16. Oktober

Es regnet, und man bringt das Frösteln nicht los. Als ich eben zu mir kam, lachten die Kameraden und sagten, ich habe zwölf Stunden geschlafen und schon zweimal das Essen versäumt. Einmal aber muß ich doch wach gewesen sein, vielleicht gestern abend. Wir fuhren gerade an Leipzig vorbei, und ich erstaunte, daß die Stadt so unversehrt unter dem Gewitterhimmel ruhte, daß nicht jedes Haus, jeder Turm zertrümmert war, eine sonderbare Täuschung des Fiebers.

Die Stunden werden lang; die andern spielen Karten und rauchen; ich habe einen Aufsatz über Atome und Elektronen nahezu auswendig gelernt, sodann im Notizbuch abgerissene Sätze gefunden, die ich in Briefen Glavinas gelesen und nie ganz vergessen hatte, so daß ich sie später leidlich getreu nachschreiben konnte. Nun suche ich den einen oder andern in meiner Sprache zu entwickeln, fürchte nur, daß dann etwas anderes daraus wird, daß der ursprüngliche Jugendklang verloren geht.

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„Es gab wilde Zeiten, da riß der Sieger dem erlegten Feinde das Herz aus der Brust und aß es auf, weil er dadurch die Tugenden und Kräfte des Toten zu erben hoffte. Zugegeben, daß dies ein kindisch-grausames Verfahren war; aber so völlig sinn- und ehrfurchtslos, wie es dem ersten Blick erscheinen mag, ist es doch nicht. Haß, ist er mit Liebe nicht aus einer Wurzel? Der Meister der Menschen, ernährt er nicht seit zweitausend Jahren mit seinem Herzen unzählige Seelen? Mir ist, als sei keiner von uns zu langem Leben berufen, – erkennen wir es doch! Opfern wir uns bewußt und freudig dem unbekannten Geiste der Zukunft, bevor uns ein armseliger Zufall ereilt und sinnlos zerfleischt!“

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„Durchsichtig-dichte Jahre der Kindheit! Wo man sich wunderte, weil in der Welt nur immer gerade so viel Wichtiges und Gefährliches geschah, daß die Zeitung davon genau voll wurde, nie mehr und nie weniger! Meistens, wenn die Blätter ins Haus kamen, teilten sich Vater und Mutter darein; gespannt und sorgenvoll blickten sie auf die bedruckten Seiten, es mußte ruhig im Zimmer sein, und ich durfte meine Angelegenheiten nicht zur Sprache bringen. Aber wie Sonnenfinsternis ging der ängstliche Zustand vorüber; verächtlich wurden die Papiere weggelegt, und alles Fremde war damit unschädlich gemacht und abgetan. Heute nacht nun hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war wieder Kind und ging während eines Gewitters über steinige Berge. Ein weißes Blatt hielt ich in Händen und wandte keinen Blick davon. Frage ich mich jetzt, was auf der weißen Fläche stand, so muß ich bekennen, daß sie ganz leer war, ohne Schrift, ohne Zeichen; dennoch las ich mit Entzücken darin. Tiefziehende Wolken besprühten das Blatt, Blitze loderten darüber hin, Himmel und Felsen ertönten, und schaurig aus der Ferne riefen die Geister der Toten. Ich aber las auf dem leeren Weiß unsagbar selige Begebenheiten und kümmerte mich nicht um Gewitter und Rufe der Toten.“

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„O Freund, ich selber würbe gern ein Heer zu wunderbarem, nie gewagtem Feldzug; aber es ist noch zu früh, der Feind, den wir überall spüren, hütet sich zu erscheinen, in keiner Sprache noch läßt sich die Parole ausgeben, und die ich wecken soll, die schlafen noch zu tief. Ists da unklug, wenn ich so, wie früher Königssöhne taten, einstweilen in einer anderen Armee diene, damit ich mich schon jetzt an kriegerisches Treiben gewöhne? Ja, suchen wir Gefahr und Mühsal, wie sie sich gerade bieten, so bereiten wir uns für höhere Mühsal, wahrere Gefahr. Mir ist wie einem Täter, der seine Tat noch nicht kennt. ‚Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!‘ Was ist es für eine Stimme, die mir dies Wort manchmal zuruft aus tiefem Schlaf?“

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