18. November

Kein Wunder, daß man viel schläft und viel träumt in dem Winterwaldzwielicht. Wehrt man sich dagegen, so wird es nur schlimmer. In Frankreich, vor dem Urlaub, als ich noch an ein sehr nahes Ende des Krieges glaubte, war aller Traum nur Träumerei; locker und sinnlos fand ich mich unter Frauen und Freunde verspielt, kein Traum wußte etwas vom andern. Seit aber von Frieden und Heimkehr nicht mehr die Rede ist, scheint nicht nur die Leuchtkraft aller Gesichte zu wachsen; es ist auch, als versteckten sie vor mir ein geheimes Ziel, dem sie mich auf Umwegen zuführen wollen. Zuweilen werden sie durch ein äußeres Ereignis von ihrer breiten Entwicklung abgedrängt und grob skizzenhaft beendet. Heute morgen schlug eine Granate vor dem Unterstand ein und weckte mich aus einem Traum, der seltsam deutlich blieb, weil er, wie ein jäh aufgedeckter Maulwurf, keine Zeit mehr fand, sich zu verschlüpfen. Ich war nachts einmal aufgewacht und hatte bemerkt, daß der Unterstand von Mäusen bewohnt ist. Sie huschten über das Tischchen, knabberten am Brot und streiften einige Male so kunstreich an den geschliffenen Gläsern der Ungarn hin, daß es eine gar liebliche Folge heller Klänge gab. Dadurch war das Widerliche des Getiers auf einmal aufgehoben, etwas geisterlich Koboldisches lag in der Luft, und vor einem ganzen Theater lustigster Mäusemetamorphosen schlief ich ein. Immer mehr entfärbten sich dabei die Tiere; schließlich waren sie alle glänzend weiß und liefen auf einer grünen Fläche hin und her. Als ich sie aber näher betrachten wollte, stand ich am Billardtisch eines dunstigen Kaffeehauses, wo ein unsichtbares Orchester fernher dudelte, und statt der Mäuse sah ich weiße Kugeln auf dem grünen Tuche laufen. Einziger Spieler am Billard war jener Rumäne, dem wir auf dem Berge das Morphium eingespritzt haben. Mit wiegendem Tänzerschritt umkreiste er den Tisch und hielt mit leisen deutenden Bewegungen seines Stabes die weißen Bälle in Lauf, ohne sie zu berühren. Diese wurden immer glänzender; wie Kreisel summend, mit sphärischer Sicherheit rollten sie hin und her auf dem grünen Stoff; keiner störte den andern, und wenn sie von einem Rande zurückschnellten, verstärkten sie Geschwindigkeit und Licht. Eigentlich glichen sie einander genau; doch dünkte mich bald einer besonders herrlich, ja, ich fühlte mein ganzes Schicksal an ihn gebunden, – wenn er stillstand oder mit einem anderen zusammenstieß, mußte grenzenloses Unheil geschehen. In einiger Entfernung ging Regina als Scheuermädchen von Tisch zu Tisch, las Zigarrenstummel und zerbrochene Gläser auf und warf sie in einen Kehrichteimer, den sie mühsam daherschleppte. Plötzlich stand sie bei mir und flüsterte: „Weißt du’s schon? Eben bin ich deinem Schatten begegnet.“ Dann trat sie an das Billard, ergriff gelassen meine wunderbare Kugel, warf sie zu dem übrigen Kehricht und setzte den Deckel auf den Eimer. Der Rumäne, der nun auf einmal Glavina glich, spielte weiter; seine Augenhöhlen waren voll Schnee, er schien nichts zu vermissen. Ich aber hob die Hand und schlug Regina auf die Stirne, da schlief sie stehend mit unbeschreiblich seligem Lächeln ein. Der Ball jedoch gab im Eimer keine Ruhe; man hörte ihn mit immer höherem Tone weiter kreiseln und mitunter pfeifen, wie Mäuse pfeifen. Dabei wurde der Boden unruhig; ich hatte Mühe, mich aufrechtzuhalten. Alles schwankte; Regina, die schlaferstarrte, noch immer lächelnd, neigte sich wie eine Bildsäule, übermenschlich groß, zu mir herüber, wie um mich zu erschlagen. Und das war die Sekunde, wo draußen mit heulendem Knall das Geschoß zersprang! Ich stand im Nu auf den Beinen. Ein langhallender Schrei erscholl, der plötzlich abbrach, als hätte er die Stimmbänder des Schreienden zerrissen. Raab, Rehm und einige Verwundete rannten zur Tür; andere, schutzsuchend, drängten von außen herein. Neben dem Trichter lag ein ungarischer Soldat, bereits tot. Sonst ist niemand verletzt. Die Granate muß ein Irrgänger gewesen sein; keine weitere ist nachgefolgt.

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Infanterist Pirkl, nachdem er nun zwei Tage lang ohne Bewußtsein im Verbandraum gelegen, bekam heute, nach der zehnten Digipuratum-Einspritzung, einen kräftigen Puls, begann auch wieder tief zu atmen. Völlig zu sich gekommen trank er einen halben Feldkessel Tee und aß Konservenfleisch. In seinem eignen Kote liegend, fühlte er sich höchst unbehaglich, stand alsbald auf und ging ins Freie, sich zu reinigen, wobei er plötzlich das Kreuz zu sehen bekam, das sein Bruder für ihn geschnitzt hat. Aufmerksam las er darauf seinen Namen, sah dann ins offene Grab hinein und rieb sich lange die Augen. Auf einmal fing er so herzlich zu lachen an, daß der Verband, der locker geworden war, wie eine Haube hinten hinabfiel. Dabei schnippte er mit den Fingern, wie einer, der einem Mordsspaß auf die Spur gekommen ist, und setzte lachend seinen Weg fort. Ohne Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen ist seine Verwundung kaum erklärbar. Die Kugel ist augenscheinlich gar nicht in den Schädel selbst eingedrungen, sondern hat nur die Halswirbelsäule, dicht unter dem kleinen Hirn, verletzt.

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