Als Zentralasien bezeichnet man das große abflußlose Gebirgsland im Innern Asiens, das durch die großen Massive des Himalaja im Süden, des Karakorum, Pamir, Tian-Schan, Alatan und Altai im Westen, des Sajan- und Jablonoigebirges im Norden und des Chingan und chinesischen Grenzgebirges im Osten in einer fortlaufenden Umwallung abgeschlossen wird. Es umfaßt in geographischer Hinsicht drei Gebiete: Tibet, die Mongolei und das Tarimbecken. Seine charakteristische Eigenschaft besteht eben in der großen Wasserarmut, die auch eine besondere Kultur seiner Völker geschaffen hat. Diese sind die eigentlichen Mongolen, von denen sich, entsprechend den drei geographischen Gebieten, ebensoviele große Völkergruppen unterscheiden lassen: die Tibeter, die Mongolen im engeren Sinne und die Ostturkistaner; an den Grenzen finden sich Mischvölker, aus der Verbindung der Mongolen mit Chinesen, Hindu und Iraniern hervorgegangen. Die mächtigen Züge mongolischer Horden, die im Mittelalter in mehrfachen Schwärmen bis ins Herz Europas eindrangen, kamen aus dieser Wiege der mongolischen Rasse. — Die Völkerstämme Ostturkistans, im besonderen die Kirgisen, sind keine Mongolen im anthropologischen Sinne mehr, sondern zählen zu einer Abzweigung dieser Rasse, die bereits vorzeiten erfolgt sein muß und sich in Nordasien weiter ausbildete, zu den sogenannten Türkvölkern. Indessen können sie auf der anderen Seite auch nicht wieder als reine Türkvölker gelten, sondern als das Mischungsprodukt dieser mit hinzugekommenen Mongolen, so daß ihr Typus bald mehr dem mongolischen, bald mehr dem der Türkvölker nahekommt. Die Kultur der Ostturkistaner jedoch entspricht ganz und gar der der Mongolen, so daß wir sie weiter unten mit diesen gemeinsam abhandeln können.
Die Lebensweise der zentralasiatischen Mongolen ist eine ziemlich gleichmäßige. Alle Völker sind umherziehende Nomaden (nur vereinzelt seßhaft), deren Beschäftigung fast nur in der Viehzucht (hauptsächlich von Schafen, Pferden und Kamelen, daneben auch von Rindern und Ziegen) besteht. Sie wohnen in sogenannten Jurten, zylindrischen, etwa anderthalb Meter hohen Zelten aus Filz, mit Kegeldach, die sich leicht abbrechen und wieder aufstellen lassen. Gekleidet sind sie in Gewänder, die sie selbst aus Filz herstellen, oder auch in solche aus Pferdehaut; russische Stoffe finden aber bereits vielfach Eingang. Charakteristisch für die Mongolen ist eine hohe Schaffellmütze. Die Frauen tragen lange Zöpfe, in die sie allerhand Schmuck, wie Bänder, Glasperlen, Korallen und bunte Steine, einflechten, silberne Spangen auf dem Kopf, Ohrringe, Arm- und Fingerringe und anderen Schmuck aus dem gleichen Metall.
Die Nahrung der Mongolen besteht in erster Linie aus einem aus gerösteten und zermahlenen Getreidekörnern hergestellten Teig, Dsamba genannt, und aus Ziegeltee, einem minderwertigen chinesischen Tee, der, um leicht befördert werden zu können, zu einem Kuchen (wie ein Ziegel) zusammengepreßt ist. Es besteht nach ihm überall eine so große Nachfrage, daß er als Geld umgesetzt wird, also als Münze gilt. Von tierischen Erzeugnissen werden Schaffleisch, Käse, Butter, Milch und ein durch Gärung daraus hergestelltes kohlensäurehaltiges Getränk, der Kumys, genossen.
Phot. N. P. Edwards.
Abb. 258. Tibetische Soldaten mit Schloßflinten.
(Man beachte die Gewehrstütze.)
Die Religion der zentralasiatischen Mongolen ist die Lehre Buddhas in ihrer nördlichen Umbildung, der sogenannte Lamaismus, der sich auch noch in der Mandschurei, China und Korea findet. Er ist gekennzeichnet durch die Annahme einer großen Anzahl von Wiedergeburten, die der Mensch nacheinander durchzumachen hat, um die schier unerreichbare höchste Stufe des Bodhisatva zu erlangen, deren nächste Stufe der Buddha selber ist. Dementsprechend besitzt die Götterwelt der nördlichen Schule des Buddhismus eine Unzahl von Götterbildern, die in ebenso zahllosen Tempeln und Klöstern untergebracht sind und die vielfachen Stufen darstellen, die vom einfachen Arbat, der ersten Stufe der Wiedergeburt, über die kaum zu zählenden Heiligen bis zum Bodhisatva führen, und damit zusammenhängend eine ausgebildete Priesterherrschaft, die es in Tibet zu einer völlig selbständigen Theokratie gebracht hat. Ihr Mittelpunkt ist die geheimnisvolle Residenz des buddhistischen Papstes, des Dalai-Lamas, zu Lhassa.
Phot. L. A. Waddell.
Abb. 259. Ein heiliger Felsen bei Lhassa
mit Hunderten von Bildern der Götter und Heiligen, die teils unmittelbar in den Felsen gehauen, teils auf Votivtafeln niedergelegt sind. Sie sind alle mit leuchtenden Farben bemalt.
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Phot. Johnston & Hoffmann.
Abb. 260. Frau aus Zentraltibet.
Der mit Edelsteinen verzierte Kopfschmuck wird hauptsächlich in Lhassa und Osttibet getragen. An den Halsketten hängen Amulettkästchen aus Gold- oder Silberfiligran mit eingelegten Türkisen.
Tibet ist noch wenig durchforscht, vielleicht das dunkelste Land der Welt, da hier seit jeher strenge Vorschriften gegen das Einwandern europäischer Elemente bestehen. Daher ist über seine Bevölkerung auch noch wenig bekannt geworden. Sie gehört, wie schon erwähnt, zu den reinen Mongolen, und es werden die Bodpa oder eigentlichen Tibeter, die Tanguten im Nordosten, die Sifan im Südosten, die Ladakh im Osten und die Gurung, Magar, Mishmi und Leptscha im Süden, beziehungsweise in den in den angeführten Richtungen angrenzenden Gebieten der Nachbarländer unterschieden. Alle diese Völker bewohnen das mächtigste Hochland der Erde, das im Durchschnitt viertausendfünfhundert Meter aufweist.
Die Kleidung der Tibeter (Abb. 258) besteht aus einem langen wollenen Rock, Tschak genannt (im Winter aus einem Schafpelz), der durch einen Gürtel fest zusammengehalten wird, langen wollenen Strümpfen mit ledernen Sohlen und einer Schaffellmütze. Hosen und Hemd werden nicht getragen. Die Frauen kleiden sich in lange, faltenreiche Röcke. Die Haartracht der Männer besteht in einem durch Einflechten eines baumwollenen Fadens noch verlängerten Zopf, der spiralig um den Kopf gelegt wird; die der Frauen wechselt sehr nach der Ortschaft von einem chignon- oder turbanähnlichen Aufbau bis zu zahlreichen kleinen Zöpfchen, die manchmal fächerförmig auf einem Holzkamm ausgebreitet werden. Bei den Frauen ist Schmuck in Form von Halsketten und Diademen aus Gold oder Silber, die außerdem noch mit roh bearbeiteten Edelsteinen geschmückt sind, sehr beliebt (Abb. 260 und 261). Die Frauen Tibets pflegen sich auch das Gesicht mit Kleister zu beschmieren und sich darauf kleine Samenkörner in ziemlicher Regelmäßigkeit zu legen. Da die Luft in Tibet sehr trocken ist und die Leute sich fast nie waschen, so hält sich dieser Schmuck längere Zeit. Die Töchter sind durchweg sehr unsauber. — Die Wohnung der Tibeter ist in der Regel ein viereckiges Zelt. Wo sie ansässig geworden sind, besitzen sie auch wirkliche, aus Bruchsteinen aufgeführte Häuser (Abb. 258).
Abb. 261. Toilettengebrauchsgegenstände einer tibetischen Schönen
(Ohrlöffel, Zahnstocher, Zungenschaber usw.), die sie an der Halskette als Anhängsel mit sich trägt.
Abb. 262. Tibetischer Teetopf.
Die Nahrung gleicht der der übrigen Mongolen; besonders bevorzugt wird aber gebutterter Tee, etwas für den europäischen Gaumen höchst Widerliches, das aber von den Tibetern fast zu jeder Tageszeit in ziemlichen Mengen mit großem Genuß getrunken wird und gleichsam ihr Nationalgetränk ausmacht; einem jeden Besucher wird es aus Gastfreundschaft aufgedrungen, und auch auf den Reisen wird es tagsüber des öfteren eingenommen. Es wird aus dem schon genannten Ziegeltee hergestellt. Auf ganz eigenartige Weise wird davon eine besondere Mischung gebraut. Eine genügend abgehobelte oder abgeschnittene Menge Tee wird mit ein wenig Wasser gekocht, dem eine Prise kohlensaures Natron beigegeben wird. Von dieser Abkochung wird ein wenig in ein kleines Butterfaß getan, das mehrere Liter kochendes Wasser und einen Kloß meist ranziger Butter enthält, und mit genügend Salz abgeschmeckt, darauf die ganze Mischung ein paar Minuten lang durchgebuttert und schließlich noch heiß aus Holzbechern getrunken, von denen jeder Tibeter einen in seiner Brusttasche bei sich trägt, und der, wenn er seinen Zweck erfüllt hat und trocken geleckt worden ist, wieder in diese zurückbefördert wird. In jede volle Tasse dieses Gebräus, das schon mehr eine Suppe oder Brühe vorstellt, aber entschieden nahrhaft und erfrischend sein dürfte, werden noch ein paar Kügelchen aus Brot oder Gerstenmehlteig als Beigabe geworfen. Bei feierlichen Gelegenheiten, wie bei Hochzeiten, Besuchen der Priester und anderer Ehrengäste, wird der gebutterte Tee aus massiven kupfernen Teekannen (Abb. 262) eingeschenkt, die oft mit künstlerisch ausgeführten Zeichnungen versehen und in erhabener Rankenverzierung aus Silber oder Messing reich plattiert erscheinen.
Phot. Sven Hedin.
Abb. 263. Tempelaltar für den buddhistischen „Messias“ Maitreya
oder „den kommenden Buddha“, dessen Erscheinen man von Westen her erwartet. Es ist dies der einzige Buddha, der beim Sitzen nicht mit gekreuzten Beinen dargestellt wird.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 264. Das buddhistische Lebensrad,
das die sechs (oder fünf) Stadien der Wanderung der menschlichen Seele im Kreise der endlosen Wiedergeburten und des Unglücks zur Darstellung bringt.
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Die offizielle Religion (Abb. 259, 263, 264 und 265) in Tibet ist die Lehre Buddhas in ihrer Ausbildung durch die nördliche Schule, von der uns hier im besonderen das Dogma von der fortlaufenden Inkarnation, das ist Fleischwerdung der Gottheit in der Person des jeweiligen Dalai-Lamas, interessiert. Diesem neuen Dogma zufolge, das im Jahre 1439 entstand, können die buddhistischen Götter auf der Erde eine menschliche Form annehmen, wieder ins Fleisch zurückkehren, die göttlichen Kräfte also in menschlicher Gestalt auftreten und wirken. Der jeweilige Dalai-Lama ist die Inkarnation des Bodhisatva Avalokiteçvara, die höchste der menschgewordenen Gottheiten. Neben ihm gibt es noch eine sehr große Anzahl anderer inkarnierter Gottheiten, die aber nicht auf derselben hohen Stufe stehen wie er; es sind dies die sogenannten Chubilgane, das heißt Wiedergeborene. — Eigenartig ist die Wahl eines neuen Dalai-Lamas, sobald der alte gestorben ist. Nach dessen Tode geht der Bodhisatva nicht einfach sofort in ein unbekanntes Kind über, sondern erst nach einer angemessenen Frist (bis zu drei Jahren). Es ist nun die Aufgabe des obersten Zauberpriesters, des Dharmapala, aus dem Kloster Nastschun das richtige Kind auszukundschaften. Zu diesem Zweck schickt er eine Anzahl Lamas im Lande umher auf die Suche. Der Knabe muß zu einem bestimmten Termin geboren, vollkommen normal gebildet, gesund und schön sein; außerdem wird auf bestimmte Anzeichen für seine göttliche Geburt gefahndet. Solche bestehen darin, daß Bäume in unmittelbarer Nachbarschaft des Geburtsortes zu einer Zeit in Blüte kommen, die von der natürlichen Blütezeit um Monate abliegt, daß Haustiere Junge entweder gleichzeitig oder in ungewöhnlicher Anzahl werfen, daß bei unheilbaren Kranken plötzliche Gesundung sich einstellt, nachdem sie in wirkliche Berührung mit der mutmaßlichen neuen Inkarnation gekommen waren, und anderes mehr. Der beste Beweis aber, daß der richtige gefunden ist, besteht in einem direkten Wunder. Leider geht die Wahl meistens nicht so leicht vonstatten, so daß man aus einer Anzahl Kinder wählen muß; man pflegt deren zwölf auszusondern, die den Anforderungen noch am meisten gerecht werden, und diese in ein Kloster zu bringen, um sie weiter zu prüfen. Zuletzt kommen drei Knaben in engere Wahl, und wenn im letzten Augenblick die Gottheit nicht eindeutig zu erkennen gibt, wer von ihnen der richtige ist, entscheidet das Los. Dieser Vorgang spielt sich unter höchst feierlichen Zeremonien ab. Der schließlich Auserwählte wird fortan der strengen klösterlichen Zucht unterworfen und für seinen hohen Beruf vorbereitet, den er mit dem erreichten achtzehnten Lebensjahre übernimmt.
Phot. L. A. Waddell.
Abb. 265. Darstellung eines zum Gott erhobenen Priesters.
Er reitet auf einem Löwen und hält dabei in der Rechten einen Donnerkeil, in der Linken eine Schädelschale mit Blut. Flammen umzüngeln ihn.
Abb. 266. Glocke und Donnerkeile eines Lamas.
Abb. 267. Ein Altarräuchergefäß aus Nepal.
Gebetmühle in einem buddhistischen Tempel in Tibet.
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Der Dalai-Lama ist nach außen hin fast gar nicht als weltliches Oberhaupt tätig; er ist nur das Oberhaupt der Kirche. Jene Tätigkeit liegt dem sogenannten Regenten und dem Ministerrat ob, die in seinem Namen amtieren. Dem Dalai-Lama sind eine Unmasse hoher und niederer Priester untertan, deren es in Lhassa selbst nicht weniger als achtzehntausend (Mönche und Nonnen) geben soll. Sie unterscheiden sich nach vier Rangstufen und leben alle im Zölibat. Die meisten der lamaistischen Priester leben in Klöstern, mit denen das ganze Land gleichsam übersät erscheint. — Der Gottesdienst des tibetischen Buddhismus (Abb. 266 und 267) ist in reinen Formenkram ausgeartet. Man betet nicht allein mit den Lippen und dem Herzen, sondern man bringt den Göttern seine Gebete bereits gedruckt oder geschrieben auf Felsplatten, die lange Mauern (Abb. 271) bilden, sogar viele Meter lang (in der Nähe geweihter Gebäude oder Bergpässe), auf Pyramiden, Papierstreifen und so weiter dar. Diese Gebete pflegen nur die vier typischen Worte zu enthalten: Om ma-ni pad-me hum, gleich „O Gott, das Kleinod im Lotos. Amen“. Das bloße Aussprechen dieser Weiheformel genügt für den, der dies tut, um eine Wiedergeburt direkt ins Paradies zu bewirken. Die Anbetung wird dadurch noch besonders erleichtert, daß man nur Gebetmaschinen (siehe Kunstbeilage) zu drehen braucht, die in endloser Reihenfolge diese Formel, auf Papier oder Seide geschrieben, abwickeln. Für den Hausgebrauch werden kleine Gebetmühlen benutzt, kleine Zylinder, die in ihrem Innern auf einer Röhre Papierstreifen mit dem aufgeschriebenen Gebet enthalten und durch einen durchgehenden Stift in rotierende Bewegung versetzt werden (Abb. 268). In den Tempeln finden sich größere Gebetmaschinen, die mit einem Strick getrieben werden. Ja, auch ohne die geringste körperliche Anstrengung kann man seine Gebete zum Himmel senden, nämlich durch Mühlen, deren Inhalt durch Wind oder Wasser in Umdrehung versetzt wird.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 268. Ein Tibeter beim Drehen seiner Gebetmühle.
In der linken Hand trägt er einen Rosenkranz aus hundertundacht Perlen.
Phot. The Moravian Mission.
Abb. 269. Ein Opfermast beim Bonistenfest.
Er ist mit Fadenarbeiten in geometrischer Form ausgestattet, deren Rippen gewöhnlich ein einfaches oder ein Doppelkreuz bilden.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 270. Anbetung der Göttin der Chumulhariberge zu Phari und an anderen Orten dieses Gebirgstockes.
Es werden Kuchen und Mehl, die nach uraltem Bonistenritus geweiht sind, nach den Bergen zu geworfen.
Trotz der hohen Entwicklung, die der Buddhismus in Tibet angenommen hat, ist das Volk doch noch in so hohem Grade von animistischen und schamanistischen Anschauungen durchsetzt, wie wohl an wenigen Stellen der Erde. Wir begegnen als Überresten der vorbuddhistischen Religion, des Bonkultus (Abb. 269 bis 272), noch vielfach den Teufelstänzern, die die Aufgabe haben, die Dämonen zu beschwören, sie zu besänftigen und so Glück über das Land und seine Bewohner zu bringen (Abb. 275). Diese sind in hohem Grade abergläubisch und glauben sich auf Schritt und Tritt von Legionen böser Kräfte umgeben, gegen die sie nicht nur bei diesen Schamanen, sondern noch mehr bei den buddhistischen Priestern Schutz suchen, die sich übernatürliche Kräfte beilegen. Sie behaupten von sich sogar, sie besäßen die Macht, den Sündern ihr Geschick noch nach dem Tode zu erleichtern, auch wenn sie bereits in der Hölle weilen und hier allen möglichen schrecklichen Peinigungen unterworfen werden, sobald ihre irdischen Verwandten den Priestern Geschenke in entsprechender Menge machen, um für das Seelenheil der Verschiedenen die teuren Zeremonien vorzunehmen und Messen zu lesen. In der Hölle wären daher Lamas, die umhergehen, ihre Gebetmühlen drehen und Zaubersprüche zum Nutzen der gequälten Seelen murmeln, wenn überlebende Verwandte sich deren Heil angelegen sein lassen. Das Verlangen nach materiellem Schutz gegen die unsichtbaren bösen Geister führt die Menschen dazu, auf Zaubersprüche und Amulette ein felsenfestes Vertrauen zu setzen; man sieht jedermann, Männer, Frauen und Kinder damit behängt. Diese Zauberformeln sind meistens in Sanskrit geschriebene Aussprüche, die dem Buddha zugeschrieben werden und angeblich den indisch-buddhistischen Schriften entnommen wurden. Sie werden ergänzt durch Reliquien heiliger Mönche, geweihte Körner, kleine Götzenbilder und allerhand andere heilige Dinge, die, zusammen mit ihnen, in ein goldenes, silbernes oder kupfernes, reich verziertes Amulettkästchen eingeschlossen, als massiver Schmuck (Abb. 272 und 277) getragen werden. Die volkstümlichste aller Zauberformeln sind die oben angeführten Worte, die auf den Gebetmühlen gedreht werden. Diese abergläubischen Vorstellungen finden sich auch wieder in dem Brauche, hohe Masten mit wehenden „Gebetfähnchen“ (Abb. 279) aufzustellen und Girlanden aus solchen von Dach zu Dach, an von Geistern bewohnten Bäumen und an Bergpässen (Abb. 276), die von Geistern besonders heimgesucht werden sollen, anzubringen.
Phot. The Moravian Mission.
Abb. 271. Eine heilige Mauer in Tibet,
die beiderseitig in Türme (Chortens) endigt. An ihr sind hunderte von Steintafeln angebracht, in die die mystische Formel „Om ma-ni pad-me hum“ eingegraben ist. Daher heißt sie auch Manimauer.
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Abb. 272. Ein tibetisches Amulettkästchen.
Große Wichtigkeit legt das Volk auch noch den Vorbedeutungen bei und regelt unter diesem Gesichtspunkte alle Angelegenheiten seines täglichen Lebens; nicht nur bei allen wichtigen Geschäften, sondern auch bei allen ernsten Vorfällen im Leben, wie Geburt, Hochzeit, Krankheit und Tod, ferner bei Aussaat, Ernte, Bautätigkeit, Reisen und so weiter holt es sich darüber Rat, ob ein bestimmter Tag oder ein Augenblick der Vornahme dieser Handlungen günstig sei. Bedeutende Zauberer werden nicht nur vom gewöhnlichen Volke, sondern auch von den Buddhistenmönchen und selbst von der Regierung bei wichtigen Staatsangelegenheiten hinzugezogen. Jedes Kloster hält sich zu diesem Zweck einen eigenen Zauberer, der aber nicht als Glied der buddhistischen Brüderschaft betrachtet wird. Er lebt auch gesondert von ihnen und darf heiraten, womit man zum Ausdruck bringen will, daß er nicht zur Lehre Buddhas gehört und sein Handwerk einer vorbuddhistischen Zeit entstammt. Seine Aussprüche werden in ganz geheimnisvolle und orakelähnliche Formen gekleidet. Eine besondere Aufgabe dieser Zauberer im ganzen Lande ist das „Regenerzwingen“. Unter diesem Himmelsstrich hängt der Erfolg der Ernte nämlich in besonders hohem Grade von einem rechtzeitig eintretenden Regen ab, dessen Herbeiführung ebenso wie die Abwendung des die Saat vernichtenden Hagels auf dem Einwirken des Zauberers beruht (Abb. 273).
Abb. 273. Kappe eines Laienpriesters
(chinesisches Muster) als Mittel gegen Schneeblindheit und ungewöhnliche Sommerhitze.
Phot. The Moravian Mission.
Abb. 274. Bonistenfest für die Geister der Erde und der Luft.
Der mit dem Hut der Teufelstänzer bekleidete Priester steht neben dem Opfermast und bringt in einer Schädelschale Wein als Opfer dar; vor ihm steht ein Dreifuß, auf den die Opferkuchen gelegt werden.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 275. Teufelstanz der Tibeter, um die Teufel auszutreiben und Glück ins Land zu bringen,
ein Überrest der Bonreligion. Die Tänzer tragen konische, schlangengeschmückte Hüte mit breitem Rand aus schwarzem Yakhaar und seidene Gewänder, auf die schreckenerregende Köpfe der Riesendämonen gestickt sind. Einige Buddhistenpriester mit spitzzulaufenden Kapuzen nehmen an dieser Feier teil.
Phot. Sven Hedin.
Abb. 276. Gebetflaggen im Gebirge.
Unter den tibetischen Festen nimmt ähnlich wie bei den Chinesen das Neujahrsfest die erste Stelle ein. Es wird mit besonderem Pomp gefeiert und ist außerdem dadurch ausgezeichnet, daß an diesem Tage die Leute sämtlich neue Kleider anlegen, die dann allerdings für das ganze Jahr vorhalten müssen und von den meisten nicht einmal des Nachts oder überhaupt nicht gewechselt werden. Am Neujahrsmorgen findet am Hofe des Dalai-Lama großer Empfang statt, bei dem der erste Kammerherr die Zeremonien eröffnet, indem er dem großen Kirchenfürsten unter Darbringung von Reisbranntwein und Dsamba in goldenen Schalen auf goldener Platte Glück und Wohlergehen wünscht, worauf dieser seine Finger in die Flüssigkeit taucht, seine Umgebung bespritzt, etwas von der Speise kostet, alle anwesenden Würdenträger nacheinander segnet und sie bewirtet. Gleichzeitig finden außerhalb des Festsaales Tänze statt, denen die an der Gratulationskur nicht unmittelbar beteiligten hohen Beamten beiwohnen; die Knaben tanzen den „Tanz des glücklichen Schicksals“. An den beiden ersten Abenden, sowie am Vorabend des Neujahrsfestes werden sämtliche Tempel, alle öffentlichen sowie privaten Gebäude und Wohnungen aufs festlichste illuminiert. Für die Kleriker enden die Festlichkeiten bereits am dritten Tage, von da an versammeln sie sich alltäglich zu feierlichen Gottesdiensten um den Dalai-Lama, die zwanzig Tage lang dauern und von strengen Fasten begleitet werden. — Von längerer Dauer und von reicherer Abwechslung als das eigentliche Neujahrsfest sind die Vorbereitungen dazu, die das Volk fast einen ganzen Monat lang in Anspruch nehmen. Besonders ist es der neunundzwanzigste Tag des letzten Monats, der eine große Rolle dabei spielt. An ihm wird nicht nur der Staub und Schmutz, der sich während des zum Abschluß kommenden Jahres angesammelt hat, durch eine gründliche Reinigung entfernt, sondern auch die bösen, übelwollenden Geister, die an allem Unglück Schuld tragen, werden verbrannt. Am frühen Morgen setzen in den Höfen der verschiedenen Tempel oder an nahe gelegenen, geeigneten Plätzen Zaubertänze ein, die von Leuten in den schrecklichen Masken (Abb. 280, 274, 275) der alten, aus dem Schamanentum noch übernommenen Götter und Halbgötter aufgeführt werden und mehrere Stunden dauern, da an ihnen gewöhnlich achtzig bis hundert Tänzer, alles nur Lama, nacheinander in Gruppen teilnehmen. Für den Humor sorgen dabei die Figuren der indischen „Azari“, die durch ihre Trachten, ihre groteske Gesichtsbemalung und ihre Grimassen das versammelte Volk belustigen wollen und es auch zu ausgelassenem Beifall hinreißen. Außer den Volksmassen sehen auch die höhere Geistlichkeit und vornehme Gäste unter großen Zelten dem Trubel zu. Nach Abschluß der Tänze und Abhaltung eines Morgengottesdienstes wird noch eine feierliche Prozession nach einem wenige Kilometer davon entfernten Orte auf freiem Platze in Bewegung gesetzt, um ein gewisses Symbol, das Torma, zu opfern beziehungsweise zu verbrennen. Ein Torma ist ein aus Dsamba mit Butter und Zucker hergestellter kegel- oder pyramidenförmiger, an der Oberfläche oft in einer oder mehreren Farben — meistens rot, was die Flammen versinnbildlichen soll — bemalter, gelegentlich auch noch mit allerlei auf den Kultus bezugnehmenden Figuren und Zeichen versehener Gegenstand von etwa einem halben, bei besonderen Gelegenheiten sogar bis zu vier Meter Höhe, der an der Spitze der Prozession von drei Lama auf einem eisernen Dreifuß vorangetragen wird; auf ihm ruht noch eine künstliche Schädelschale aus demselben Dsambateige. Außerdem tragen ebenfalls drei Lama auf einem eisernen Tablett ein aus dem gleichen Material hergestelltes menschliches Skelett. An dem vorbestimmten Platze werden Torma und Skelett auf einem aus Reisig oder Stroh errichteten Haufen verbrannt. Sobald die Flammen über dem Ganzen zusammenschlagen, senken die in der Prozession mitgezogenen vierundzwanzig Fahnenträger ihre Stangen und laufen, was sie nur können, ohne sich nur einmal umzusehen, nach dem Kloster zurück, während eine große Anzahl gleichfalls dabei beteiligter Soldaten ein furchtbares Gewehrgeknatter, natürlich nur mit Platzpatronen, über dem brennenden Haufen unterhalten, um dadurch die bösen Geister am Entweichen zu hindern und sie sämtlich dem Verbrennungstode zu überliefern.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 277. Frau aus Westtibet.
Der Kopfputz ist mit Korallen, Türkisen und anderen ungeschliffenen Edelsteinen oder bunten Glasstücken besetzt. Jedem Stein wird eine besondere Wirkung gegen böse Geister zugeschrieben. An der Halskette hängt oben ein Amulettkästchen, weiter unten ein Rosenkranz mit den üblichen hundertundacht Perlen.
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Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 278. Tibetische theatralische Vorführungen zu Lhassa.
Die Szene stellt ein Zwischenspiel in der Aufführung eines der heiligen Spiele von Buddhas früheren Geburten, der Jātakas, dar.
Phot. L. A. Waddell.
Abb. 279. Eine Gebetflagge als Talisman gegen Donnerschläge und Hagel.
Die Hauptunterhaltung des Tibeters bilden heilige Schauspiele (Abb. 257, 278, 280 und 281) im Freien, die Jātakas, die an Fast- und Festtagen aufgeführt werden und zum Gegenstand die „früheren Leben“ Buddhas haben. Auch hierbei treten manchmal Maskentänzer in Gestalt von grotesken Tieren und Teufeln, sowie Possenreißer auf, die in den Pausen das Volk durch ihre Sprünge und sonstigen Scherze unterhalten. Diese heiligen Schauspiele laufen immer auf dieselbe Lehre hinaus, daß nämlich die gute Tat belohnt und die schlechte bestraft wird.
Phot. T. G. Longsloff.
Abb. 280. Tibetische Maskentänzer.
Sie wirbeln bei ihrem von Trommelschlägen und Zumbeln begleiteten Tanze mit ihren langen Flügeln aus Yakhaaren durch die Luft, bis ihr Körper beinahe wagrecht schwebt.
Die Geburt eines neuen Weltbürgers wird von den Eltern, Verwandten und Nachbarsleuten mit großer Freude begrüßt, obgleich man nach der buddhistischen Lehre nicht wissen kann, ob das Kind wirklich das eigene Fleisch und Blut seiner Eltern ist und nicht etwa von einem wildfremden Menschen oder vielleicht auch von einem Tier, dessen Geist zufällig nach Wiedergeburt verlangt hat, abstammt. Dankopfer werden in den Tempeln dargebracht und etwaige Gelübde, die vordem abgelegt wurden, um einen Erben zu erhalten, werden erfüllt. Eine Tochter wird wie überall in den buddhistischen Ländern weniger geschätzt. Stirbt die Mutter kurz vor der Geburt, so wird das Kind durch Bauchschnitt herausgeholt. — Das Neugeborene wird nicht gebadet, sondern mit Butter eingerieben und mehrere Tage lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Die Nahrung der Säuglinge besteht weniger in Milch, als vielmehr in der Hauptsache in Dsamba mit Suppe vermischt. Talismane werden dem Kinde an sein Kleid gebunden, um den bösen Blick abzulenken oder das Glück zum Eintritt zu zwingen, der Astrologe wird herzugezogen, um dem Neugeborenen das Horoskop zu stellen. Der Name, den das Kind erhält, pflegt oft ein recht hochtrabender zu sein, wie „Der Donnerschlag langen Lebens“ oder „Das unermeßliche Banner“, oder es wird ihm einfach der Name des Wochentages beigelegt, an dem es geboren wurde, wie die „Sonne“ für einen am Sonntag geborenen, oder „Saturn“ für einen am Sonnabend geborenen Knaben. Für Mädchen ist der beliebteste aller Namen derjenige der buddhistischen Mutter Gottes, nämlich „Dōlma“, was also unserem Maria entspricht.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 281. Ein Teilnehmer der tibetischen Prunkspiele in der Tracht eines mittelalterlichen Panzerreiters mit Bogen und Pfeil.
Die Rüstung besteht aus Eisenplatten, die durch Riemen aus Büffelhaut miteinander verbunden sind.
Die tibetischen Frauen sind im allgemeinen recht fruchtbar; sie bringen im Durchschnitt etwa zehn bis zwölf Kinder zur Welt, von denen allerdings die Hälfte wieder stirbt. Von drei bis vier Söhnen einer Familie wird mindestens einer zum Lama bestimmt. Die Lama sind aber zum Zölibat verurteilt, und daher übersteigt die Zahl der unverheirateten Mädchen weitaus die der Jünglinge, die heiraten dürfen. Obwohl daher ein junger Mann bei seiner Brautwahl eine ungewöhnlich große Auswahl hat, so nimmt er doch für gewöhnlich eine Frau, die älter als er ist. Da zwischen den Geschlechtern die weitgehendste Vertraulichkeit erlaubt ist, so sind echte Werbungen und Liebesheiraten nichts Ungewöhnliches. Die formelle Verlobung indessen wird zumeist von einem Zwischenträger zustande gebracht, der ein Freund des Bewerbers ist und als Geschenk eine seidene Zeremonialschärpe mit überreicht. Diese, Chadak genannt, spielt eine sehr wichtige Rolle im gegenseitigen Verkehr, sobald eine Gefälligkeit erbeten oder ein Besuch gemacht wird. Sie dient als Zeichen der Begrüßung, der Freundschaft und des Glückwunsches und wird mit einer Verbeugung in der Weise überreicht, daß man sie gefaltet über beide parallel gehaltene Hände hinhält, worauf der andere sie auf seine ebenso vorgestreckten Hände übergleiten läßt, ohne die Finger dabei zu Hilfe zu nehmen. Um wieder auf die Werbung zu kommen, so wird die Antwort der Eltern dem Vermittler an einem festgesetzten Tage zuteil, an dem die Angehörigen der Braut und er, der dann eine große Menge Wein zur Bewirtung der Gesellschaft mitbringt, eingeladen werden. Wenn das Mädchen und ihre Eltern mit dem Vorschlage einverstanden sind, dann trinken sie den Wein und nehmen jeder einen Chadak an, worauf der Vermittler der Braut einen mit Türkisen besetzten Kranz, das Verlobungsgeschenk des Bewerbers, auf die Stirn setzt und noch andere Geschenke überreicht.
Phot. The Moravian Mission.
Abb. 282. Hochzeitsfeier in Nordwesttibet.
Das Brautpaar, das hohe Hüte und eine Zeremonialschärpe um den Hals trägt, hockt auf einem Teppich neben einem Tisch, auf dem ein Gefäß mit Wein steht, während ein Lamapriester an einem Tisch mit Teetopf und Tassen sitzt.
Bei der nunmehr folgenden Hochzeit finden keine religiösen Zeremonien statt, denn die Heirat ist in Tibet wie in anderen buddhistischen Ländern nichts als ein Zivilvertrag, der nur öffentlich bekannt gegeben zu werden braucht, um Gültigkeit zu besitzen. Nachdem die Astrologen einen günstigen Tag festgesetzt haben, werden Einladungsschärpen an alle Verwandten und Freunde gesandt, wofür man erwartet, daß sie das Geschenk durch ein Kleidungsstück oder einen anderen praktischen Gegenstand erwidern. Mehrere Freunde des Bräutigams holen die Braut ab und werden von den Angehörigen mit anderen Gästen festlich bewirtet. Alle Festgenossen sind aufs feinste angezogen; die Reicheren tragen Gewänder aus chinesischem Seidenbrokat, die Männer ihre Amtshüte, die Frauen sind mit schwerem Schmuck (silbernen und goldenen, mit Türkisen besetzten Amulettkästchen) förmlich überladen und tragen auf dem Haupte Tiaren. Besonders ausgeputzt ist natürlich die Braut, sie erhält ihren Platz zwischen ihren Eltern auf einem recht hohen Kissen, daneben nehmen Freunde und Verwandte in regelmäßiger Reihenfolge Platz. Nach Beendigung der Festtafel werfen Vater und Mutter der Braut je eine Schärpe (Abb. 282) um den Hals und wünschen ihr dabei reichen Kindersegen, während die übrigen Anwesenden Getreidekörner über sie ausschütten und sie sodann zum Hause des Bräutigams begleiten. Hier finden für gewöhnlich keine Zeremonien mehr statt. Braut und Bräutigam setzen sich nun nebeneinander nieder, essen und trinken Wein oder Tee, erheben sich darauf und nehmen die Glückwünsche der Gäste und die Schärpen entgegen; die letzteren legen sie sich zum Teil um den Hals oder häufen sie neben sich auf. Gelegentlich liest auch noch ein Priester etwas aus den heiligen Schriften vor und spendet seinen Segen. Die Gäste werden sodann noch einmal bewirtet. Nach der Hochzeit wandert das glückliche Paar noch drei Tage lang, aufs schönste gekleidet, umher, macht bei den Freunden Besuche, ißt und trinkt bei ihnen und beteiligt sich an sonstigen Lustbarkeiten. Wie bei allen feierlichen Gelegenheiten, so werden auch bei der Hochzeitsgratulation ausgesuchte Höflichkeiten ausgetauscht. Diese bestehen darin, daß man sich verbeugt und gegenseitig (wie beim Gruße überhaupt) die Zunge herausstreckt (Abb. 283). So sonderbar uns diese Sitte anmutet, ist sie doch die vornehmste aller Höflichkeitsformen.
Phot. L. A. Waddell.
Abb. 283. Eine Begrüßung in Tibet.
Der Tibeter nimmt beim Grüßen zuerst den Hut ab, biegt dann das linke Ohr nach vorn und reckt die Zunge heraus. Dies wird als die vornehmste Art des Grüßens betrachtet.
Eine in Tibet weit bis in die neuere Zeit hinein verbreitete Sitte war die Polyandrie oder Vielmännerei; heutigentags ist sie bereits im Aussterben begriffen. Hiernach gehört eine Frau gemeinsam allen Brüdern einer Familie (Abb. 284); der älteste heiratet sie. Wenn einer der jüngeren Brüder seine ehelichen Pflichten ausüben will, verläßt der älteste das Haus und geht für gewöhnlich auf Reisen; zum Zeichen dessen hängt der augenblickliche Gatte seine Schuhe, seinen Gürtel und seine Beinkleider vor der Tür des Hauses auf. Die Polyandrie der Tibetaner scheint im wesentlichen ein Ausfluß des Gesetzes der Erstgeburt zu sein, das in Tibet besteht. Diesem zufolge wird der älteste Sohn, sobald er sich verheiratet, der alleinige Besitzer aller Ländereien, Sklaven, des Hauses und sonstigen Zubehörs seiner Eltern; diese werden auf das Altenteil gesetzt, die jüngeren Brüder von dem ältesten unterhalten. Daher wird die gemeinsame Frau offiziell nur die des ältesten, und etwaige Kinder gelten nur als die seinigen.
Aus: Ploß-Renz, Das Kind.
Abb. 284. Polyandrische Ladakhfamilie.
Wird ein Tibeter krank, dann nimmt man an, daß ein böser Geist von ihm Besitz ergriffen habe, und holt einen Lama herbei, um diesen auszutreiben. Erweist sich dessen Kunst als unzulänglich, dann macht man sich mit dem Gedanken vertraut, daß der Kranke sterben muß, und läßt ihn im Stich. Ist der Tod eingetreten, dann darf niemand den Körper berühren, bevor nicht der Priester mit seiner Seele fertig geworden ist. Er wird sofort gerufen, denn es besteht der Aberglaube, daß die Seele des Verstorbenen mindestens noch vier Tage lang in dem toten Körper weile und nur von einem erfahrenen Priester hinausgeleitet werden könne, der deswegen auch der „Seelenbeförderer“ heißt. Bei seiner Ankunft verweist der Priester alle Menschen aus dem Sterbezimmer, schließt Fenster und Türen zu und setzt sich zu Häupten der Leiche nieder. Er ermuntert die Seele, den toten Körper nunmehr zu verlassen, und reißt, um ihr einen Weg zu bahnen, dem Toten ein paar Kopfhaare aus, in dem Glauben, daß durch die Poren der Haarwurzeln die Seele nun einen Ausgang finde. Er ermahnt sie dann weiter, die Gefahren, die ihr auf dem Wege zum Paradies drohen, zu meiden, und wünscht ihr gute Reise. Die ganze Zeremonie dauert ungefähr eine Stunde; der Lama erhält dafür einen ungewöhnlich großen Lohn an Geld und anderen Geschenken, dessen Höhe von der Hinterlassenschaft des Verblichenen abhängt; bei ganz reichen Leuten kann diese Gebühr beinahe die Hälfte des Nachlasses ausmachen. Sobald der Priester erklärt hat, daß die Seele von dem Toten gegangen sei, darf letzterer berührt werden. Die Männer, die die weiteren Handlungen mit ihm vornehmen, müssen unter dem gleichen Planeten wie der Verstorbene geboren sein; sie werden mit einem Tabu belegt. Durch Horoskop wird der geeignetste Tag für das Begräbnis und für die Gebete, die für die Sicherheit der Überlebenden vorgeschrieben sind, festgestellt. Der Tote wird, mit Stricken in Hockerstellung gebunden, in einen Sack aus rohem Fell oder in eine viereckige Kiste gesteckt und in einer Ecke des Zimmers oder in einem unbenutzten Raum hingestellt. Abwechselnd halten Priester Tag und Nacht Wache neben der Leiche; sie lesen Gebete vor und murmeln heilige Sprüche, so lange, bis der Tote aus dem Hause gebracht wird. Um ihn herum brennen Kerzen, von acht bis einhundertundacht an der Zahl, und die Verwandten, die sich im Nebenraum aufhalten, bringen ihm Speise und Trank auf niederen Tischen dar. Vor dem Begräbnis essen und trinken auch die Angehörigen im Hause; sobald aber der Tote aus ihm entfernt worden ist, genießt keiner darin einen Monat lang etwas von einer Speise oder einem Getränk, aus Furcht vor dem bösen Geist. Unter Umständen, so bei rauher Witterung, namentlich im Winter, bleibt der Tote wochen- und selbst monatelang unbeerdigt, bis sich eine günstige Gelegenheit dazu bietet, die aber immer erst von dem Astrologen vorausgesagt werden muß. Die Priester (Abb. 286) gehen im Leichenzuge voran, sie singen Zauberformeln aus indischen Schriften, andere stimmen unheimliche Totenlieder auf Hörnern an, die von Trommelschlag und Handglockengeläut begleitet werden (Abb. 285). Hierauf folgen die Verwandten — ist der Hauptleidtragende eine Frau, dann begleitet sie den Zug nicht — und zuletzt der Sarg, den ein Hauptpriester an einer langen seidenen Schärpe (wohl dem „Seelenbanner“ der Chinesen entsprechend) unter Anschlagen einer Schädeltrommel (Abb. 287) führt. Menschenknochen wird bei Andachtsübungen eine große Bedeutung beigelegt; so finden Schalen aus Menschenschädeln als Becher (Abb. 288 und 289) bei Altaropfern Anwendung, Trommeln aus ebensolchen und Trompeten aus Oberschenkelknochen (Abb. 290) dienen bei der Teufelbeschwörung, Fingerknochen zu Rosenkränzen und so weiter.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 285. Begräbnisszene der Tibeter.
Auf der einen Seite der Leiche stehen drei Laien, die auf Hörnern ein Trauerlied blasen und eine große Trommel schlagen, auf der anderen fünf Priester, von denen vier auf Handtrommeln aus menschlichen Schädeln trommeln, während der fünfte eine Art Totenmesse liest.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 286. Leichenzug der Tibeter.
Die Priester gehen vor der Leiche her, die, in ein Bündel verpackt, von einem durch den Astrologen dazu bestimmten Mann auf den Schultern getragen wird; sie singen dabei Bittgesänge und spielen Klagelieder auf Trompeten, Hörnern und Trommeln.
Ein Begraben gibt es in Tibet nicht. Die Leichen der großen Lama und anderer hoher Priester werden einbalsamiert und in vergoldeten Grabmälern, den sogenannten Chorten oder Stupen aufbewahrt, die sterblichen Reste der wohlhabenderen Priester werden manchmal auch eingeäschert und ihre Aschenteile mit Lehm zusammen zu kleinen Medaillons geformt, die man in Nischen in diesen Chorten unterbringt, oder sie werden in den schon beschriebenen Amulettkästchen als Zaubermittel getragen.
Abb. 287. Handtrommel eines tibetischen Priesters,
die aus zwei menschlichen Hirnschalen hergestellt ist.
Die übliche Art, sich der Toten zu entledigen, besteht darin, daß man das Fleisch von den Knochen schneidet und es den Hunden oder Geiern zum Fraße vorwirft (Abb. 292), eine Unsitte, die gewiß ein uralter Brauch ist und auch noch von den Parsen geübt wird. Von den Geiern verzehrt zu werden, wird besonders hoch eingeschätzt; die Wärter, die sich bemühen, andere aasfressende Tiere fernzuhalten, werden noch besonders dafür belohnt. Die Knochen des seines Fleisches beraubten Toten können wohl begraben werden, aber jede Familie, die es nur ermöglichen kann, läßt die Gebeine ihres lieben Angehörigen zerstoßen und in die Luft als Fraß für die Geier werfen; man hat für dieses Verfahren die schönklingende Bezeichnung „himmlische Erledigung der irdischen Reste“ erfunden. Die Leichen von armen Leuten, Verbrechern oder solchen, die durch einen Unfall ums Leben kamen, sowie von Aussätzigen und manchmal auch von kinderlosen Ehefrauen werden wie tote Tiere an einem Seil an Flüssen oder Seen geschleppt und hineingeworfen.
Die Trauer um Verwandte dauert gewöhnlich drei Monate, aber ein Jahr lang werden noch keine farbigen Kleider und kein Schmuck getragen. Die Jungen werden mehr als die Alten beklagt. Buddhistenpriester werden in häufig wiederkehrenden Zwischenräumen gerufen, um durch Messelesen für den Frieden der Seele des Verstorbenen zu beten und ihr den Weg durch ein Zwischenstadium, eine Art Fegefeuer, zum „Paradies des Westens“ zu verschaffen.
Die Mongolei und Ostturkistan. Die Bevölkerung der Mongolei besteht ausschließlich aus umherziehenden Mongolen; nur in ein paar Städten, wie in der Hauptstadt Urga, und in einigen wenigen Handelszentren haben die Bewohner eine halb städtische Lebensweise angenommen. Die Wohnstätte dieser Nomaden ist die Jurte, ein hölzernes Gestell mit Filzbelag. Dem Eingang gegenüber findet man immer den Heiligenschrein, ein kleines Schränkchen oder eine Schatulle mit dem Götterbildnis oder wenigstens seiner Abbildung auf Papier oder Gewebe, vor dem in einigen Schalen Wasser, Getreidekörner, Käse, Rahm und so weiter dargebracht werden. Zur rechten Seite des Heiligenschreins steht ein breites, niederes Bett mit einer Filzmatratze. Der übrige Haushalt besteht in Lederschläuchen, deren Inhalt Kumys, Sauermilch und Butter bilden, sowie in hölzernen Kasten zur Aufbewahrung des Wirtschaftsgerätes. In der Mitte der Jurte findet sich der Herd, auf dem das Feuer mit Mist unterhalten wird. Dieselbe Hütte dient allen möglichen Zwecken; sie ist zugleich Schlafzimmer, Küche, Eßzimmer und Besuchsalon, selbst Viehstall, denn im Winter wird das Kleinvieh in ihr untergebracht. Infolgedessen herrscht hier eine recht unbehagliche Atmosphäre, in der der Aufenthalt noch schrecklicher durch das in Unmasse herumwimmelnde Ungeziefer, im besonderen Flöhe und Läuse, wird. Um diesem zu entgehen, greifen die Mongolen des Nachts zu folgendem angeblich erprobten Mittel. Alle, Männer und Frauen, legen sich nackend auf Schafpelze oder wollige Felle und decken sich mit diesen auch zu. Läuse besitzen sie in ihren Unterkleidern, die sie niemals wechseln oder waschen, sondern so lange tragen, bis sie ihnen buchstäblich vom Leibe fallen, in solcher Masse, daß sie, wenn sie diese Tiere mit Holzstücken vom Leibe geschabt haben, auf diese Weise ganze Haufen erhalten, die ins Feuer geworfen oder nicht selten auch mit viel Behagen verzehrt werden.
Abb. 288.
Mit Erl. d. Smithsonian Instit.
Abb. 289.
Ein aus einer menschlichen Hirnschale hergestellter Opferbecher.
Die Kleidung ist die bei den Mongolen übliche, deren wir bereits oben gedachten; beide Geschlechter kleiden sich im allgemeinen gleich, nur binden die Frauen keinen Gürtel um die Hüften, sondern knöpfen das Obergewand zu. Außerdem haben die Ärmel an den Frauengewändern die Form eines in die Länge gezogenen Ballons: sie sind bauschig und werden vom Ellenbogen an enger (Abbild. 293 und 294).
Abb. 290. Trompeten aus menschlichen Röhrenknochen.
Sie werden gebraucht, um die Dämonen herbeizurufen oder auch auszutreiben.
Der Lama rasiert sich den Kopf; die Laien haben nur einen Teil des Kopfes rasiert und tragen im übrigen einen kurzen Zopf. Die Frauen teilen ihre Haare in zwei Büschel, schmieren sie mit Leim ein und lassen sie in Form von zwei flachen, bandartigen Locken auf die Brust und bis auf die Taille herabhängen. In den Ohren tragen sie massiven Schmuck mit mannigfachen Anhängern, an den Armen und Händen Armbänder und Ringe und am Halse Korallen und Glasperlen. Mit diesem Schmuck wird geradezu Verschwendung getrieben, denn man trifft sogar bei Frauen aus ärmeren Klassen solchen im Werte von sechshundert bis achthundert Mark an; die Familien pflegen ihre ganzen Ersparnisse beiseite zu legen, nur um einen kostbaren Schmuck zu ermöglichen. Die Kopfbedeckung ist bei Männern und Frauen die gleiche: eine konische Mütze mit breitem, aufwärts gebogenem Rande, der außen mit Fellbesatz oder Plüsch (Abb. 291) eingefaßt ist; hinten fallen von dieser Mütze zwei karmoisinrote ungefähr fünfundvierzig Zentimeter lange Bänder herab.
Phot. G. C. Binstead.
Abb. 291. Unverheiratetes mongolisches Mädchen,
deren Tracht sich von der der Verheirateten durch die Haarfrisur (ein Schwänzchen an Stelle der mächtigen Haartuffen) unterscheidet.
Die Mongolen sind im allgemeinen gutmütige, freundliche und gastfreie Leute, gleichzeitig aber leicht aufbrausend, starrköpfig und träge. Sie begrüßen sich auf eine eigenartige Weise: der eine streckt beim Begegnen die Arme vor, der andere tut das gleiche, hält dabei aber seine Arme unter die seines Gegenübers. Bevor man in ein Zelt tritt, muß man sein Pferd in einiger Entfernung draußen lassen, Stöcke und Peitschen ablegen; als Grund hierfür gibt man an: „Stöcke und Peitschen sind gut für wilde Hunde; brächtest du sie herein, dann würdest du uns auch wie Hunde behandeln.“ Beim Eintritt muß man sich links zwischen Eingang und Hintergrund der Jurte niederlassen, sofern man nicht die Aufforderung erhält, „höher hinaufzurücken“, das heißt, weiter nach dem Inneren zu kommen. Den Hut behält man auf dem Kopfe oder legt ihn ab, aber nie in der Richtung der Türe. Kann man nicht mit gekreuzten Beinen sitzen, so muß man seine Füße nach der Türe hin ausstrecken. Man reicht dem Wirt und seinen Angehörigen die Schnupftabaksdose, und diese reichen umgekehrt die ihrige hin. Es ist nicht bloße Formsache, daß dem Gaste Tee dargereicht wird, sondern die gute Sitte verlangt, daß er auch tüchtig davon trinkt und sich immer wieder einschenken läßt.
Zu den bereits an anderer Stelle erwähnten Nahrungsmitteln der Mongolen kommt für dieses Gebiet noch das Fleisch von Murmeltieren hinzu, das besonders von den ärmeren Volksschichten verzehrt wird. Die Zubereitungsweise dieser Tiere ist eine eigenartige und erinnert an die tiefstehender Völker. Nach Abziehen des Felles und Entfernung der Eingeweide wird das Innere des Tieres mit glühenden Steinen ausgefüllt, das Ganze in eine flache Grube in die Erde gelegt und vollständig mit Erde zugeschüttet; über der Stelle wird ein Feuer so lange unterhalten, bis das Fleisch gar geworden ist.
Die Hauptbeschäftigung der Mongolen und zugleich die wichtigste Quelle ihres Reichtums ist die Viehzucht (Rinder, Schafe, Pferde, Kamele, Ziegen, weniger Schweine). Mit Ackerbau geben sie sich nur in beschränktem Maße ab. Zum Teil sind sie auch Jäger (auf Murmeltiere, deren Felle sie russischen Händlern verkaufen). Die Industrie steht auf sehr niederer Stufe und beschränkt sich auf die Anfertigung von allerlei Silberschmuck, die Bearbeitung von Leder und die Gewinnung von Filz.
Phot. Captain F. M. Bailey.
Abb. 292. Aussetzung eines Verstorbenen in Tibet.
In Tibet pflegt man den Leichen auf den Friedhöfen das Fleisch von den Knochen zu schneiden und den Schweinen, Hunden und Geiern zum Fraß zu überlassen. Von den Geiern verzehrt zu werden, wird am höchsten eingeschätzt. Nur die Leichen der großen Lama werden einbalsamiert und in vergoldeten Grabdenkmälern beigesetzt.
Die Religion der Mongolen ist der Buddhismus, und zwar die besonders in Tibet übliche Form des Lamaismus (Abb. 296). Im allgemeinen sind sie sehr fromm. In jeder Jurte findet sich, wie schon angeführt, ein Altar zur Anbetung einer oder mehrerer lamaistischer Gottheiten; Gebetswimpel, die von den Stangen der Palisaden um die Hütte wehen, sollen Buddha ihre Bitten überbringen, und fast jeder zweite Mann, mindestens aber einer aus jeder Familie, wird ein Lama. Gebetsrad und Gebetsbrett sind überall anzutreffen. Unter letzterem versteht man ein Brett, auf das der Bittende sich wirft, wobei er mit dem Gesicht die Erde berührt und feierlich die Worte: „Om ma-ni pad-me hum“ ausruft. Aberglaube ist auch reichlich vertreten, und zwar in derselben Form wie in Tibet.
Phot. G. C. Binstead.
Abb. 293. Eine verheiratete Mongolin aus Urga mit ihrem Kinde.
Bemerkenswert an ihrer Tracht sind die beiden hörnerähnlichen, von der Stirn abstehenden Zöpfe, das kostbare Geschmeide, dessen Wert auf tausend bis zwölfhundert Mark geschätzt wird, und die großen ballonähnlichen Ärmel, die in der Farbe für gewöhnlich von der der übrigen Gewandung abweichen.
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GRÖSSERES BILD
Phot. G. C. Binstead.
Abb. 294. Wintertracht einer verheirateten Mongolin.
Der Geistlichkeit ist die Ehe verboten. Dafür aber sind fast ausnahmslos alle übrigen Mongolen verheiratet; Junggesellen gibt es daher so gut wie gar nicht. Bestimmte Verbotstage, an denen keine Ehe eingegangen werden darf, sind in der Mongolei nicht vorhanden, wohl aber bestimmte Jahre, in denen Eheschließung nicht erlaubt ist. Diese werden von den Astrologen in Peking festgelegt und durch die Lama bekanntgegeben. Die Heiraten bringen die Eltern zustande, Verlobungen finden bereits in früher Kindheit statt. Auf geschlechtliche Unschuld der Mädchen wird kein Wert gelegt, sie genießen in dieser Hinsicht vollkommene Freiheit. Oft vermitteln die Eltern vorehelichen Umgang ihrer Mädchen selbst, besonders wenn ihre Beihilfe durch Geschenke belohnt wird. Trotz dieser Freiheit der geschlechtlichen Beziehungen gilt der Verkehr des Schwiegervaters mit seiner Schwiegertochter für eine schwere Sünde; der Sohn, der seinen Vater auf frischer Tat ertappt, hat das Recht ihn zu ermorden oder Teilung des väterlichen Vermögens zu fordern. Auch die bereits von Marco Polo im dreizehnten Jahrhundert erwähnte Sitte der gastlichen Prostitution ist noch heute bekannt; ein Gast wird nicht nur mit Speise, Trank und Unterkunft, sondern auch mit einer Frau versorgt.
Phot. G. C. Binstead.
Abb. 295. Eine den Hunden und Geiern zum Fraße ausgesetzte menschliche Leiche.
Die Mitgift des Mädchens besteht in lebendem Inventar, Schafen, Ochsen und Pferden. Diese Ausstattung kann unter Umständen eine recht ansehnliche sein; sie verbleibt der Witwe als Erbteil. Die Ehe pflegt man frühzeitig zu schließen. Am Hochzeitstage geht der Bräutigam in das Haus seines Schwiegervaters, um zu opfern; dort bleibt er die ganze Nacht. Am nächsten Morgen geleitet er die verschleierte Braut in seine Hütte, vor der seine Eltern und die Gäste das Paar erwarten und es mit gekochtem Hammelfleisch bewirten. In der Hütte spricht ein Lama Zaubersprüche für das Wohlergehen der Brautleute aus und besprengt sie mit Weihwasser, worauf sich das Brautpaar in die elterliche Hütte des Bräutigams begibt und hier Butter als Opfergabe auf den Familienherd wirft. Den Abschluß des Festes bilden Gelage und Lustbarkeiten. Eine mutwillige Verstoßung der Frau ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. — Den Frauen wird ziemlich viel Arbeit aufgebürdet; sie haben nicht nur im Haushalte zu tun, wie Speisen zuzubereiten und die Kinder sowie die Herden zu hüten, sondern müssen auch Filze und Decken herstellen, die Kleidung nähen, die Zelte abbrechen und anderes mehr.
Wird ein Kind geboren, so ruft man einen Lama herbei, der Gebete spricht und die Mutter mit Weihwasser besprengt.
Sobald ein Mongole gestorben ist, wird der Lama ebenfalls herbeigeholt, und dieser bestimmt, wann er beigesetzt werden soll; dabei richtet er sich nach dem Geburtstage des Verstorbenen. Die Leiche wird darauf in einen alten Mantel gehüllt und eine Strecke weit von der Ortschaft oder dem Dorfe hinweggetragen, dort bleibt sie frei auf dem Erdboden liegen, der Gnade der Elemente und der Tiere überlassen (Abb. 295), und nur eine Gebetsfahne, auf der der Name des Verstorbenen geschrieben steht, bezeichnet seine Stätte. Nach der Beisetzung kehren alle in die Jurte zurück, schlachten und verzehren einen Hammel, womit die Feier zu Ende ist. Der Lama erhält das Pferd des Toten samt dem Geschirr, seinen Säbel und sämtliche Kleider. Wenn die Hunde mit ihrer Mahlzeit schnell aufräumen, dann gilt dies für ein gutes Omen, denn nach dem Glauben der Mongolen muß der Lebenswandel eines Toten um so heiliger gewesen sein, je schneller sein Leichnam von den Hunden aufgefressen wird. Wird dagegen die Leiche im Laufe einer Woche von keinem Hunde berührt, so gilt der Verstorbene für einen argen Sünder, dem man keine Totenfeier veranstaltet, während im entgegengesetzten Falle zum Andenken an den von den Hunden Verzehrten ein Schmaus zum besten gegeben wird, wobei sich die Teilnehmer am Hammelbraten, Branntwein und Tabak gütlich tun. — Die Geistlichen sowie vornehme und reiche Leute werden nicht den Hunden überlassen, sondern eingeäschert. Die Asche wird, besonders bei hochstehenden Personen, gesammelt, mit Tonerde vermengt zu einer menschlichen Figur mit untergeschlagenen Füßen geformt und an der Verbrennungsstätte aufgestellt. Diese Figuren stehen im Rufe der Heiligkeit.
Phot. G. C. Binstead.
Abb. 296. Das Verbrennen der Sünden zu Urga,
wie es die Lama eines jeden Klosters und Tempels in der letzten Woche des Buddhistenjahres (chinesischen alten Stils) mit großer Feierlichkeit vornehmen.
Phot. A. Kett.
Abb. 297. Samojeden auf einem Renntierschlitten.