Szentlélek, 21. Oktober 1916

Ehe wir Parájd, beim ersten Zwielicht, verließen, konsultierte mich der Major. Sein Hüftnerv ist entzündet; er hat Fieber und kann sich vor Schmerz kaum auf dem Pferde halten, will aber seinen Posten nicht aufgeben und daher das Lazarett vermeiden. Schließlich gab er mir in Scherz und Ernst den dienstlichen Befehl, ihn abends zu besuchen und bis zum andern Morgen zu heilen. Mir fiel ein, daß noch die starken Maretin-Laudanon-Pulver in der Brieftasche stecken mußten, doch erwähnte ich nichts davon.

Das Ding will bedacht sein. Der kleine alte Herr ist unbequem, quälerisch, aufsässig; aber er ist es nicht nur nach unten, sondern mehr noch nach oben, ein seltener Fall in der Armee. Niemals läßt ers um sich herum gemütlich werden – aber sind wir denn hier, um es gemütlich zu haben? Er weiß Nüchternheit und Mäßigkeit zu erzwingen, – soll ich leugnen, daß ich mich gesund und frei dabei fühle? Und einer, der uns öfters reizt und beizt, entwickelt er uns nicht am Ende kräftiger als einer, der uns freundlich gehen läßt? Nein, der kleine graue Dämon gehört schon einmal zu uns und unserm Schicksal, – vielleicht helfen die Pülverchen, er soll sie haben!

Langsam stiegen wir die Straße nach Szentlélek hinan, die ein heißer Wind schnell auftrocknete. Der Himmel sah seltsam aus; mein früher Traum, als ob jede Stadt, jede Landschaft an der Formung ihrer Gewölke mitwirke, meldete sich wieder. Ich sah lichtweiße schwarzgekernte Bälle, dazwischen Meeresbrandungen mit abgesprühtem Schaum, dahinter eine graue Bank, besetzt mit spitzen silbernen Bäumchen. Bald wurden wir inne, daß wir uns durch eine der salzreichsten Gegenden Europas bewegen; rein und weiß tritt hier und da der Salzstein aus dem grauen Mergel. Mancher bricht in der Marschpause ein Stückchen ab, wägt es betrachtend und steckt es wie einen Edelstein in den Tornister.

In den Dörfern sind alle Häuser mit gleichem stumpfem Blau getüncht; um jedes läuft eine Galerie mit schlanken hölzernen Säulen, die das vierflächige steile Walmdach tragen helfen. Die Grate, mit vielen schrägen Zacken besetzt, sehen wie gestreckte Wirbelsäulen aus. Alte Leute, traurig und freundlich, standen vor den Türen; einmal drängten sich schwarzäugige Madjarinnen heran und berichteten schreiend schauerliche Untaten der Rumänen, worauf blonde deutsche Frauen, die seit ihrer Kindheit im Dorfe wohnen, besonnen-still, sichtlich auf Gerechtigkeit bedacht, jene überschweren Anklagen auf ihr Maß zurückführten.

Gegen zwölf Uhr gelangten wir vor das große Dorf Szentlélek, rückten aber nicht ein, sondern lagerten samt großer und kleiner Bagage auf einem heckenumflochtenen Anger, wo sogleich die Feldküchen geheizt wurden. Kirchengänger, von der Sonntagsmesse heimkehrend, ungeheure Gebetbücher im Arm, näherten sich auf allen Wegen, die Männer zögernd, die Frauen mit lüftigem, zuversichtlichem Schritt. Unter vielen Worten machten diese verheißende Zeichen und liefen auf einmal alle in die Häuser, von wo sie bald mit Körben voll Obst und Eimern voll Milch zurückkehrten. Das Dorf hat noch vor drei Tagen unter dem rumänischen Einbruch zu leiden gehabt; nun freut es sich über den Vormarsch der Deutschen und erschöpft sich in Gebelust. Milch schäumt in alle Feldbecher, und mit goldensten Parmänen füllen sich die Taschen. Langsam kommen auch Männer herbei, voran der uralte Pfarrer. Ihm haben die Eindringlinge, da sie deutsche Bücher in seiner Stube fanden, zur Strafe den ganzen Meßwein und obendrein die goldene Brille weggenommen. Während er dies in leidlichem Deutsch mit gelassenem Humor erzählt, packt Leutnant N. seine lange gesparte Flasche Burgunder aus; der Greis nimmt das Geschenk als ein der Kirche dargebrachtes ohne Zögern an und verspricht seine nächste Messe für den Spender zu lesen. Die übrigen Männer treibt eine Hoffnung, Tabak zu erhalten, immer näher. Seltsame Tauschgeschäfte kommen zustande. Für drei Zigaretten erhält ein Soldat ein Dutzend Eier, ein anderer für zwei Päckchen Knaster eine fette Gans. Mich aber suchten die Kranken des Dorfes; der Sanitätswagen wird erschlossen, Verbandstoff und Arzneien freigebig verspendet, bis Raab erschrocken gemahnt, daß uns im Gebirge niemand ersetzen wird, was wir hier unbedacht hingeben. Indessen hat uns die Regimentsmusik eingeholt; sie stellt sich in der Angermitte auf, spielt madjarische Lieder. Die Kranken vergessen ihre Übel, Soldaten und Mädchen tanzen, die Stunde wird zum Fest.

Um drei Uhr war es Zeit, das Dorf zu besetzen, damit uns nicht nachrückende Bataillone die Quartiere wegnähmen. Mir ist eine balkengedeckte Stube in einem alten Bauernhause zugewiesen. Es ist sehr dumpf und düster innen, die Fenster klein, das Lager hart, schmal. Von Bewohnern hab ich bisher nur den Bauer gesehen, einen kränklich und grämlich aussehenden Mann, der uns aus dem Wege geht. Um die besonnte Galerie draußen ist ein singendes Geschwebe winziger Holzwespen; die haben Säulen und Geländer tausendfach durchlöchert und schlüpfen unermüdlich ein und aus. Morsch, einsinkend ist alles, um so wundersamer das ganz neue, reichgeschmückte Hoftor. Es hat hohe, breite Flügel mit zierlichen Gittern und schön geschnitzten und bemalten Flächen. Gewinde von Tieren und Pflanzen umkränzen beiderseits einen blauen Leuchter mit gelbrot brennender Kerze, zu der sich eine grüne Schlange hinaufringelt. Oben auf den Torpfosten ruht ein langes niedriges Gehäuse, eine Art Arche, bemalt mit roten Täubchen, zwischen denen durch runde Luken wirkliche Tauben verkehren. Sah denn das Tor dem ersten Blick so fremd und gestohlen aus, als wärs von einem großen Gutshofe herverschleppt worden, so merkt man bei längerem Vergleichen doch, daß es aus dem alten Hauswesen hervorgewachsen ist. Ein sonderbarer Einfall war es freilich, statt beim Hause beim Tor zu beginnen; immerhin errät man, wie das Ganze werden soll. Der Krieg hat auch dieses Wachstum unterbrochen, und vielleicht ist nur darum der Bauer so gedrückt und scheu, weil er seinen Hof nicht erneuern kann und sich dabei verkümmern fühlt. „Wer baut, erbaut sich selber“, – es gilt das alte heilige Wort.

*

Nach dem Revierdienst zum Kommandeur befohlen. Er lag in einem breiten Bett, mit Schafpelzen bedeckt, vom Fieber geschüttelt. Sehr ungehalten zeigte er sich, als ich ihm Arznei geben wollte.

„Was soll mir das Gift?“ rief er. „Gibt es etwas Frevelhafteres, als daß man chemische Substanzen in das Blut bringt?“

Ich entgegnete, daß wir doch selbst aus lauter chemischen Zusammensetzungen bestünden, die nur zuweilen unrichtig ineinandergriffen, und dann müßte eine neue eingeführt werden, welche die falschen Verbindungen löste. Als er noch zögerte, erinnerte ich ihn daran, daß erkrankte Tiere sich öfters Kräuter und Blätter suchten, die sie sonst niemals fräßen, und rasch davon gesund würden. Dies ließ er gelten und nahm nun das Pulver fast gierig.

Den Abend verbrachte ich mit Offizieren in meinem Quartier. Eine der Patientinnen vom Vormittag hat zwei Enten geschickt, die ließen wir braten und tranken Apfelmost dazu. Die frohe Stunde auf dem Anger klingt noch in allen; viele glauben, es werde sehr bald Friede geschlossen werden. Einer erwartet vom deutschen, ein anderer vom russischen Kaiser, ein dritter von Wilson das weltbefreiende Wort. Mancher dieser lieben Menschen spürt im innersten Herzen vielleicht schon den nahen Tod und sieht nun in wunderbarer Verwechslung das Ende des Krieges gekommen.

Immer um uns herum ging indessen die Hausfrau, ein nicht mehr junges Weib, derbe Gestalt, welche sich aber im schönsten Maße bewegt, hellgraue Augen, darunter breite braune, leicht geschwollene Schatten, die von feinen blauen Venen umlaufen sind, schwarzes Kopftuch, unter dem rauhes rotes Haar hervorsieht. Sie kostet von Most und Speisen, bringt Äpfel und Pflaumen dafür und lehrt uns madjarische und rumänische Worte. Mich hatte sie zuerst für den Feldgeistlichen gehalten und mit großer Scheu behandelt; nun sie weiß, daß ich ein ungesalbter Mann bin wie die andern, wird sie sehr zutraulich und sucht mich als ihren Wohngast und Ältesten der Tafelrunde zu ehren, indem sie oft nach meinen Wünschen fragt und mich dabei jedesmal auf zeremoniöse Weise halb umarmt, ein Benehmen, das am Tische viel Gelächter hervorruft; aber darum kümmert sie sich nicht. Zuweilen spricht sie mit sich selber, in anmutigem Wahnsinn scheint ihr Wesen zu kreisen. Von Zeit zu Zeit ging sie in die Wohnstube hinüber, wo ihr Mann finster, unteilnehmend am Herde saß, gab ihm Zigaretten, die wir ihr geschenkt hatten, und redete ihm, wie mir vorkam, begütigend zu. Zuletzt, wie ein Kind, brachte sie Schachteln mit Karten, Briefen und Heiligenbildchen zum Betrachten. Wie sehr erstaunte ich, darunter ein Blättchen mit der Skizze jener am Hoftor ausgeführten Zeichnung zu finden! Hier, wo sich das Ornament als ein erst entstehendes zeigte, regte es die Einbildung stärker an: ich konnte es nicht lassen, mußte ein Meldeblatt nehmen und nachzuzeichnen versuchen. Dabei wurde, wie stets in solchen Fällen, etwas anderes daraus. Ein stattliches siebenbürgisches Haus im Hintergrund anzugeben, gelang einigermaßen; vorn am Tor aber hat die Schlange den Flammenkern von der Kerze gebissen und trägt ihn zwischen den Zähnen fort. Darunter schrieb ich den Satz, den ich einst bei Glavina gelesen: Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange! Die Kameraden lachten, sie meinten, der Most sei mir beträchtlich in den Kopf gestiegen; die Frau sah lächelnd dem Gekritzel zu, schließlich fragte sie mit Gebärden an, ob sie’s nehmen dürfe, worauf sie ging, um es ihrem Manne zu zeigen.

Share on Twitter Share on Facebook