Parajd, 19. Oktober 1916

Kurz vor Mitternacht fuhren wir in den Bahnhof Maros-Vásárhely ein, doch nur zu flüchtigstem Aufenthalt. Stab und fünfte Kompagnie sollten bergaufwärts weiter bis Parajd. Während der Viertelstunde, die wir in den Wartesälen verbrachten, umdrängten uns Frauen und alte Männer aller Stände und baten mit einer verzweifelten Inständigkeit um etwas Tabak. Unendliche Verdrossenheit spricht aus allen Mienen; die rasche Entziehung des jahrhundertelang gewöhnten Giftes hat die Menschen furchtbarer ernüchtert als feindlicher Einbruch und Hunger.

Um einhalbein Uhr bestiegen wir die Schmalspurbahn. Fünf Stunden gedachte ichs im bloßen Mantel wohl auszuhalten und ließ meine beiden Decken beim großen Gepäck zurück. Aber dem Wagen fehlten sämtliche Fenster, die Kälte stieg mit den Kilometern, aus Regen wurde Schnee, den der Wind auf uns hereinwarf. Erstarrt sah ich morgens um sechs Uhr das Türmchen von Parajd. Wir standen vier Stunden in Bahnhofnähe zwischen zerstörten Geleisen, auf welche wie zerrissene Nervenbündel abgesprengte Telephonstränge niederhingen. Schließlich verlautete, unsere Nachtfahrt sei unnötig und dem Versehen eines Generalstabsoffiziers zu verdanken gewesen. Junge fluchten, Alte murrten; alle aber verstummten, als uns echtes Unglück entgegentrat. Von der Bahnhofstraße, deren Rand unabsehbare Reihen von Flüchtlingen besetzt hielten, sahen wir österreichische Krankenträger auf uns zukommen, die vorsichtig auf Bahren drei kleine verhüllte Gestalten dahertrugen. Es waren Kinder einer Flüchtlingsfamilie, die beim Spielen eine scharfe Handgranate gefunden, sich darum gebalgt und dabei die Schnur herausgezogen hatten. Die Explosion hatte die Mutter, die gerade Kochfeuer anzünden wollte, getötet, die drei Kleinen schwer verwundet. Die Großmutter, Siebenbürger Sächsin, die weinend den stillen Zug begleitete, meinte, man müsse solche Vorfälle den Kaisern und Königen der ganzen Welt zu wissen machen, damit sie traurig würden und von dem gottlosen Kriegführen abließen. Indessen war auf einmal die Sonne frei geworden und beleuchtete sehr hell einen hohen Berg, der allen auffiel. Der untere Teil zeigte fahlgrüne, mit Steinen durchsetzte Matten, dann folgte, wie mit Sorgfalt umgelegt, ein schmaler Tannengürtel, und aus diesem spitzte sich schneeglänzend eine mächtige Pyramide in das zerfließende Grau. Der feierliche Anblick bannte jeden; sogar die alte Frau verstummte, und ich, darf ich mirs zugeben, daß das Jammerbild der zerfetzten Kinder mir im Nu völlig ausgelöscht war? Daß es mir in der herrlichen Schau zerschmolz, als wäre es zufällig und nur am Rande geschehen wie die meisten Begebenheiten der Zeit, dort aber, geltend und geisterbehütet, stünde ein geheimes Gesetz, das längst all unsere Leiden und Schrecken übernommen hat?

Um elf Uhr wurden Quartiere bezogen. Ich stellte alle Müdigkeit zurück und holte erst nach Revierdienst und Fußappell den versäumten Schlaf ein wenig nach. Vor Mitternacht – wir saßen noch lesend und plaudernd beisammen – hörte man auf der Straße Pferdegetrappel und -geklingel, dann wurde schüchtern die Hausglocke geläutet. Jemand bat um Einlaß, obgleich die Türe nicht verschlossen war. Es war der Eigentümer des Hauses, ein älterer Mann, der mit seiner Familie vor den Rumänen geflohen war und nun vorderhand allein zurückkehrte, um Lage und Aussichten zu erfahren. Höflich ließ er um einen kleinen Schlafraum bitten und blieb geduldig vor seinem erleuchteten, von Fremden besetzten Hause stehen, bis er Bescheid erhielt. Der Major ging selbst hinunter, um ihn zu begrüßen, und bot ihm ein Abendessen an, das jener bescheiden ablehnte, völlig zufrieden, in seinem Anwesen ein dürftiges Obdach zu erhalten.

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