20. Oktober

Heut ist Ruhetag, und endlich führten wir die Typhusimpfung durch, die schon seit August fällig ist. Zwei große Schulzimmer waren uns überlassen. Um Raum zu gewinnen, hatte man die Bänke übereinandergestellt. Auf dem Katheder lagen noch spanisches Röhrchen und Kreide; an der Wand hingen Tafeln mit Abbildungen von Pflanzen, Tieren und allen Menschenrassen der Erde. Mir war ein wenig bang vor dieser Impfung, und gern hätte ich sie noch einmal verschoben. Denn wieder sind die neuen Kanülen, die vielmals angeforderten, nicht eingetroffen; die alten aber haben bereits arge Widerhäkchen an den Spitzen, wodurch der Einstich und das Herausziehen sehr schmerzhaft werden. Aber es gab kein Verzögern, und so half ich mir denn, wie ich konnte, und verfiel schließlich darauf, ein bißchen Theater zu machen, um die Aufmerksamkeit der Mißhandelten abzulenken. Zuerst entkleidete ich mich selbst und versetzte mir vor der harrenden Mannschaft den bösen Stich, wobei meine Mienen, glaube ich, in guter Ordnung blieben. Dann kamen Dehm und Raab daran; sie waren wohl belehrt und hüteten sich, zu zucken. Später nahm ich die Bildertafel mit den vielen wilden Völkern zum Anlaß und gab, indessen ich die Haut der armen Burschen zerschund, manches zum besten, was ich dereinst über Indianer und Malaien gelesen. Sonderbarer Sitten der wilden Timmes wurde gedacht, die den Genossen, den sie zum König wählen wollen, am Tage vor der Krönung fast zu Tode prügeln, so daß er zuweilen seine Thronbesteigung nur kurze Zeit überlebt, auch die Fidschi-Inseln nicht vergessen, wo liebreiche Kinder unter vielen Tränen ihren Vater lebendig begraben, festen Glaubens, daß er dann jenseits in aller Kraft und Herrlichkeit des Todestages ewig weiterleben werde. Die guten Soldaten lauschten aufmerksam und schienen über jenen ungeheuerlichen Grausamkeiten die kleinen wespigen Einspritzungen wirklich leicht zu verschmerzen. Als alle Kompagnien schon abgerückt waren, kam auch noch der Herr Oberst, um sich impfen zu lassen, fuhr aber dabei so heftig zusammen, daß die Nadel schier zerbrach und äußerte sich gar ungnädig. Den Mannschaften gegenüber war er freilich sehr im Nachteil, da ich ihn leider ehrerbietig-schweigsam verletzen mußte, ihm schicklicherweise weder Gebräuche der Wilden noch sonst etwas erzählen konnte.

Die Stunde vor dem Abendessen verschlief ich. Das Impfgift wirkte wie immer, ich träumte viel. Mir war, als lägen Jahre des Wachens, Denkens, nach innen Gerichtetseins hinter mir. Nun aber saßen wir im Kreis um einen französischen Kamin, Vally, Stefanie, klein Wilhelm, die Freunde, etwas abseits Regina. Wir froren und streckten die Hände zum Feuer. Regina trug ihr schwarzes Zöglingskleid mit rotem Gürtelband. Ihre Hand war verbunden, aber auch alle anderen trugen Verbände. Wilhelm hatte eine schwarze Binde über einem Auge. Doch waren wir guter Dinge und plauderten viel von unserm früheren Leben. Auf einmal sagte Regina: Die Männer sind schlecht. Sie fürchten sich vor mir und laufen nach Frankreich zum bösen Feind. Da lachten die anderen hellauf; aber indem sie lachten, wurden sie sehr unruhig und ganz durchsichtig; schließlich verzog sich eines nach dem andern in den Kamin hinein und entschwand mit den Flammen.

Als ich erwachte, war eben die Feldpost gekommen, und vor dem klaren Klang des Lebens zerstob aller Trug der Träume. Auch Wilhelm hat ein paar Zeilen angefügt; es mag ihm sauer geworden sein. „Ein Urlauber“, schreibt er, „hat uns verraten, daß du nach Siebenbürgen kommst. Das freut mich. Dort gibt es Gold in den Bergen und Flüssen. Der Oskar Appel hat es in der Erdkunde gelernt. Nimm so viel du tragen kannst und bring es mir mit! Ich kann es gut brauchen.“ Der Brief war einem schönen silbergrauen Umhang mit breitem, dunkelblauem Kragen angeheftet, den mehrere unserer Offiziere, die ihn später sahen, mit Entrüstung als vorschriftswidrig bezeichneten. Höchstens Generale der Artillerie dürften einen so breiten Kragen haben, auf der Stelle müsse ich ihn von einem Kompagnieschneider abändern lassen. Der Major aber sagte lachend, für die Ärzte des Landsturms gebe es keine eindeutigen Vorschriften, ich solle mir das Zeug ruhig umhängen, es könne mir nur zum Vorteil gedeihen.

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