Madagaskar.

Die Bevölkerung der Südafrika im Osten vorgelagerten Insel Madagaskar setzt sich aus verschiedenfarbigen Völkerelementen zusammen, deren Grundbestandteile ein interessantes Rassenproblem abgeben. In der Hauptsache scheinen es zwei Rassen gewesen zu sein, die zu ihrer Zusammensetzung beigetragen haben; die reinsten Vertreter der einen sind die Hova, die der anderen die Sakalaven; die Mischungsprodukte zwischen beiden sind die übrigen überaus zahlreichen Stämme, die die Franzosen unter dem Sammelnamen der Madagassen zusammenfassen.

Die Hova, ursprünglich ein kleiner Stamm, der das Hochland von Imerina in Besitz nahm, haben es vermöge ihrer hohen Intelligenz und guten Beanlagung verstanden, bis die Franzosen sich zu Herren der Insel aufwarfen, die Führung über die übrigen Stämme zu behaupten; sie bilden auch jetzt noch die Oberschicht. Wie ihr Äußeres, ihre Geschichte, Sprache und ethnologischen Verhältnisse deutlich verraten, sind die Hova malaio-polynesischen Ursprungs und wanderten vor etwa achthundert bis tausend Jahren, mutmaßlich von den Großen Sundainseln her, ein; bekanntlich sind ja diese Völker in der Schiffahrt von jeher gut bewandert gewesen. Ihr Typus ähnelt in der Tat dem der Javanen; kleiner Wuchs, olivgelbe Hautfarbe, üppiges straffes oder leicht gelocktes schwarzes Haar, rundlicher Kopf, kleine, öfter schiefstehende Augen, flaches Gesicht, vorstehende Backenknochen, vorstehende gerade Nase und etwas dicke Lippen sind seine hauptsächlichen Kennzeichen. Weniger rein schon erscheint dieser malaiische Typus bei den südlich von den Hova wohnenden Betsileo. Die Hova bildeten früher einen Feudalstaat und zerfielen in drei Klassen: die Adligen (Andriana), die Freien (eigentlichen Hova) und die Sklaven (Andevo). — Das gerade Gegenteil der Hova sind die Sakalaven, ein Volk von tiefdunkler Hautfarbe und negerartigem Aussehen (wolligem Haar, länglichem Schädel, vorspringendem Gesicht und so weiter). Es liegt bei der Nähe Südafrikas die Vermutung nahe, daß sie von dort hergekommen sein mögen, aber ein derartiger Ursprung der Sakalaven wird aus gewichtigen Gründen — vor allem sind die Bantu durchaus keine Seefahrer — von zuständigen Kennern der Verhältnisse in Abrede gestellt. Es mag ja möglich sein, daß an der Zusammensetzung der dunklen Völker Madagaskars auch Bantuneger sich beteiligt haben, aber diese kamen nicht von selbst über die Meerenge von Mozambique, sondern wurden von den Arabern als Sklaven eingeführt. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, daß es sich bei den Sakalaven um Reste einer Urbevölkerung handelt, die zur afrikanischen Grundrasse gehörte, also den Negritos verwandt gewesen sein wird. Südafrika, Madagaskar, Südindien, die Sundainseln und so weiter bildeten ursprünglich ein zusammenhängendes Festland, das von eben dieser Rasse bewohnt gewesen sein muß; erst später hat dieses Festland seine heutige Gliederung erfahren.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 409. Haus der Betsimasaraka aus Bambus mit Strohdach.

Die übrige Bevölkerung Madagaskars, die sogenannten Madagassen (Abb. 410), kann man als eine Mischbevölkerung ansehen, die aus einer Kreuzung jener beiden Grundelemente hervorgegangen ist und in ihrem Äußeren bald mehr den einen, bald mehr den anderen Zug verrät. Es haben zu ihrer Zusammensetzung auch noch weitere Rassenelemente beigetragen, die, teils freiwillig, teils durch Schiffbruch verschlagen, die Insel besiedelten; es zählen zu diesen vor allem Araber, ferner Perser und Inder, vielleicht auch Chinesen und Japaner, und seit den letzten Jahrhunderten auch die Weißen. Die Madagassen weisen eine Unzahl von Stämmen auf, als deren wichtigste die Betsimasaraka (Abb. 412), die Tanala, Bara und andere zu nennen sind.

Die Grundverschiedenheit in der Abstammung der Hova und Sakalaven kommt auch in ihrer Kleidung, ihren Wohnungen (Abb. 408 und 409) und in ihren sonstigen Gepflogenheiten zum Ausdruck. Die Nationaltracht der Madagassen ist der Lamba (Abb. 410 und 411), ein großes Stück Zeug, entweder aus weißer Baumwolle oder aus leuchtend bunter Seide hergestellt, das als Überwurf getragen wird. Die Betsimasaraka tragen oft eine Tunika aus Raphiafasern, ihre Frauen außerdem noch eine kurze Jacke, die nur die Schultern, die Arme und den oberen Teil der Brust bedeckt, aber die Bauchgegend freiläßt, ähnlich wie die Tracht der Indierinnen. In den südöstlichen Provinzen haben manche Stämme noch ihre althergebrachten Mattentrachten aus Schilf in Gebrauch, ein röhrenähnliches Gewand, in das man hineinsteigen muß; es wird um die Hüften mit einem Gürtel zusammengehalten.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 410. Madagassenfrau mit ihrem Kinde auf dem Rücken,

das sie bei ihren Arbeiten auf dem Felde oder zu Hause in ihren Lamba gehüllt stets mit sich schleppt.

Schmuck ist besonders bei den dunklen Stämmen sehr beliebt und recht abwechslungsreich. Er besteht in möglichst vielen Ketten aus Korallen-, Glas- oder Silberperlen, Armbändern und Ringen aus Metall, großen Ohrringen und Stiften in den Nasenflügeln. Eine große Vorliebe zeigen die Hova- und Sakalavenfrauen für das Aufsetzen kleiner Schönheitstüpfelchen (bei den einen in schwarzer, bei den anderen in weißer oder gelber Farbe) auf die Haut des Gesichtes. Besonders pflegen alle Madagassenfrauen ihr Kopfhaar; bei Trauer wird es stark zerzaust und aufgebauscht (Abb. 423). — Tatauierung kommt nur noch selten vor.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 411. Eingeborenentanz zu Tananarivo.

Von den mit dem Nationalgewand (Lamba) bekleideten und mit Blumen geschmückten Mädchen tanzen die größeren einen Kindertanz; die jüngeren begleiten sie mit taktmäßigem Händeklatschen.

Die Religion der Hova, wie der Madagassen überhaupt, ist offiziell das Christentum, aber in Wirklichkeit zeigen sie sich religiös gleichgültig und neigen eher zu ihrem alten animistischen Aberglauben. Sie erkennen ein höchstes Wesen, Sanahary, das heißt den allgemeinen Schöpfer, an, den sie aber, da er seinem Wesen nach gut ist und dementsprechend im allgemeinen kein Unglück verhängt, in ihrem Kult ziemlich vernachlässigen. Dagegen sind die Geister der Ahnen Gegenstand der größten Verehrung, zumal sie außerordentliche Furcht einflößen. Man glaubt nämlich an ihre absolute Macht, Gutes und Böses über die Lebenden zu verhängen, denen sie sogar von Zeit zu Zeit einen Besuch abstatten. Das geht selbst so weit, daß man annimmt, ein verstorbener Mann könne nachts seiner Ehefrau beiwohnen, weswegen auch lange nach seinem Tode geborene Kinder als legitim anerkannt werden. Die Ahnengeister erhalten Opfergaben, gewöhnlich ein Stück Rindfleisch und etwas Rum, das man zu ihrem Grabe bringt, wenn man ihre Gunst gewinnen will. Die Madagassen glauben auch an die Unsterblichkeit der Seele, nehmen aber an, daß diese nicht ohne weiteres zum Himmel aufsteige, sondern zuvor noch eine Reihe Wanderungen durch teils wirkliche, teils eingebildete tierische Wesen durchzumachen habe, die der Mensch sich bis zu einem gewissen Grade aussuchen könne. Am meisten ist der Aberglaube verbreitet, daß die Seele des Toten sich zuerst in ein Kokolampy verwandle, ein Fabeltier mit langen Haaren, das in düsteren Wäldern umherirre, um die Gräber schleiche, sich von Krabben nähre und am Tage in Höhlen hause, nachts aber unheimliche Laute von sich gebe. Sobald man diese Töne hört, wagt sich niemand allein des Nachts in den Wald, in den Häusern stockt die Unterhaltung, kurz, es herrscht große Furcht. Wenn das Kokolampy stirbt, geht die Seele in den Körper eines dicken Nachtschmetterlings, den Voangoamba, über, dem zu begegnen den bevorstehenden Tod eines Familiengliedes anzeigt, sodann in ein Chamäleon, weiter in ein Insekt, namens Angalatsaka, und schließlich in eine Ameise, nach deren Tod sie sich erst befreit und in den Himmel eingeht.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 412. Wasserträger der Betsimasaraka.

Als Wasserbehälter dienen mächtige Bambusrohre, die das heiße, feuchte Klima prächtig gedeihen ließ.


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Unter den Sakalaven ist der Steinkultus noch sehr verbreitet, der offenbar mit alten religiösen Vorstellungen zusammenhängt. So begegnet man öfters großen Steinhaufen, die von Goldsuchern zusammengetragen wurden und von ihnen, unter Darbringung von Honig als Opfergabe, um Hilfe bei ihrem Gewerbe angefleht werden. An anderen Orten trifft man auf zwei einzelne große Steine, deren einer nach Norden, der andere nach Süden zeigt, die von Frauen, die Mütter werden wollen, angebetet und mit Honig und Fett eingerieben werden; wer sich einen Knaben wünscht, wendet sich an den südlichen, wer ein Mädchen haben möchte, an den nördlichen Stein. Andere Steine werden angegangen, um eine Zunahme des Besitztums, eine Vermehrung der Herden, Fruchtbarkeit für die Aussaat und ähnliches mehr zu erflehen. Es gibt auch Steinbauten in Form von Dolmen; auf sie gießen die Tanala, bevor sie ihre Toten begraben, die von diesen ausgeschiedene Flüssigkeit aus und richten Gebete und Danksagungen an die Seelen der Vorfahren. Daher findet man auf ihnen auch stets Bananenblätter mit Reis und einen Bambusbehälter mit Honig oder Rum.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 413. Madagassische Zauberer weissagen mittels Getreidekörnern,

die sie auf einer Matte in sechzehn Häuschen hinlegen, darauf Figuren aus ihnen bilden und deren Bedeutung dann auslegen.

Der Madagasse unternimmt nichts Wichtiges, ohne daß er einen Zauberer zu Rate zieht. Dieser breitet eine Handvoll Getreide oder eine Anzahl Samen nach gewissen Regeln auf einer Matte aus und bildet aus ihnen sechzehn Figuren, deren Bedeutung er nach einem bestimmten Gesetz auslegt (Abb. 413). Überhaupt sind die Zauberer, die bald Mpanazary, bald Ombissa, Mpisikidy oder Masina und so weiter heißen, auf der ganzen Insel sehr wichtige Persönlichkeiten. Sie stehen in dem Rufe, nicht nur wahrsagen und Kranke heilen zu können, sondern auch die Macht zu besitzen, das Ody, einen Talisman, anzufertigen, der gewöhnlich aus kleinen Stücken geschnitzten Holzes, den Enden von Ochsenhörnern, die mit Glasperlen verziert sind, und Krokodilzähnen besteht. Die Hörner und Zähne werden mit Sand oder Erde, auch mit verschiedenen kleinen Gegenständen, wie vergoldeten Nägeln, Eisenabfällen und anderem mehr angefüllt. Nachdem der Zauberer Gott angerufen und das Zaubermittel noch mit Rinderfett eingerieben hat, händigt er es gegen Barzahlung seinem Kunden aus, der es nun beständig um den Hals trägt und fortan überzeugt ist, daß er bei allen seinen Unternehmungen vom Glück begünstigt sein werde. So zum Beispiel wird er überall Gegenliebe finden, gegen Kugeln sowie gegen Krokodilbisse gefeit sein, bei Diebstählen unentdeckt bleiben und auch in allen übrigen Dingen stets Erfolge zu verzeichnen haben. — Mit diesen Zaubermitteln und Fetischen ist fast stets ein Fady verknüpft, das heißt ein Verbot bestimmten Handlungen oder bestimmten Fleischsorten gegenüber. Bei Nichtbefolgung dieses Fady verliert der Ody seine sämtlichen Tugenden und büßt seine Kraft ein. Dieser Brauch des Fady, der über ganz Madagaskar verbreitet ist, erinnert sehr an das Tabu in Ozeanien.

Die früher üblichen Gottesurteile sind jetzt mehr in Wegfall gekommen, aber bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein wandte die einheimische Regierung zur Ermittlung eines Verbrechens noch die Tangenprobe an, so benannt nach der je nach der genossenen Menge mehr oder weniger giftigen Frucht des Tangenbaumes (Tanginia venenifera), die der Verdächtigte essen mußte; übergab er sich nach ihrem Genuß, dann galt seine Unschuld für erwiesen. Andere Ordalien sind jetzt noch in Gebrauch (siehe unten).

Phot. W. D. Marcuse.

Abb. 414. Madagassische Fischerboote.

Die Hauptbeschäftigung der Frauen von Madagaskar ist das Zerstampfen von Reis für den Tagesbedarf; nebenbei weben sie auch primitive Stoffe zu Kleidern und flechten Matten, Körbe und Hüte aus Binsen oder Reisstroh. Die Männer dagegen führen, sofern sie nicht gerade, wie einige Bewohner von Merina, Kaufleute oder eigentlich Hausierer sind, ein vollkommen müßiges Leben, ausgenommen während der Zeit des Säens und Erntens. Entsprechend dieser ihnen angeborenen Trägheit geben sie auch gute Hirten ab. Die Küstenmadagassen, deren einzige Beschäftigung das Fischen ist, sind oft tüchtige Seeleute, die auch über gut gebaute Boote (Abb. 414) verfügen. — Als Unterbrechung des süßen Nichtstuns, das den gewöhnlichen Zustand der Madagassen ausmacht, sind ihnen Vergnügungen willkommen; auch dem Spiel (Abb. 415) sind sie sehr ergeben. Ein jedes Familienereignis gibt Anlaß zu Gesellschaften und Festen; Geburt, Hochzeit, Tod, das Errichten eines neuen Hauses, die Ankunft eines vornehmen Fremden, die Befreiung von einem Unglück, wie etwa einer Epidemie oder einer Überschwemmung — dies alles dient als Vorwand zu einem Freudenfest, bei dem Ochsen geschlachtet, viel Rum getrunken und getanzt wird. Der Tanz ist auf der ganzen Insel eine der beliebtesten Unterhaltungen (Abb. 416); langsame Bewegungen in anmutigen, ungezwungenen Stellungen kennzeichnen ihn. Ebenso sind die Madagassen sehr musikliebend (Abb. 417).

Phot. G. Grandidier.

Abb. 415. Madagassen beim Spiel,

auf das sie viel Zeit zu verwenden pflegen, besonders die Sakalaven. Der Einsatz besteht in Eiern.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 416. Sakalaventanz zu Maintirano.

Er ist gekennzeichnet durch langsame Bewegungen und zwanglose, anmutige Stellungen. Die Tänzer bewegen sich dabei langsam von der Stelle, während sie mit den Armen eigentümliche Drehungen ausführen.

Ohne Nachkommen zu sterben, gilt bei ihnen als das größte aller Übel, was bei ihrer großen Verehrung der Vorfahren und ihrer feudalen Gesellschaftsgliederung erklärlich erscheint. Daher war es Vorschrift, daß, wenn ein Mann kinderlos starb, die Witwe von neuem heiratete, damit „der Keim wieder auflebe“. Das Bestreben eines jeden Madagassen läuft somit darauf hinaus, eine möglichst große Nachkommenschaft zu haben; nicht damit zufrieden, was ihm die Natur gewähren kann, macht es ihm Freude, noch andere Kinder zu adoptieren, wo dies nur möglich ist. Bei all dieser Liebe zu den Kindern und dem Wunsche nach einer großen Familie muß es um so mehr wundernehmen, daß die schreckliche Unsitte des Kindsmordes auf Madagaskar so verbreitet war. Es hängt dies aber mit dem stark ausgeprägten Aberglauben an Unglückstage und -stunden zusammen. Wird ein Kind zum Beispiel um Mitternacht im Monat Mai

geboren, dann gerät die Familie in große Bestürzung, denn das Kind wird dann ein Zauberer. Erscheint es zu der Stunde auf der Welt, wenn die Ochsen auf die Weide oder die Leute an die Arbeit gehen, dann steht zu befürchten, daß aus ihm ein Verschwender werde. Der ganze Monat September gilt für verhängnisvoll, denn die in ihm Geborenen werden sicherlich Bösewichter oder bringen den Eltern Unheil, wenn sie nicht gar deren Tod verursachen. Daher schafft man sie sofort entweder durch Lebendigbegraben oder Ertränken aus der Welt. Eine Ausnahme machen allein diejenigen, die gegen zwölfeinhalb Uhr mittags, das heißt wenn die Sonne ihre Strahlen gerade auf die Türschwelle sendet, das Licht der Welt erblicken; jedoch dürfen auch sie nicht so ohne weiteres am Leben bleiben, sondern werden einem Gottesurteil unterworfen. Man legt das Kind vor den Ausgang einer Ochsenhürde und wartet ab, ob die Tiere beim Herausgehen ihm einen Schaden zufügen. Auch wenn es nur von ihnen verwundet werden sollte, ist es dem Tode verfallen; nur wenn es unverletzt bleibt, läßt man es am Leben. Für die Geburt eines Prinzen dagegen ist nach dem Aberglauben der Madagassen der September gerade günstig, denn sie meinen, daß man, um ein großer und berühmter Fürst zu werden, recht böse sein und jeden mit Füßen treten müsse. Eine glückliche Zukunft steht ferner den Kindern bevor, die im Juli zur Welt kommen, besonders dann, wenn die Sonne aufgeht, oder wenn ihre Strahlen zwischen vier und fünf Uhr nachmittags die Hauspforten vergolden; denn dann wird der neue Weltbürger sehr große Reichtümer einernten. Man kennt aber auch Mittel und Wege, um das böse Schicksal eines unter ungünstigen Aussichten geborenen Kindes abzuwenden. So muß man bei einem Februarkinde, das man zu einem Brandstifter bestimmt glaubt, schnell eine kleine Hütte aus Erde und Kalk machen und sie verbrennen, oder man kann auch eine Heuschrecke oder einen Maikäfer als Opfer darbringen.

Die Schwangere ist mancherlei Fady unterworfen. Sie darf keine Ochsenschnauze essen, weil sonst ihr Kind eine schnauzenförmige Oberlippe bekäme, ebensowenig das Fleisch eines bestimmten Wasservogels, weil seine Beine sonst so dünn wie bei diesem Tiere werden würden, auch nicht von einem Raubvogel, weil das Kind sonst diebische Eigenschaften annähme; sie darf sich auch nicht über eine taubstumme oder geisteskranke Person lustig machen, weil das Kind dann die gleichen Eigenschaften erwürbe, und anderes mehr. Naht die Stunde der Geburt, dann versammeln sich die Angehörigen und jeder von ihnen nimmt nach dem Vorbilde des ältesten Familienmitgliedes etwas Wasser in den Mund, das dann auf die Gebärende ausgespien wird.

Phot. James Sibree.

Abb. 417. Madagassische Musikanten.

Die Madagassen besitzen eine ziemliche Auswahl von Musikinstrumenten, so (auf dem Bilde von links nach rechts zu sehen): die Flöte, die einsaitige Geige, den Lamako (zwei Holzbretter, die man gegeneinander schlägt), die Bambusgitarre, die Trommel, die Kürbisgeige und als weiteres Blasinstrument die Muschel.

Ist die Geburt erfolgt, was mit großer Freude begrüßt wird, dann fleht der Vater den Segen Gottes, der Vorfahren, der „zwölf Könige“ und der „heiligen zwölf Berge Imerinas“ herab. Der Säugling wird mit Rinderfett abgerieben, damit er kräftig gedeihe. Daher pflegen Erwachsene bei Wettspielen und Kämpfen einander mit den Worten herauszufordern: „Komm her, wenn du von deiner Mutter wirklich mit Fett eingerieben worden bist.“ Die Namen, die die Madagassen ihren Kindern beilegen, werden meistens von Tieren oder Pflanzen hergenommen und mit der Vorsilbe ra versehen; es können dabei unter Umständen recht lange Namen herauskommen, wie Ravoninahitriniarivo, was „tausend Blüten des Grases“ heißen soll. Auch häßlich klingende Namen, wie zum Beispiel Misthaufen, werden dem Kinde beigelegt, um dadurch das Unglück, das ihm droht, abzuwenden.

Phot. W. D. Marcuse.

Abb. 418. Krankenbehandlung zu Tulear.

Der Leidende, dessen Zustand auf die Wirkung eines Teufels (Bilo) zurückgeführt wird, muß auf einer Plattform vom Blute eines Ochsen trinken, der zu seiner Wiederherstellung geopfert wurde.

Einen wichtigen Augenblick im Leben des Kindes bildet die erste Haarschur, die etwa im Alter von drei Monaten stattfindet und zu einem großen Fest sich gestaltet; zu ihr finden sich auch entfernt lebende Familienmitglieder ein. Bei der Auswahl des Haarschneiders muß man achtgeben, daß sein Vater noch lebt, denn sonst würden die Eltern selbst sterben und ihr Kind als Waise zurücklassen. Man beginnt auf der linken Seite und entfernt hier mit einer Schere das „böse Haarbüschel“ über dem linken Ohr, das man sofort mit der dazu gebrauchten Schere wegwirft. Darauf wird die rechte Kopfseite vorgenommen und das über dem rechten Ohr stehende „gute Haarbüschel“ abgeschnitten, aber nicht fortgeworfen, sondern in einer Reisschwinge mit Fleischstückchen aus dem Höcker des Zebuochsen und Knollen von Arum esculentum zu einem Talisman für glückliche Geburten gemischt, den man unter die gierig danach haschenden Festgenossen wirft.

Wenn die Knaben das erste Lebensjahr zurückgelegt haben, wird an ihnen die Beschneidung vorgenommen. Dieser Vorgang bietet Anlaß zu einer mehr oder minder großen Feier mit mancherlei Zeremonien, die früher recht umfangreich waren. Wichtig ist dabei, daß sowohl die Eltern als auch Paten und Patinnen während der dem Akte vorausgehenden Woche vom Bett getrennt schlafen müssen. Jetzt sind die Zeremonien bereits sehr vereinfacht worden. Am Abend vorher wird ein Bananenbaum unter Begleitung der Menge, die mit der rechten Hand ihre Lambas schwenkt, tanzt und singt, eingeholt, in Mannshöhe abgeschnitten und in der nordöstlichen Ecke der Hütte in den Boden gesteckt; auf seine abgeschnittene Spitze wird ein irdener Napf mit einem aus Kuhmist durch Kneten hergestellten Docht und Unschlitt gesetzt, worauf man diese Lampe anzündet. Sie muß bis zum nächsten Morgen brennen und darf nur von männlichen Wesen bedient werden; falls eine Frau dies besorgte, würde der Knabe kein „Mann“ werden. Während der Nacht wird der Segen über das Kind gesprochen. Man stellt zu diesem Zweck eine flache Holzschüssel mit Wasser auf, in die silberne Ketten gelegt werden. Drei Männer müssen nun mit einem Rohrstengel diese Ketten zehnmal hintereinander herausholen und dabei dem Kinde viel Geld und Reichtümer wünschen. Beim ersten Hahnenschrei befestigt einer der versammelten Männer einen Pflanzenstengel (Hundezahn oder Quecke) an einer Flasche oder an einer Kalabasse, worauf die kräftigsten und mutigsten Männer ausgesandt werden, um in diesem Gefäß „kräftiges“ Wasser zu holen, das zum Auswaschen der Wunde bei der Beschneidung gebraucht wird. Der Operateur, der bereits am Abend vorher eingetroffen ist und die Nacht in einer Hütte zubrachte, worin sich kein weibliches Wesen aufhalten durfte, nimmt an dem Kinde mittels eines kleinen Messers die Beschneidung vor. Ein Assistent wartet den Augenblick ab, wo die Wunde zu bluten anfängt, schwingt hierauf seine Lanze und schlägt damit die Türschwelle, wobei er wünscht, daß der Knabe ein „Muster von Schönheit und Güte“ werden möge. Die abgeschnittene Vorhaut muß der Vater in Stückchen zerschnitten mit einer Banane verzehren. Bei den Sakalaven wird sie in eine Flinte geladen oder auf die Spitze einer Lanze gesteckt und diese über das väterliche Haus geschleudert; stellt sich der Speer senkrecht zur Erde, dann erblickt man darin ein Anzeichen dafür, daß der Knabe mutig werden wird. Bei den Bara werfen die Väter die Vorhaut in den nächsten Fluß. — Bei den Antankarana wird die Beschneidung in etwas abweichender Weise vorgenommen. Es geht dem eigentlichen Akte ein reichliches Essen und Trinken der Verwandten und Gäste voraus. Darauf wird ein Ochse gefesselt und zu Boden geworfen, den Kopf nach Osten gerichtet. Der Familienälteste begießt mit einem Topf Wasser das Tier vom Kopf bis zu den Füßen, stellt sich mit einem Stäbchen in der Hand hinter dasselbe, klopft ihm viermal auf die Rippen und fleht dabei Gesundheit, Reichtum und sonstiges Gute auf die Kinder herab. Darauf wird der Ochse durch Zerschneiden der Halsschlagader getötet und sein Fleisch gegessen; seine Hörner aber werden mit einem Stück Schädeldecke auf eine lange spitze Stange gesteckt und mitten im Dorfe aufgestellt. Die Beschneidung wird an den Knaben einzeln in einem dicht geschlossenen Zelte vorgenommen, die abgeschnittene Vorhaut auch hier von den Verwandten in eine Flinte geladen und unter Jubel in die Luft oder gegen die Ochsenhörner geschossen. Essen, Trinken und Tanz beschließen das Fest.

Phot. W. D. Marcuse.

Abb. 419. Krankenbehandlung bei den Sakalaven,

die in der Hauptsache in einer Einreibung des Gesichts mit Maniokpulver und gelbem Ocker besteht. Diese Salbe bleibt so lange liegen, bis der Kranke gesund geworden ist.

Phot. James Sibree.

Abb. 420. Ein Grab der Betsileo.

Der Tote ruht in dem steinernen Unterbau; der Turm ist aus Holz hergestellt und weist oft schöne Schnitzereien auf.

Die Kinder wachsen von der Liebe und Sorgfalt der Mutter behütet heran; solange sie nicht gehen können, trägt diese sie beständig auf dem Rücken mit sich herum, sei es, daß sie auf dem Felde arbeitet oder im Haushalte tätig ist. Eine Erziehung erhalten diese Kinder weder in geistiger noch in moralischer Hinsicht, und sie wachsen heran, ohne daß ihre Fehler beachtet und verbessert werden. Überhaupt nimmt die Moral in Madagaskar eine ganz untergeordnete Stufe ein, besonders in geschlechtlichen Dingen. Ein junges Mädchen kann tun und lassen, was ihm beliebt. Daher ist es auch gang und gäbe, daß die Mädchen bereits vor ihrer Reife, also etwa mit zehn bis elf Jahren, oft auch noch früher, geschlechtlichen Verkehr anfangen und freie Vereinigungen der jungen Leute allgemein üblich sind. Schamhaftigkeit und Keuschheit sind, mit wenigen Ausnahmen, auf Madagaskar ziemlich unbekannte Tugenden. Im Gegenteil, die Eltern begünstigen sogar die freie Liebe ihrer Töchter, nur der Verkehr eines Mitgliedes der adligen oder der freien Kaste mit einer Sklavin wird mißbilligt. Da auf die Jungfräulichkeit der Mädchen absolut kein Wert gelegt wird, so erscheint es verständlich, daß auch die gastliche Prostitution, das heißt das Überlassen der Töchter des Hauses an Gastfreunde von hohem Rang, zu den Pflichten des Hausherrn gehört.

Phot. W. D. Marcuse.

Abb. 421. Behandlung eines vom bösen Geiste (Bilo) Besessenen

durch Tanz, Gesang und Zechen; hat die Kur Erfolg, so schließt sich ein Dankfest an sie an.

Die freien ungesetzlichen Vereinigungen der jungen Leute pflegen mehrere Monate und selbst ein bis zwei Jahre zu dauern, ehe sie sich entschließen, die wirkliche Ehe miteinander einzugehen. Finden sie in dieser Zeit, daß sie nicht zueinander passen, dann gehen sie ruhig wieder auseinander und beginnen ein neues Zusammenleben mit anderen Personen. Haben sie aber die Überzeugung gewonnen, daß sie miteinander glücklich werden, dann zieht das Mädchen wieder in das elterliche Haus zurück, und der junge Mann macht sich auf die Werbung bei ihrem Vater. Doch zuvor sendet er eine Anzahl festlich gekleideter junger Leute, die immer unpaar sein muß, an einem bestimmten Tage, den der Astrologe als günstig bezeichnet hat, in das Haus seiner Auserwählten. Der Sprecher zählt zu diesem Zwecke vor den Eltern die wirklichen und angeblichen Tugenden des Bräutigams sowie seiner Vorfahren auf, spendet seinen Eltern Lob und rühmt ihre Vermögensverhältnisse, schließlich teilt er dem Vater mit, daß der Betreffende nicht länger mit seiner Tochter im Konkubinat leben, sondern mit ihr eine richtige Ehe eingehen wolle, eine „Frau unter seiner Achsel tragen“, wie der Ausdruck dafür lautet. — Bei den Sakalaven, Betsileo und einigen anderen Stämmen finden sich noch Überreste einer früheren Raubehe.

Wenn die Annahme des Antrages erfolgt ist, dann bespricht man die Natur und den Wert der Geschenke, die der zukünftige Schwiegersohn seinen Schwiegereltern und seiner Braut darzubringen hat und die meistens in Rindern, Schafen, Ziegen, Geflügel, Honig, Rum, Geld, Kleidungsstücken und so weiter bestehen; ihr Wert hängt von der Vermögenslage des Werbers ab. Aber immer müssen gewisse Fleischstücke (zum Beispiel eine Hammelkeule mit daranhängendem Schwanz) als besonderes Angebinde für das Familienoberhaupt darunter sein. Heutzutage wird diese „Vodiondry“ zumeist mit Geld abgelöst.

Phot. G. Grandidier.

Abb. 422. Familiengrab der Hova.

Die Toten ruhen in dem Grabe, über dem ein viereckiger Bau aus Steinen errichtet ist; daneben steht ein geschnitzter Pfeiler, der die Köpfe der zu Ehren des letzten Verstorbenen geopferten Ochsen trägt, sowie ein hoher Stein, der zur Erinnerung an Familienmitglieder aufgestellt wurde, die an anderer Stelle begraben liegen.

Phot. W. D. Marcuse.

Abb. 423. Sakalavenfrau in Trauerkleidung,

die man an dem aufgelösten Kopfhaar und am weißen Stoff der im übrigen schmutzigen Kleidung erkennt. Während der Trauerzeit müssen die Trauernden auf alle Vergnügungen verzichten.

Wenn der Hochzeitstag festgesetzt ist, wozu auch wieder der Astrologe angehört wurde, begeben sich die Leute, die die Braut holen sollen, ebenfalls in ungerader Zahl, im Zuge nach dem Heim ihrer Eltern, wo sich die Anverwandten und Gäste bereits eingefunden haben und ein Festmahl hergerichtet ist. Dann wird vor Zeugen der Ehevertrag vereinbart, der alle erdenklichen Möglichkeiten berücksichtigt, zum Beispiel, daß der Ehemann diesen oder jenen Fehler begehen, die Frau ihre Freiheit wiedererlangen oder Witwe werden, die Eltern bei ihrem Tode Schulden hinterlassen sollten und anderes mehr. Nachdem von den Vertretern des Bräutigams die ausbedungenen Geschenke überbracht worden sind und man Gegengeschenke überreicht hat, gilt die Ehe für geschlossen. Man begrüßt die Neuvermählten mit den Worten: „Möge euer ferneres Leben ein glückliches sein!“ Hieran schließt sich ein großes Mahl an, bei dem der Hausherr die Gäste unermüdlich auffordert, tüchtig den Speisen zuzusprechen. Handelt es sich um ein Hochzeitsmahl eines vornehmen Hova, dann wird das Fleisch nicht in gewöhnlichen Töpfen gebraten, sondern nach der Sitte der Vorfahren in Blätter eingewickelt in Erdlöchern, die mit glühenden Steinen ausgelegt sind, geröstet. Bei diesem Mahle essen die jungen Eheleute das einzige Mal in ihrem Leben mit einfachen schwarzen Hornlöffeln aus demselben Napfe oder nach dem Brauch ihrer Vorfahren auf einem Bananenblatte Reissuppe, Honig und gerösteten Fisch oder ein Stück Fleisch. Nach Beendigung desselben spricht der Hausvater noch einen Glück- und Segenswunsch über sie aus, worauf sie im Zuge, für gewöhnlich in einem Tragsessel, unter Gesang und Jubel nach dem Hause des Bräutigams sich begeben. In dem Augenblick, wo die junge Frau das Haus verläßt, setzt sich ihre Großmutter mit gekreuzten Beinen vor dem Hauspfeiler nieder und verharrt ohne sich zu rühren so lange, bis sie annimmt, daß das junge Paar in seinem neuen Heim angelangt ist, oder wenigstens bis es ihren Blicken entschwunden ist, um, wie man sagt, dadurch die Beständigkeit in dem neuen Haushalt zu sichern. Bei der Ankunft geht der Zug dreimal um die kleine Umfriedigungsmauer herum, ebenso um das Haus und schließlich um den Herd. Diese Zeremonie soll die jungen Leute an die neue Wohnung fesseln und verhindern, daß sie sie verlassen. Sodann wird noch einmal in der bereits geschilderten Weise ein Mahl eingenommen. Bei diesem werden die Neuvermählten zum Zeichen ihres zukünftigen festen Zusammenlebens noch in einen großen Lamba aus Seide eingewickelt, dessen Enden man zusammenknotet; der junge Mann muß diesen Knoten dann lösen, womit er andeuten will, daß ihm das Recht zusteht, auch den Ehebund zu lösen. Dies ist der Schluß der Festlichkeit. — Bei der ärmeren Bevölkerung Madagaskars gestaltet sich die Hochzeitszeremonie viel einfacher, weist auch einige Verschiedenheiten von der soeben geschilderten auf. So wurde die junge Frau beim Verlassen des elterlichen Hauses in früheren Zeiten angespien oder mit dem Blut des Opfertieres besprengt, um sie zu segnen; jetzt nimmt man dazu Wasser. Bei den Hirtenstämmen setzt sich die Braut bei ihrer Hochzeit bescheiden in einen Winkel der Hütte und erwartet sehnsüchtig, daß der Bräutigam ihr den einen für diesen Zweck besonders zubereiteten Schenkel eines Huhnes darbiete. Wenn sie diesen und der Bräutigam den anderen verzehrt hat, gilt die Ehe für geschlossen.

Neben dieser richtigen Ehe kennen die Madagassen noch eine Zeitehe; dieselbe ist bei den Betsimasaraka, den Sakalaven und anderen Stämmen üblich. Hierbei wird eine bestimmte Zeit von etwa ein bis drei Jahren mit den Eltern der Braut vereinbart; nach Ablauf dieses Zeitraums hat letztere das Recht, von ihrem Manne fortzugehen. Will sie die Ehe verlängern, dann bedarf dies wieder derselben Förmlichkeiten wie das erste Mal. Wird inzwischen aber ein Kind geboren, dann ist der Ehemann verpflichtet, die übliche Vodiondry zu geben, und die Ehe gilt fortan als für die Dauer geschlossen. — Früher, und verschiedentlich auch noch bis in die neueste Zeit hinein, nahmen Madagassen, deren Mittel es erlaubten, sich mehrere Frauen, selbst bis zu fünfzig und mehr. — Obwohl die Ehe bei den Madagassen eigentlich eine rein äußerliche Einrichtung ist, kommt es hin und wieder doch vor, daß tiefergehende, edlere Neigungen die jungen Leute zusammenführen. Liebestränke, Talismane, Zauberformeln, um sich die Schöne geneigt zu machen oder um andererseits einen kühlen Ehemann wieder zu fesseln, sind sehr verbreitet.

Phot. James Sibree.

Abb. 424. Gedenkstein für einen verstorbenen Betsileo.

Die Säule ist aus Stein gearbeitet, das Gitterwerk an ihrem oberen Ende, auf das die Schädel und Hörner der bei der Leichenfeier dargebrachten Ochsen gesteckt werden, besteht aus Holz.

Keuschheit ist unter den Madagassen, wie schon gesagt, eine seltene Tugend; dasselbe gilt von der ehelichen Treue. Denn es gibt in Wirklichkeit wenige Ehen, die dauernd sind. Nur bei einigen Stämmen gilt Ehebruch für eine schändliche Handlung. Die Antimorona verlangen, wenn sie von einer Reise zurückgekehrt sind, von ihren Frauen, daß sie in Gegenwart der Eltern und Freunde einen Eid ablegen, während der Abwesenheit der Männer die eheliche Treue bewahrt zu haben, und daß sie sich zur Erhärtung der Wahrheit einem Gottesurteil unterwerfen. Sie müssen nämlich durch einen Fluß schwimmen, in dem Krokodile hausen: kommen sie unversehrt hindurch, dann sind sie frei von Schuld; jetzt erst begrüßt sie der Ehemann und überreicht ihnen die mitgebrachten Geschenke.

Phot. A. C. Hollis.

Abb. 425. Ein Wandorobbomann bei der Morgenandacht

spuckt gegen die aufgehende Sonne aus. Das Schwert hat er dabei zur Seite gestellt. — Die Wandorobbo stehen in dem Rufe, den Regen dadurch bannen zu können, daß sie ihr Schwert gegen den Himmel zücken.


GRÖSSERES BILD

Kunstverlag Karl Vincenti.

Abb. 426. Suahelimädchen.

Die Madagassen halten den Tod nur dann für natürlich, wenn er infolge hohen Alters eintritt. In allen anderen Fällen schreiben sie den Verlust des Lebens Zaubereien zu. Um nicht Gefahr zu laufen, daß ein Zauberer Gegenstände von ihnen zu fassen bekomme und sie zu bösen Zwecken verwende, achten sie sehr darauf, daß sie nie abgeschnittene Haare oder Nägel oder sonst etwas von sich umherliegen lassen. Die Sakalavenkönige gingen in dieser ihrer Furcht sogar so weit, daß sie sich immer von einem Diener begleiten ließen, dessen alleinige Obliegenheit es war, die Erde aufzusammeln, auf die sie gespien hatten. — Neben der Zauberei als Krankheitsursache kennen die Madagassen aber noch eine Entstehung von Krankheit durch Besessensein von einem Teufel oder bösen Geiste (Bilo genannt). Hiergegen nehmen sie eine Art Austreibung vor (Abb. 418 u. 421). Der Kranke wird aus dem Dorfe nach einem freien Platz gebracht, auf dem eine kleine Plattform besonders hergerichtet wurde. Ihr zu Füßen haben auf der einen Seite alle Leute aus der Nachbarschaft Aufstellung genommen, auf der anderen stehen die Herden des Kranken oder seiner Familie. Bei der Ankunft des Leidenden erhebt sich Tanz und Gesang; besonders aber wird dem Rum zugesprochen, von dem auch der Kranke eine große Menge zu sich nehmen muß. Sodann führt man ihn mitten unter das Vieh; mit einem Stabe weist er auf zwei Tiere hin, von denen das eine sofort geopfert und von den Teilnehmern verzehrt wird, das andere gleichsam als Sündenbock von den Eltern des Patienten heilig gehalten und mit der größten Sorgfalt behandelt wird. Dann klettert der Kranke auf einer recht primitiven Hühnerstiege auf die Plattform, ein bei seinem Zustand manchmal recht gefährliches Unternehmen. Gelangt er ohne sonderliche Hilfe oben an, dann beweist dies, daß Gott ihm wohlwill und ihm Genesung geben wird; wenn nicht, gibt man von vornherein alle Hoffnung auf. Sobald er auf der die Plattform bedeckenden Matte sich niedergelegt hat, wartet ihm eine Frau, die in den letzten vierundzwanzig Stunden keusch gelebt haben muß, mit Speise, die sie für ihn besonders zubereitet hat, in erster Linie mit dem Fleisch des geopferten Ochsen, auf; ißt er davon oder tut er wenigstens so, dann erblickt man darin ein sicheres Anzeichen für baldige Genesung und ein langes Leben. Sodann beginnt von neuem ein mächtiger Lärm, Gesang und Geschrei. Der Kranke verbleibt oft viele Stunden auf seinem erhabenen Posten, während die anderen sich in Rum betrinken und sich an dem Fleisch des geschlachteten Tieres gütlich tun. Zuletzt wird er unter großem Gepränge in seine Hütte zurückgebracht, wo er in der Mehrzahl der Fälle dann doch stirbt. — Die Sakalaven reiben das Gesicht des Kranken mit Maniokpulver und gelbem Ocker ein (Abb. 419).

Die Begräbniszeremonien der Madagassen sind nicht überall dieselben. Manche Stämme legen ihre Begräbnisplätze tief im Walde, unter Felsen verborgen, oder in öden Gegenden an, also an Stellen, die dem menschlichen Auge und der menschlichen Berührung fern bleiben; andere wiederum begraben ihre Angehörigen am Wege oder auch mitten in ihrer Hütte. Die ersteren, die eine solche Scheu vor den Friedhöfen haben, sind vorwiegend die Küstenstämme, dem Ursprung nach zumeist Araber; die zweite Gruppe, die gern den letzten Aufenthaltsort vor Augen hat, der ihrer harrt, bilden die Zentralstämme, besonders die Merina und die Betsileo; man erkennt in dieser Sitte ganz deutlich den großen Einfluß der malaiischen Kultur. Stirbt ein Madagasse, besonders ein Merina, fern von seiner Heimat, dann geht sein letzter Wunsch dahin, daß seine Angehörigen möglichst bald seine Gebeine abholen, um sie in heimatlicher Erde, meistens in einer Familiengruft, beizusetzen. Ist die Leiche eines Verwandten nicht aufzufinden, dann pflegt die Familie sein Kopfkissen und seine Ruhematte statt seiner zu beerdigen oder zu seinem Andenken am Wege oder in der Nähe des Dorfes ein Grabmal zu errichten, das in einer Tafel oder einem Pfosten besteht (Abb. 422 und 424).

Kunstverlag Karl Vincenti.

Abb. 427. Wadschaggamädchen.

Die Leiche wird für gewöhnlich gewaschen, in einen Lamba gekleidet und in einen ausgehöhlten Baumstamm gelegt, den ein oft dachförmiger Deckel schließt. Dieser ist häufig mit Schnitzereien verziert; bei den Tanala trägt er, wenn es sich um einen regierenden Häuptling handelt, zwei halbmondförmig gekrümmte Hörner. Die östlichen Stämme stellen den Sarg entweder einfach auf die Erde oder auf ein Gerüst inmitten von Palisaden, die mit Blättern überdacht werden. Die Antankarana setzen ihn in natürlichen Grotten des Kalksteingebirges bei, die übrigen Inselbewohner begraben ihn in der Erde. Vielfach wird der Sarg noch mit einem Steinhaufen zugedeckt. Manche Sakalavenfamilien umgeben die Gräber mit Pfosten, auf denen sich Schnitzereien in Form von Menschen, Krokodilen, Vögeln und so weiter befinden. Die Merina graben gewöhnlich eine Totenkammer, über der sie für Adlige ein kleines Haus erbauen. Bei den Hova wird eine kleine rechtwinklige Mauer errichtet, in der man Steine anhäuft; die Winkel werden mit besonders großen Steinen versehen.

Phot. Underwood & Underwood.

Abb. 428. Zeremonialtracht der Watatura,

eines Bantustammes, der in Tracht und Bewaffnung die Masai nachahmt. Ihre Kleidung besteht hauptsächlich aus Colobusfellen, ihr Schmuck aus Straußenfedern.

Aus „Kolonie und Heimat.“

Inneres der Palisadenfeste eines Eingeborenensultans in Ostafrika, die von den deutschen Truppen bei der Besitznahme des Landes unter großen Opfern erstürmt werden mußte.


GRÖSSERES BILD

Verschiedene Madagassenstämme, im besonderen die Betsileo und Antaokara, befolgten früher die von Ozeanien her übernommene Sitte, ihre Toten nicht sogleich zu begraben, sondern über der Erde erst die Verwesung abzuwarten und Leichenwachen daneben zu stellen. Um sich diese Pflicht nach Möglichkeit erträglich zu gestalten, betranken sich die Angehörigen und Freunde tüchtig in Rum und verbrannten Unmassen von Weihrauch, Talg und sogar Leder. Bei den Betsileo (Abb. 420) begräbt man jetzt den Toten möglichst bald, nimmt aber nach einiger Zeit noch ein zweites Begräbnis mit seiner Nachbildung vor, die die Frauen, während die eigentliche Beisetzung stattfindet, in dem Hause anfertigen. Sie rollen eine Matte zusammen, umkleiden sie mit Lambas und legen diese Nachbildung des Toten in einen aus Bambusstangen geflochtenen Käfig, weswegen dieses ganze Erzeugnis Trano vorona, das heißt „Käfig mit Vögeln“, benannt wird. Dieser Trano vorona wird etwa zwei bis sieben Tage ausgestellt, das heißt so lange, als die Mittel ausreichen, um die zahlreich versammelten Trauergäste mit Rum und Fleisch reichlich zu versorgen, und sodann entweder neben der wirklichen Leiche mit vielem Lärm und Gesang begraben oder einfach so wie er ist ausgesetzt. Begräbnisse auf Madagaskar sind stets von Festlichkeiten begleitet. Früher wurden massenhaft Tiere geschlachtet; die Regierung hat aber, um einer zu starken Schmälerung der Herden vorzubeugen, diese Unsitte auf ein einziges Tier beschränkt. Die Köpfe der Ochsen mit den daran bleibenden Hörnern werden auf das Grab ihres verstorbenen Besitzers gelegt. Viel Rum wird getrunken und vielfach auch zahlreiche Gewehrsalven abgeschossen. Ein solches Fest dauert so lange, als Essen und Getränke eben vorhalten.

Phot. Gebr. Haeckel.

Abb. 429. Wagaiamädchen in ihrer üblichen Tracht.

Bei den Sakalaven erfahren die Könige eine besondere Behandlung. Sie wickeln deren Leichen zunächst in Ochsenhäute und hängen sie tief im Busch an Bäumen auf. Nach einigen Monaten gehen die Häuptlinge hin und entnehmen dem verwesten Leichnam einige Reliquien, nämlich einen Halswirbel, einen Fingernagel und eine Haarlocke. Während der übrige Körper unter großen Feierlichkeiten begraben wird, bringt man die oben genannten Stücke nach einer heiligen Stätte, wo bereits ähnliche Reliquien von früher begrabenen Königen her aufbewahrt sind. Mit ihrem Besitz ist das Recht der königlichen Gewalt verbunden.

Trauernde Madagassen lassen sich das Haar zerzausen und tragen grobe und schmutzige Kleidung (Abbild. 423); sie dürfen sich auch nicht waschen, auch nicht in den Spiegel sehen, falls sie etwa einen solchen im Besitz haben sollten. Die Frauen müssen alle Gedanken an Gefallsucht aufgeben und ihre Umgebung durch ihren jämmerlichen Anblick geradezu zum Abscheu bringen. Die Farbe der Trauer ist, wie überall sonst im Osten, auch bei den Madagassen weiß.

Phot. C. W. Hattersley.

Abb. 430. Tapfere Krieger bringen den Schädel eines erlegten Flußpferdes vor den König.

Zum Zeichen ihres Sieges über das Tier, das viele Opfer an Menschen gefordert hat, haben sie sich die Köpfe mit Bananenblättern geschmückt.

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