Nordostafrika läßt sich geographisch, das heißt seinem landschaftlichen Charakter nach, in zwei große Gebiete gliedern: in das Hochland und in die Ebene. Das erstere, eine Anzahl größerer und kleinerer Tafelländer und Tafelberge mit zahlreichen Bergzacken und turmartigen Erhebungen, bildet nicht nur im geographischen, sondern auch im politischen Sinne eine Einheit, das Kaiserreich Abessinien, das bereits auf ein hohes Alter zurückblicken kann. Es wurde schon im vierten Jahrhundert die Wiege des Christentums im Herzen Afrikas. Leider ist sein alter Ruhm mehr und mehr verblaßt, und jetzt ist Abessinien nur noch die Karikatur eines Staatswesens. Südlich von diesem Hochland breitet sich die große öde und unwirtliche ostafrikanische Steppe aus, ein gleichförmiges Landschaftsbild, das sich weit nach Süden nach dem eigentlichen Ostafrika hinein erstreckt. Die das afrikanische Osthorn begrenzenden Gebiete führen die Bezeichnung Somalland.
Die für Nordostafrika in Betracht kommenden wichtigsten Völker sind ganz im Osten, am Golf von Aden und Indischen Ozean, die Somal, nördlich von ihnen an der Küste des Roten Meeres die ihnen stammverwandten Danakil oder Afar, auf der abessinischen Hochebene die Stämme der Abessinier und im Süden von ihnen, also im Südwesten, die Galla; ihnen schließen sich die uns schon bekannten Masai an. Alle diese Völker, ebenso die nördlich von ihnen wohnenden Nubier und Ägypter bezeichnet man als östliche Hamiten, die nordostafrikanischen im besonderen als Äthiopier. Sie unterscheiden sich deutlich von den Negern Afrikas; ob sie, wie vielfach behauptet wird, direkt aus Stämmen hervorgegangen sind, die aus Asien herüberkamen, oder durch Aufpfropfung solcher Einwanderer auf bereits ansässige Negervölker entstanden sind, bleibt noch zu entscheiden. Abgesehen hiervon sind die Hamiten heutigestags nicht das einzige anthropologische Element der nordostafrikanischen Völker, sondern gleichsam nur die Unterschicht, zu der viel semitisches (arabisches) Blut hinzugekommen ist. Besonders die Somal haben solches in starkem Maße aufgenommen, weniger schon die Danakil, und am reinsten dürften die Galla den ursprünglichen Typus bewahrt haben. Noch bunter aber ist die Mischung in Abessinien; hier haben sich Ägypter, Griechen, Juden, Portugiesen, Inder, Araber und Neger zu einem wirklichen Völkerchaos zusammengeschlossen, den Kern des abessinischen Volkes aber bilden Semiten. Der eigentliche östliche Hamitentypus ist gekennzeichnet durch eine ziemlich hohe, grazile Gestalt (im Mittel hundertsiebenundsechzig Zentimeter), langen, schmalen Schädel, langes, ovales Gesicht mit feiner, gerader oder leicht gebogener, hervortretender Nase, schlanke Gliedmaßen, eine braunrötliche bis schokoladefarbige Haut, dunkle Augen und schwarzes, bald mehr lockiges, bald mehr wolliges Haar.
Phot. Exclusive News Agency.
Abb. 475. Abessinischer Krieger.
Die Beschäftigung der Abessinier erstreckt sich auf ganz einfachen Ackerbau, Viehzucht und etwas Industrie, besonders auf die Herstellung von silbernen Filigran-, Leder- und Flechtarbeiten sowie Stickereien. Kunst und Technik werden vielfach in den Dienst der Kirche gestellt. Auch die übrigen Hamitenstämme sind überwiegend Viehzüchter (Abb. 477 und 478), treiben daneben aber auch alle das Kriegshandwerk (Abb. 474 und 475) und Raub. Besonders die Galla werden als kühne Krieger gerühmt.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 476. Somal in Reisetracht mit aufgeschürztem Kleid.
Der Borana-Bororansi-Tanz der Somal.
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Die Kleidung der Abessinier hat viel Arabisches an sich. Sie besteht aus anliegenden Beinkleidern, einem langen, über sie hinausreichenden weißen Hemd und einem baumwollenen oder seidenen Umschlagetuch, das wie eine Toga über die Schulter geworfen wird und in malerischen Falten herabfällt (Abb. 479). Die Frauen raffen ihr weitärmliges Hemd um die Taille mit einem Gürtel zusammen. Füße und Kopf bleiben unbekleidet, nur die Priester (Abb. 480) tragen ein turbanähnlich um den Kopf geschlagenes Tuch. Sie zeichnen sich ferner durch eine weiße Jacke mit weiten Ärmeln und Schuhe mit aufgebogenem Schnabel aus. — Die Kleidung der Somal (Abb. 481) und der ihnen verwandten Stämme ist ebenfalls ein langes, lakenähnliches Tuch, das um den Körper geschlungen wird (Abb. 476) und häufig auch noch den Kopf wie eine Kapuze bedeckt; bei den Frauen (Abb. 482) sind es zwei Teile, von denen der eine, längere, einen losen Rock mit vielen Falten bildet, während der andere die Stelle einer Weste oder eines Mieders vertritt und sich nach oben in die Kapuze verlängert.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 477. Somal auf dem Marsche.
Sie sind ein nomadisierendes Volk und leben von ihren Herden. Die Kamele sind ihr ein und alles; sie dienen ihnen als Lasttiere und spenden ihnen in ihrer Milch die Nahrung.
Die Haare werden bei den abessinischen Männern entweder kurzgeschnitten getragen oder zu kurzen anliegenden Zöpfen geflochten. Die Haartracht der Frauen besteht ausschließlich in solchen, auch bei den Somal und verwandten Stämmen. Eigenartig ist die Frisur der Somalmädchen. Erst lassen sie sich das Haar bis zu einer gewissen Länge wachsen, scheiteln es sodann in der Mitte und flechten es dicht am Scheitel oder ein bis zwei Zoll tiefer in Dutzenden von kleinen Zöpfchen rings um den Kopf; am Ende eines jeden dieser Zöpfe lassen sie noch einen kleinen Haarbüschel stehen (Abb. 483). Während die älteren Somalmänner sich das Haar zu rasieren pflegen, lassen die jüngeren es sich abwechselnd zu einem großen Wulst auswachsen und wieder rasieren. Die Esasomal stecken stets lange speilartige Kämme in ihre aufgebauschten Haare (Abb. 486). Vor den üblichen Aufnahmezeremonien der Knaben wird diesen eine runde Stelle oben auf dem Kopfe geschoren; nur ein kleiner Haarbusch bleibt auf dem Wirbel stehen. Den jungen Mädchen hingegen wird der ganze Kopf in mancherlei Mustern geschoren; später lassen sie sich die Haare wieder wachsen und dann niemals mehr kürzen. Verheiratete Frauen tragen stets ein Netz um ihr Haar.
Um ihre natürliche Schönheit noch zu erhöhen, färben sich die Abessinierinnen die Finger- und Fußnägel rot und das Zahnfleisch schwarz, wodurch sich die Zähne vorteilhaft abheben. Ferner werden die Augenbrauen künstlich scharf gezeichnet, und Brust, Hals und Rücken tragen nicht selten kunstvolle Tatauierungsmuster. In erster Linie aber wenden sich die Frauen an den Geruch-, weniger an den Gesichtsinn der Männer, denn auf Wohlgerüche wird ein außerordentlicher Wert gelegt und eine solche Verschwendung mit ihnen getrieben, daß die Wirkung auf den Europäer eine der beabsichtigten gerade entgegengesetzte ist. Natürlich behängen sie ihren Körper, soweit sie dazu imstande sind, mit zahlreichem, oft genug recht kostbarem Schmuck (Abb. 488).
Phot. Colonel A. F. Appleton.
Abb. 478. Niederlassung der Somal.
Die Häuser werden aus Holz gebaut und mit Häuten bedeckt. Das Vieh wird in Hürden gehalten, die man zum Schutz gegen Löwen und Hyänen aus dickem Dornbusch herstellt.
Die Abessinier sind sehr intelligent und besonders schlau im Abschließen von Geschäften, aber sehr faul und schmutzig. Daher besitzen sie auch beinahe mehr Feier- als Arbeitstage. In jedem Monat feiern sie als Hauptfeste die vier Sonnabende und Sonntage, den Sankt-Michael-, Sankt-Gabriel-, Sankt-Miriam- und Sankt-Georg-Tag am 12., 19., 21. und 23., sowie Christi Geburt am 28. jedes Monats. Dazu kommen noch als wichtige Feiertage Ostern, Weihnachten, Neujahr (im September) und kurz danach Mascal zur Erinnerung an die Entdeckung des Kreuzes (Abb. 487). Die Festlichkeiten pflegen länger als drei Tage zu dauern. Die Priester, die in bunte Gewänder gekleidet und mit Kreuzen aus Silber, Gold oder Messing, mit Weihrauchfäßchen, Kronen, Bildern der Jungfrau Maria mit ihrem Kinde und seidenen Sonnenschirmen mit aufgezeichnetem Kreuz einhergehen, führen bei diesen Gelegenheiten Tänze auf; viele dieser Tänze blicken auf ein hohes Alter zurück und sollen auf den Tanz Bezug nehmen, den König David vor der Bundeslade aufführte. Bei all dieser Lustigkeit vergessen die Abessinier jedoch auch nicht das Fasten, sie beobachten im Gegenteil häufig und streng die ihnen durch die Religion vorgeschriebene Enthaltsamkeit. So fasten sie an jedem Mittwoch und Freitag sowie während der Monate März und April; auch die Regenzeit um den August herum ist für sie eine besondere Zeit des Fastens und des Gebets.
Phot. George Schulein.
Abb. 479. Abessinier.
Sie tragen über den Hosen ein weißes Hemd, ferner ein Umschlagetuch, das in malerischen Falten über die Schultern gelegt wird.
Wie die meisten Naturvölker finden auch die Somal an Tanz (siehe die farbige Kunstbeilage) und Gesang große Freude. Der Somal komponiert sich sein Lied vielfach selbst, unterwegs beim Wandern; sein Inhalt erhebt sich aber meistens kaum über eine öde Schmeichelei auf diejenige Persönlichkeit, der zu Ehren es verfaßt ist. Findet der Sänger, daß sein Werk bei seinen Freunden anspricht, dann lernt er es auswendig und lehrt es oft noch andere; auf diese Weise überliefern sich manche Lieder mehrere Menschenalter hindurch. — Wird unter den Somal ein neuer Sultan gewählt, dann findet für gewöhnlich ein Dibaltig statt. Es ist dies sozusagen ein Reiterschaustück. Jedes Stammesmitglied, das ein Pferd zur Verfügung hat oder es sich borgen kann, beteiligt sich daran. Zuerst wird ein Sänger erwählt, der ein Lied, Gerar genannt (Abb. 484), komponieren muß, und zwar tut er dies meistens sogleich an Ort und Stelle. Es besteht auch wieder aus widerlichen Schmeicheleien auf den Sultan. Alle Reiter stellen sich bei seinem Vortrage in Reih und Glied auf, der Sänger vor ihnen in der Mitte; darauf läßt er mit erhobenem Speer seine Weise erklingen, setzt seinen Pony in Bewegung und trabt auf den neuen Sultan zu (Abb. 485). Die übrigen folgen ihm, anfänglich langsam, dann aber schneller werdend, alle mit hochgehobenen Speeren und Schilden, und bringen ihre Pferde nach gestrecktem Galopp unmittelbar vor ihrem neuen Herrscher zum Stehen. — Die Galla sind gleichfalls dem Tanze sehr zugetan (Abb. 490).
Phot. George Schulein.
Abb. 480. Abessinische Priester.
Ihren Oberpriester, den Abuna, ernennt der Patriarch zu Alexandria. Sie dürfen nur einmal im Leben heiraten.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 481. Somalknaben mit Milchgefäßen aus Fellen.
Ihre Kleidung besteht aus einem weißen oder bunten Hemd, über dem die „Tobe“, ein togaähnlicher Überwurf, getragen wird.
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Die Galla feiern alle Jahre das Fest der Maisernte, Yarabbi genannt; an ihm dürfen nur Frauen teilnehmen, Männern ist es nur gestattet, in beschränkter Anzahl aus der Entfernung zuzusehen. Die feierliche Handlung spielt sich zunächst um eine heilige Sykomore ab. Hier erwartet eine greise Priesterin auf einem dreistufigen Schemel sitzend die Ankömmlinge; sie hält einen langen Stab in der Rechten und trägt als einziges Abzeichen ihrer Würde einen breiten, langen, mit Muschelscheiben geschmückten Lederriemen um das rechte Handgelenk. Die Frauen erscheinen alle ebenfalls mit einem langen Stecken, den sie gegen den Baum lehnen, mit einer Handvoll Grünzeug und mit Maisbroten, die sie ablegen. Alle tragen auf dem Kopfe entweder einen Zweig mit wohlriechenden Blättern beziehungsweise Blumen oder einen elfenbeinernen Kamm. Sobald sich ihrer etwa fünfzig eingefunden haben, pflücken sie von den benachbarten Sträuchern Blätter ab; dann lassen sie sich in Gruppen von je etwa fünfzehn auf die Knie nieder inmitten zweier großen Haufen Grünes, die mit ihrer gewölbten Seite einander zugekehrt aufgeschichtet sind. Jede von ihnen legt den linken Arm um die Hüften ihrer Nachbarin und schlägt mit der Rechten unter Hervorstoßen eintöniger Laute, die später einem Grunzen gleichkommen, taktmäßig auf die vor ihr liegenden Blätterhaufen, wobei sie den Kopf gleichfalls im Takt nach hinten wirft. Diese Bewegungen werden immer wilder und arten schließlich in ein wirkliches Verzücktsein aus. Wenn dieses ein paar Minuten angehalten hat, verstummt der Lärm plötzlich. Die Frauen erheben sich und machen neuen Ankömmlingen Platz, die dieselbe Handlung vornehmen; der Vorgang wiederholt sich etwa fünf- bis sechsmal. Darauf ergreifen die Weiber ihre Stäbe und gehen langsam unter eintönigem Gesang etwa hundert Meter den Weg, den sie gekommen sind, zurück, wobei sie auf der Stelle hüpfen und zugleich Hände voll Kräuter pflücken, die sie zu einer Garbe zusammenraffen. Sodann hocken alle in langer Reihe eine nach der anderen nieder und halten ihre Stäbe mit den Bündeln wagrecht über die Köpfe, dabei murmeln sie wieder unverständliche Worte. Sobald sie sich erhoben haben, stellen sie alle ihre Stäbe zu einem Haufen zusammen und strecken gegen diesen die Hände mit Grünzeugbündeln aus. Schließlich kehrt die Gesellschaft wieder zum heiligen Baume zurück, hüpfend und singend, wie sie gekommen war. Mittlerweile sind die hier zurückgebliebenen Frauen nicht untätig gewesen; die eine von ihnen hat in einem aus Ton gefertigten Napfe Kaffeebohnen mit Butter und Salz geröstet, während vier andere den Gesang um die Kräuterhaufen fortgesetzt haben. Die Zurückgebliebenen erheben sich jetzt und gehen den unter Führung ihrer Priesterin Zurückkehrenden gleichfalls unter Hüpfen mit Grasbüscheln in den Händen entgegen. Nun umarmen sich alle und begeben sich gemeinsam zum Baum, der von dem ganzen Zug noch einmal umgangen wird. Dann legen die Frauen ihre Bündel am Fuße des Baumes nieder, umstellen ihn im Kreise und sagen dabei mit tiefer Stimme allerlei Sprüche auf. Damit schließt die eigentliche Feier. Es werden nun noch die mitgebrachten Maisbrote am Baume niedergelegt, auf die sich die abseits lauernden Kinder auf ein verabredetes Zeichen stürzen und um die sie sich balgen, um möglichst viele in ihren Fellsäcken verschwinden zu lassen.
Phot. Exclusive News Agency.
Abb. 482. Gallafrau.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 483. Somalmädchen beim Haarmachen.
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Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 484. Somal beim Gesang eines „Gerar“,
der in Lobpreisungen des Häuptlings besteht und immer zu Pferde vorgetragen wird.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 485. Ein Dibaltig oder Reiterschaustück zu Ehren eines großen Häuptlings.
Nach seiner Beendigung galoppieren die Teilnehmer mit hochgehobenen Speeren und Schilden unter Heilrufen auf den Häuptling zu.
Ein interessantes Gebiet der abessinischen Kultur ist die Rechtspflege, die noch auf dem alten Grundsatze beruht: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Im allgemeinen können die Abessinier nicht ohne ständige Gerichte leben; wegen der geringsten Kleinigkeit wird von ihnen das Gericht angerufen und unter hochgradigen Aufregungen verhandelt und gestikuliert. Eigentliche Freiheitstrafen kennt das abessinische Recht nicht, es wendet nur Körper- oder Geldstrafen an. Erstere werden meistens auf dem Hauptmarktplatze am Sonnabend unter Anwesenheit mächtiger Menschenmassen vollstreckt. Ist ein Diebstahl begangen worden und kann der Täter nicht sogleich ermittelt werden, so greift man zu einem eigentümlichen Verfahren, um ihn ausfindig zu machen. Man läßt in das betreffende Haus einen Knaben kommen und versetzt ihn durch Trinken von Milch, in die eine betäubende Medizin getan wurde, sowie durch Rauchen aus einer Pfeife, die etwas Ähnliches enthält, in eine Art Traumzustand. Der Knabe zieht sodann, ähnlich wie ein Polizeihund, mit einem Vertreter der Gerichtsbarkeit, mit dem er durch einen Strick verbunden ist, durch die Straßen und Häuser der Stadt. Derjenige, den er berührt, gilt als der Dieb, und damit ist dessen Urteil gesprochen, denn für den vermeintlichen Dieb gibt es kein Mittel, seine Unschuld zu beweisen. Die Strafen, die auf Diebstahl stehen, sind besonders hart. In einfacheren Fällen wird dem Diebe mit einer Peitsche der entblößte Rücken blutig geschlagen, oft so, daß dieser eine einzige blutige Masse bildet. Ist das Vergehen schwerer, dann wird dem Übeltäter die rechte Hand abgehauen, im Wiederholungsfalle der linke Fuß, dann eventuell noch die linke Hand und der rechte Fuß. Falsche Aussagen vor Gericht werden zunächst mit Geldstrafe, bei Rückfälligkeit mit Ausschneiden der Zunge bestraft. Der Abessinier schwört beim Tode eines Großen des Reiches. Straßenraub und Mord werden mit Todesstrafe geahndet. Der Mörder wird den Angehörigen des Toten ausgeliefert, die über sein Schicksal zu bestimmen haben, sei es, daß sie, was meistens geschieht, durch Totschlag an ihm Rache nehmen oder sich mit Geld und Vieh begnügen. Meist findet die Ahndung durch die gleiche Todesart statt, wie sie der Verbrecher gegen sein Opfer angewendet hatte. Das ehrenvollste ist das Erschossen-, das entehrendste das Gehängtwerden.
Phot. Carl Hagenbeck, Stellingen.
Abb. 486. Somaljüngling mit Kämmen im Haar.
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Phot. George Schulein.
Abb. 487. Das Mascalfest oder Fest des Heiligen Kreuzes,
das wichtigste der abessinischen Feste. Die Priester tanzen dabei in prächtigen Gewändern vor dem König.
Phot. Lekegian & Co.
Abb. 488. Abessinierin.
Man beachte den reichen Schmuck (Armbänder, Ohrringe, mit Edelsteinen besetzte Halsketten).
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Phot. George Schulein.
Abb. 489. Abessinische Kirche.
Aus: R. E. Drake-Brockman, Britisch-Somaliland.
Abb. 490. Tanz der Galla,
bei dem die mit Schild und Speer bewaffneten Krieger ihr „Opfer“ umtanzen und so tun, als wollten sie es erstechen.
Die Abessinier sind monophysitische Christen und als solche der koptischen Kirche (Abb. 489) zugeteilt; noch heutzutage weiht der koptische Bischof von Alexandria den abessinischen. Die Lehre Jesu fand bereits im vierten Jahrhundert Eingang in Abessinien durch zwei gefangene Christen aus dem Abendlande, sie verbreitete sich bald im Lande und wußte sich gegenüber den Stürmen des auf sie eindringenden Islams zu erhalten. Allerdings ist dieses Christentum vielfach auf Abwege geraten und hat in Aberglauben und Kultus allerlei Zutaten erfahren, die teils dem Islam, teils dem Heidentum der Grenzvölker, auch wohl dem Judentum entstammen. Doch ist unter den Abessiniern auch die Lehre Mohammeds vielfach mit solchen durchsetzt. Alle Abessinier, ob Christen, Mohammedaner oder Heiden, glauben an Geister der verschiedensten Form und Gestalt, die alle möglichen Beziehungen zum Bösen haben. Dementsprechend halten sie noch an vielen abergläubischen Gebräuchen fest. Ein paar Beispiele hiervon. Wer eine Hyäne tötet, zerstört sein Glück, denn man meint, daß diese Tiere Tote verschlingen, deren Seelen dann in ihrem Körper weiterleben. Man glaubt ferner, daß Grobschmiede nachts den Schornstein hinauf verschwinden und sich in Hyänen verwandeln; sie sollen auch mit dem Teufel im Bunde stehen. Wenngleich solcher Aberglaube heutigestags im Abnehmen begriffen ist, so wird doch immer noch kein Abessinier besseren Standes seine Tochter einem Grobschmied zur Frau geben. Der weiße Adler soll großes Unglück bringen und wird, wenn möglich, stets geschossen. Seine Leber wird herausgeschnitten und sodann gegen ein Kuheuter gerieben; ein Teil kommt schließlich in ein Amulett, und der Rest wird unter das Trockenfutter der Haustiere verteilt. Auf diese Weise hofft man einen reichlichen Milchertrag zu erzielen. Der Kopf eines weißen Raben soll, um den Hals eines Tieres gehängt, dieses gegen den bösen Blick schützen. Überhaupt spielt der böse Blick eine große Rolle; viele Krankheiten werden ihm zugeschoben. Kinder schützt man dagegen, indem man sie stets mit Baumwollstoff bedeckt. Krankheiten, die durch den bösen Blick bereits entstanden sind, werden auf folgende Weise wieder beseitigt: Fleisch und Haut einer Hyäne werden in ein kleines Gefäß getan und glühende Kohlen darauf gelegt; den sich daraus entwickelnden Brodem muß der Leidende durch Mund und Nase einziehen, dabei wie eine Hyäne heulen und sprechen: „Der und der hat den bösen Blick auf mich geworfen.“ Die Furcht vor dem bösen Blick ist auch die Ursache, daß ein Abessinier es nicht gern hat, wenn jemand ihm beim Essen zusieht; man kann daher oft beobachten, wie Menschen, die am Wege gerade ihre Mahlzeit einnehmen, sich den Kopf mit einem Shama bedecken (Abb. 491).
Phot. George Schulein.
Abb. 491. Ein Abessinier,
der bei der Mahlzeit am Wegrand sein Gewand über den Kopf gezogen hat, um von dem bösen Blick der Vorbeiziehenden nicht getroffen zu werden.
Ärzte sind, außer in den von Europäern bewohnten Gegenden, in Abessinien unbekannt. Das Volk wird von den Priestern behandelt, die ihren Patienten Amulette (Abb. 492) und Kräuterabkochungen verabreichen. Sie behaupten die Macht zu haben, den Teufel auszutreiben.
Die Priester (Abb. 493) der abessinischen Kirche dürfen mit Ausnahme dessen, der im Allerheiligsten waltet, die Ehe eingehen, aber nur einmal in ihrem Leben. Es gibt auch unzählige Mönche und Nonnen, aber nur unverheiratete Männer und ältere Frauen dürfen in ein Kloster gehen. Die Klöster werden durch Almosen unterhalten. — Die Erziehung des Volkes liegt in den Händen der Priester, jedoch darf niemand über seinen Stand hinaus erzogen werden. Alle modernen Ideen sind vom Unterricht ausgeschlossen, und wer etwa für solche empfänglich sein oder Neugierde nach ihnen verraten sollte, wird der Ketzerei angeklagt. Auch dem Reichtum, den der einzelne anhäufen darf, ist ein Ziel gesetzt.
Phot. George Schulein.
Abb. 492. Knabe mit einem Amulett um den Hals,
in das die Priester, die zugleich Heilkundige sind, bestimmte Mittel hineinzutun pflegen.
Wie schon gelegentlich erwähnt, bekennt sich ein Teil der Abessinier zum Mohammedanismus; auch die Somal und zum größten Teil die Galla sind Anhänger dieser Glaubenslehre; aber obwohl sie diese streng befolgen, oft in dem Maße, daß sich ihre Anbetung zur wahren Ekstase steigert, lassen sie sich auf der anderen Seite doch nicht daran hindern, an manchen abergläubischen Vorstellungen festzuhalten. Ein Teil der Galla ist noch vollständig im Heidentum befangen.
Über besondere Bräuche bei Schwangeren und Gebärenden unter den Abessiniern ist meines Wissens nichts bekannt geworden; sie werden sich wohl im großen und ganzen nach den Riten der christlichen und mohammedanischen Kirche richten. Nur soll es während der Niederkunft einer Abessinierin sehr laut zugehen; die Personen, die sie umgeben, erheben fortwährend ein lautes Geschrei, wohl ein Überbleibsel der alten Sitte, die Dämonen dadurch zu vertreiben. Will die Geburt nicht recht vonstatten gehen, dann zieht sich der Ehegatte die Sandalen aus, umschreitet barfuß das Haus und teilt mit der flachen Klinge seines Schwertes auf dessen Außenwände Schläge aus, während drinnen die helfenden Frauen heiße Gebete an die Jungfrau Maria, die Beschützerin aller Gebärenden, richten.
Phot. George Schulein.
Abb. 493. Abzeichen eines abessinischen Priesters.
1. Krückstöcke. 2. Klapper. 3. Wedel mit Elfenbein- oder Holzgriff. 4. Krone.
Phot. George Schulein.
Abb. 494. Tanz der Galla bei dem Pubertätsfeste in Adis Abeba.
Die älteren Leute tanzen wild im Kreise umher, schreien und schlagen an die Schilde.
Phot. G. F. Archer.
Abb. 495. Somal beim Gesang eines „Iyar“,
den sie zur Feier einer Hochzeit anstimmen. Beim Iyar wird gesungen und rund im Kreise getanzt, dabei in die Hände geklatscht und mit den Füßen getrampelt.
Bei den Somal verläuft die Geburt ohne sonderliche Feier. Ein Knabe wird im allgemeinen mit großer Freude begrüßt. Die Nachbarn des glücklichen Vaters werfen dann Baumzweige auf seine Hütte und sprechen hierbei den Wunsch aus, daß Allah ihm eine an Söhnen reiche Familie verleihen möge. Bei den Somal pflegen sich nach Bekanntwerden einer Geburt die Yebir einzufinden, Angehörige einer Pariaklasse, von denen man glaubt, daß sie keines natürlichen Todes sterben; sie verlangen eine kleine Abgabe von den Eltern, die diese ihnen wohl niemals abschlagen, aus Furcht davor, daß sie bei etwaiger Verweigerung von den Yebir Schaden zugefügt bekommen könnten. Als Gegengabe für solches Geschenk verabreicht der Yebir der jungen Mutter ein Zaubermittel, für gewöhnlich ein winzig kleines Stückchen in Leder eingewickelten Holzes, das dem Kinde um den Hals gehängt wird. — Die Somal und Galla beschneiden ihre Kinder; dabei finden große Festlichkeiten statt (Abb. 494). Bei den Mädchen der Somal wird zugleich auch die Infibulation angewendet, die bis zu der Verheiratung erhalten bleibt. Die Knaben der Abessinier bleiben bis zum sechsten Jahre bei der Mutter, dann kommen sie, falls die Familie vornehm ist, an den Hof, wo sie Unterricht erhalten und Pagendienste tun müssen. Die Mädchen werden im Hause erzogen, wo sie das Hauswesen, das Spinnen und die Künste, den Männern zu gefallen, erlernen. Bereits mit vierzehn bis fünfzehn Jahren gehen sie die Ehe ein; meistens erhalten die Eltern für sie einen Kaufpreis in Form von Vieh oder Geld. Es gibt drei Wege, die Ehe zu schließen. Am unbeliebtesten ist die kirchliche Einsegnung, weil die Ehe dann nicht geschieden werden kann; sie kommt fast nur in fürstlichen Familien vor. Eine zweite Art besteht darin, daß sich das Brautpaar zu einem besonderen Richter und fünf Schöffen begibt, vor denen der Mann im Namen Meneliks gelobt, seine Frau stets gut zu behandeln und im Falle einer Scheidung ihr eine Abfindungssumme (für gewöhnlich achtzig Mariatheresientaler) zu gewähren. Die dritte Art der Eheschließung ist die einfachste. Der Mann sagt zu seiner Auserwählten einfach: „Komm!“ Folgt sie seinem Wunsche und ziehen sie beide zusammen, dann sind sie verheiratet. — Für gewöhnlich bietet eine Hochzeit Anlaß zu ausgiebigen Fest- und Trinkgelagen. Die Frau ist Herrin im Hause; sie bringt ihr Gesinde mit, beköstigt und bekleidet es.
Phot. Frances L. Swayne.
Abb. 496. Somalgräber. Die auf ihnen errichteten Steine machen sie weithin kenntlich.
Ehescheidungen kommen häufig vor und sind leicht herbeizuführen. Mit Zustimmung der beiderseitigen Eltern können auch kirchlich geschlossene Ehen für ungültig erklärt werden. Scheidet sich das Ehepaar, dann zieht die Frau mit ihren Sklaven und Sklavinnen, den Kindern, die aus der Ehe hervorgegangen sind, und ihrer Abfindungssumme einfach ab. Etwas Unehrenhaftes wird darin nicht erblickt, und ein jeder Teil hat das Recht, sich wieder zu verheiraten; er macht auch meistens davon Gebrauch.
Beim Tode eines Mannes erfordert es der Brauch, daß der Bruder des Verstorbenen die Witwe heiratet.
Bei den Somal ist es das Mädchen, das sich den Ehegatten mit Billigung ihrer Eltern wählt. Auch bei diesem Volke wird vor der Hochzeit ein Brautpreis ausbedungen, der bei den habsüchtigen Forderungen des Schwiegervaters oft ziemlich hoch ausfällt; natürlich werden dabei auch die Vermögensverhältnisse des Werbers in Betracht gezogen. Der Preis bewegt sich von wenigen Rupien und einem halben Dutzend Schafe und Ziegen bis zu hundert Kamelen und wird in zwei Raten bezahlt, die eine Hälfte sogleich bei seiner Feststellung, die andere vor der Hochzeitsfeier. Die Trauung selbst ist eine sehr einfache Sache. Nachdem der Preis bezahlt worden ist, begeben sich Braut und Bräutigam in die Wohnung des Kadis, woselbst der künftige Gatte ein feierliches Gelübde ablegt des Inhaltes, daß er dem Mädchen Wohnung geben, es ernähren, kleiden und versorgen werde. Nachdem der Kadi noch einige Koranverse vorgelesen hat, ist die Handlung beendet, und der junge Ehemann führt seine Frau in sein Haus. Am Abend dieses Tages wird dann aber noch ein Iyar (Abb. 495) abgehalten, zu dem alle Freunde des Paares eingeladen werden. Ein Iyar besteht in Sang und Tanz, den der Bräutigam eröffnet. Im übrigen beteiligt er sich nicht weiter daran, sondern zieht sich, nachdem er das Zeichen zur Eröffnung gegeben hat, mit zwei Freunden in seine Hütte zurück. Darauf nähern sich einige Männer unter dem Gesang eines Liedes, das für diese Gelegenheit besonders verfaßt wurde und aus guten Ratschlägen für das junge Paar besteht, der Hütte und beschreiben einen Halbkreis um sie. Zwei Leute treten hervor und führen einen bestimmten Tanz, Shirbo genannt, auf, wobei sie mit den Füßen aufstampfen und Luftsprünge machen. Ist der Shirbo zu Ende, dann schließen sich die Freundinnen der Braut den Männern an, und alle begehen jetzt zusammen den eigentlichen Iyar. Sie tanzen im Kreise, klatschen in die Hände und stampfen nach dem Takte eines besonderen Liedes mit den Füßen, bis sie erschöpft umfallen. Darauf werden noch Erfrischungen umhergereicht, und die Gäste brechen auf. An allen diesen Festlichkeiten nimmt die Braut keinen Anteil; es gehört zum guten Ton, daß sie sich dabei überhaupt nicht sehen läßt.
Im großen und ganzen hält der Somal viel von seiner Frau; er behütet sie sorgfältig. Wenn sie ihm treu bleibt und ihn mit Kindern beschenkt, heiratet er häufig genug keine zweite mehr, obgleich ihm das mohammedanische Gesetz, wie wir bereits wissen, vier Frauen zu nehmen gestattet.
Beim Todesfall eines Abessiniers versammeln sich Freunde und gute Nachbarn draußen im Hof des Sterbehauses, und die Frauen erheben eine Wehklage und einen Totengesang. Die Leiche wird auf ein gerüstartiges Holzgestell mit geschnitzten Füßen gelegt, mit Ochsenhautstreifen verschnürt, mit Stoff zugedeckt und von kräftigen Männern zum Begräbnisplatz getragen, wo man den Toten, dem man das Gesicht nach Osten gewendet hat, ins Grab senkt. Nach dem Begräbnis findet für gewöhnlich noch ein Festgelage statt. Vierzig Tage später gibt es zur Erinnerung an die Auferstehung ein zweites, und im dritten sowie im zwölften Monat nach dem Tode wiederholt sich die Feierlichkeit abermals. Zum Zeichen der Trauer wird das Haar kurz geschnitten.
Unter den Somal fällt ein hoher Prozentsatz den blutigen Raubzügen und Fehden zum Opfer. Denn Räubereien stehen unter diesen Stämmen gleichsam auf der Tagesordnung; natürlich werden dabei viele Menschen getötet. Die Gegenpartei verlangt dementsprechend Sühne und beginnt, falls eine solche nicht bezahlt wird, die Fehde von neuem. So hören die blutigen Kämpfe meistens nicht eher auf, als bis ein großer Teil der Leute hat daran glauben müssen. Kommt schließlich ein Ausgleich zwischen den Parteien zustande, so währt der Friede leider oft genug auch nicht allzu lange, denn irgendein gestohlenes Kamel oder ein Streit um ein Weib bringen die Kugel von neuem ins Rollen, und bald liegen sich die Stämme wiederum in den Haaren. Auf diese Weise wird die Volkszahl der Somal stark geschmälert. Der bekannte Afrikareisende und Geograph Philipp Paulitschke schätzte ihre Gesamtzahl noch Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf mehr als zwei Millionen. Nach neueren Berechnungen aber beträgt ihre Kopfzahl kaum eine Million.
Phot. American Colony, Jerusalem.
Abb. 497. Eine mohammedanische Prozession am Geburtstage des Propheten.
Der Zug begibt sich unter Vorantritt angesehener Männer mit Bannern, die bereits die Pilgerfahrt nach Mekka mitgemacht haben, nach der Moschee.
Wie wenig übrigens den Somal ein Menschenleben gilt, zeigt unter anderem auch die auf uraltem Herkommen beruhende Forderung, daß jeder Jüngling, der sich zu verehelichen wünscht, die Tötung zum mindesten eines Mannes muß nachweisen können.
Ihre Toten werden von ihnen, da sie Anhänger des Islams sind, nach mohammedanischem Brauch beerdigt. Auf dem Grabe wird ein Stein errichtet. Wo der Boden locker ist, so daß die Hyänen die Leichen leicht ausgraben können, wird ein hoher Palisadenzaun um die Gräber errichtet (Abb. 496). Auch bei den heidnischen Galla sind solche Zäune üblich.
Phot. Em. Frechon, Biskra.
Abb. 498. Bauchtänzerin bei einer Hochzeit.