sind ein intelligentes Volk, das sich mit Leichtigkeit fremde Sprachen aneignet und sehr bewandert ist im Handel mit ihrem Hauptausfuhrartikel, den Erzeugnissen der Kokospalme. Der Wunsch, fremde Sprachen, Kleidung und Manieren nachzuahmen, und die erfrischende Naivität, die dabei zum Ausdruck kommt, lassen sie dem Fremden gegenüber als ein äußerst amüsantes Volk erscheinen (Abb. 380). Wie ihre Stammesgenossen auf dem Festlande leben sie ebenfalls in festen Wohnungen, die für gewöhnlich auf Pfählen, entweder direkt auf dem trockenen Lande oder an Hintergewässern oder an sonstigen geeigneten, vor hohem Seegang geschützten Stellen gruppenweise (Dörfer) errichtet sind (Abb. 379). Die Nikobaresen waren früher Strand- und Seeräuber, bis die indische Regierung diesem Unfug Einhalt tat; sonst sind sie nach der Schilderung von Temple ein ruhiges, friedliebendes, gegen Kinder, alte Leute und Frauen gütiges Völkchen. Ihre Verwaltung ist ganz demokratisch und liegt in den Händen eines Häuptlings; dabei halten sie streng an den althergebrachten Gewohnheiten fest.
Die Stellung der Frau ist bei den Nikobaresen eine verhältnismäßig hohe; sie ist hier nicht mehr die Sklavin des Mannes, sondern genießt volle Freiheit. Das mag zum Teil daher rühren, daß Mädchengeburten auf diesen Inseln relativ spärlich sind und daher mehr Nachfrage nach weiblichen Wesen herrscht. Ein Mädchen hat auch das Recht, einen ihr unangenehmen Freier zurückzuweisen. Bei der Hochzeit bekommt die Braut eine Aussteuer an Schweinen, Kokos- und Pandanusbäumen mit. Der Ehemann siedelt merkwürdigerweise in das Haus seiner jungen Frau über, nicht umgekehrt. — Kommt die Nikobaresin in andere Umstände, dann wird sie und ihr Gatte von allen Arbeiten befreit. Wo sie beide hinkommen, werden sie freudig aufgenommen, und ihnen zu Ehren wird das beste Schwein geschlachtet. Für gewöhnlich verlangt man dann von der Schwangeren auch, daß sie Samenkörner in die Erde lege, weil man sich von dieser Saat eine besondere Fruchtbarkeit verspricht. — Da hochgradige Schädelabflachung auch unter diesen Insulanern für schön gilt, ist es allgemeiner Brauch, daß die Mütter ihren Kindern sogleich von der Geburt an den Kopf in eine bestimmte Form bringen, indem sie ihn mit angefeuchteten Händen jeden Tag mehrere Stunden lang sanft zusammendrücken.
Phot. E. H. Man.
Abb. 383. Kleines Boot, in das der Priester einen Geist gebannt hat und in dem dieser stromab treibt.
Phot. A. R. Brown.
Abb. 384. Tanz beim Friedensschluß.
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Da die Nikobaresen in einem für ihre Lebensweise und ihre Anforderungen an Behaglichkeit wirklichen Lande des Überflusses leben, so bleibt ihnen naturgemäß viel freie Zeit übrig, die sie zum großen Teil, man kann fast sagen, gänzlich auf religiöse Zeremonien und das Verfertigen der dafür nötigen Gegenstände (Abb. 381) verwenden. Die Zeremonien beruhen sämtlich auf einer alles beherrschenden Angst vor Geistern und Gespenstern und auf der daraus folgenden Notwendigkeit, diese zu verscheuchen und zu bannen. Dieser Gedanke liegt jedweder Zeremonie zugrunde, ob sie geselliger oder anderer Natur ist; er füllt einen großen Teil ihres Lebens aus, besonders des Nachts. Ein Ausfluß dieses Aberglaubens ist auch die feierliche Hinrichtung der Übeltäter, die sich schwerer Vergehen gegen die Gemeinde, wie Mord, Gewohnheitsdiebstahl und öffentliches Ärgernis zuschulden kommen ließen; da in ihren Augen der Teufel von ihnen Besitz ergriffen hat, so werden sie in aller Form mit großer Grausamkeit getötet. Hexen und Hexenentdecker gibt es natürlich im Überfluß, da jedes Unglück und jede Krankheit einer Hexe oder einem Geist zugeschrieben werden. Das alleinige Heilmittel dafür bleibt dann stets die Austreibung, die entweder privatim oder von einem Heilpriester vorgenommen wird. Letzterer, übrigens ein Typus, wie er unter vielen halbkultivierten Volksstämmen angetroffen wird, erscheint hier in interessanter Abwechslung in der Gestalt des Mafai, das heißt „eines Menschen, der priesterlichen Unterricht erhält“ (= Adepten). Ein jeder, der sich dazu berufen fühlt, kann es zu einem solchen Mafai bringen, deswegen braucht er schließlich doch noch nicht ein vollkommener Priester zu werden. Dieser priesterliche „Student“ führt ein behagliches, müßiges Leben, denn seine Bediensteten besorgen alles; er wird in einer Art Feldstuhl von einem Ort zum anderen getragen (Abb. 373).
Aus der Fülle abergläubischer Gebräuche der Nikobaresen wollen wir uns darauf beschränken, eine wenige hier herauszugreifen. Die Familie und ihre Freunde halten mit Hilfe des Priesters einige allgemeine Geisterbeschwörungen in der Form eines Geisterfestes ab. Die Männer sitzen dabei umher, rauchen und trinken, die Weiber schleppen an Hausvorrat Lebensmittel, Geräte, Waffen und allerlei sonstigen Kram herbei; letzterer wird, nachdem man tüchtig geheult hat, zerbrochen und vors Haus geworfen. Dann wird ein besonders gemästetes, großes Schwein im ganzen gebraten und unter die Vorfahren und die Anwesenden, hauptsächlich aber unter letztere, verteilt. Dadurch sollen die Geister besänftigt werden (Abb. 382). Der Priester, der inzwischen vom Trinken und seiner Geheimniskrämerei in Verzückung geraten ist, beginnt jetzt sein Geschäft; er ist ganz mit Öl eingerieben und im Gesicht rot bemalt. Er singt klagend mit tiefer Baßstimme, eilt umher, um den Geist des Unheils zu fangen, zu beschwatzen, auszuschelten und zu schmähen, die Frauen begleiten sein Getue mit fürchterlichem Geheul, so lange, bis nach einem Kampf der Geist angeblich ergriffen, in ein kleines, verziertes Modellboot gesteckt und weit in die See hinausgetrieben wird (Abb. 383). Da man sich nun vor dem bösen Geist sicher glaubt, setzt die Belustigung ein, bis spät in die Nacht dauern Essen, Trinken, Singen und Tanzen an. Sollte das Boot etwa in einem anderen Dorf landen und dort sich festsetzen, dann greifen dessen Bewohner die Beleidiger mit kurzen, dicken Stöcken nach alter Sitte an, bis ein paar Köpfe oder Gliedmaßen verletzt sind. Erst dann wird der Friede erklärt, der manchmal unter sonderbaren Zeremonien geschlossen wird. Die Männer, die den letzten Angriff unternommen haben, errichten eine Wand aus Grasfasern und stellen sich vor sie hin, während die Weiber auf dem Boden vor ihr Platz nehmen und im Takte mit ihren Händen die Schenkel schlagen (Abb. 384). Die Männer der Gegenpartei tanzen dann vor ihnen; jeder Tänzer legt seine Arme auf die Schulter eines der stehenden Männer und springt mit ihm unter tüchtigem Schütteln auf und ab. Nach dem Tanze weinen beide Teile und tauschen ihre Waffen untereinander aus. Hieran schließt sich noch ein Fest, bei dem die Angreifer als Gäste des fremden Dorfes einen oder zwei Tage bleiben.
Das Leben der Nikobaresen ist von zahlreichen Tabu durchsetzt, die ihnen manchmal wirklich recht unbequem werden. Die sonderbarsten derartigen Verbote dürften diejenigen sein, die die Sprache und Nomenklatur der Leute beeinflussen. Ein jeder Mensch hat das Recht, sich ein beliebiges Wort aus der Landessprache, sei es noch so wesentlich oder ganz allgemein, als Name anzueignen; stirbt er aber, dann wird dieses Wort für etwa eine ganze Generation mit Tabu belegt, aus Furcht, man könnte, wenn man es ausspräche, den Geist herbeirufen. Einen noch augenfälligeren Beweis dafür, wie stark der Aberglaube häusliche Gepflogenheiten beeinflußt, können wir in der Gewohnheit erblicken, im Hauseingang Schreckbilder der Geister aufzuhängen; es sind dies manchmal lebensgroße Figuren menschlicher Wesen, die oft mit Speeren bewaffnet sind, manchmal auch mythische Tiere, mit Fischen, Krokodilen, Vögeln und Schweinen als Unterlage und bildliche Darstellungen aller möglichen Dinge in bunten Farben auf flache Arekablattscheiden gemalt. Auch draußen vor dem Hause befinden sich ähnliche Geisterscheuchen.
Die Begräbnisfeierlichkeiten der Nikobaresen sind zahlreich und ziehen sich sehr in die Länge; sie verfolgen lediglich den Zweck, die Geister in Furcht zu versetzen, an anderen Orten auch, um den Geist bei guter Laune zu erhalten und die Lebenden vor seinem Zorn zu schützen. Ein Todesfall bringt viel Unkosten mit sich, die die Eingeborenen aber gern auf sich nehmen, falls nur der Geist dadurch beschwichtigt wird. Die Leichen werden zwischen Sonnenuntergang und Tagesanbruch begraben, damit die Schatten der Trauergesellschaft nicht in die Gräber fallen und mit dem Toten begraben werden; denn der Schatten des Nikobaresen ist das sichtbare Zeichen seines Geistes, vielfach feiert man daher noch ganz besonders „das Speisen der Schatten“. Der Geist des Verstorbenen gilt für um so gefährlicher, je kürzere Zeit seit dem Tode vergangen ist; darum hält man an manchen Stellen recht bald ein Fest ab, bei dem die Toten wieder ausgegraben, die Knochen gesäubert und nochmals in der Erde beigesetzt werden. An manchen Orten nimmt diese Sitte die Form einer gemeinsamen alljährlich wiederkehrenden Ausgrabung aller kürzlich Verstorbenen an, die mit großer Feierlichkeit einhergeht; die Knochen werden sodann in einem Beinhause untereinander gemischt; die Geister können nun keinen Schaden mehr anrichten. In noch anderen Dörfern legt man die Leichen in ein Halbkanu, das zu diesem Zwecke in der Mitte durchgeschnitten wurde, und stellt dieses in die Gabelung zweier Pfosten ins Dschungel, bis der Körper herausfällt und das Fleisch von den Schweinen verzehrt wird. Ab und zu finden die Gebeine dieser Leichen unter großem Gepränge ebenfalls Aufnahme in einem gemeinsamen Beinhause. Und in noch anderen Orten gibt es neben dem Begräbnisplatze besondere Sterbehäuser, in die man sich zurückzieht, wenn es ans Sterben geht (Abb. 385).
Phot. E. H. Man.
Abb. 385. Begräbnisplatz mit Grabpfosten und Sterbehaus auf den Nikobaren.
Phot. R. Lenz.
Abb. 386. Begräbniswagen mit der Leiche des letzten verstorbenen Königs.