„... Und niemals hätten Sie, mein unvergeßlicher Arkadi Makarowitsch, Ihre zeitweilige Muße nützlicher verwenden können, als Sie es getan haben, indem Sie diese Ihre ‚Aufzeichnungen‘ schrieben! Sie haben sich sozusagen bewußt Rechenschaft gegeben über ihre ersten ungestümen und gewagten Schritte ins Leben. Ich bin überzeugt, daß Sie sich durch diese Darlegung in der Tat in vieler Hinsicht ‚zu einem anderen Menschen‘ haben erziehen können, wie Sie sich selbst ausdrücken. Kritische Bemerkungen, im eigentlichen Sinne des Wortes, werde ich mir selbstredend nicht erlauben, obgleich man sich bei jeder Seite seine Gedanken machen kann ... wie zum Beispiel über den Umstand, daß Sie dieses ‚Dokument‘ so lange und so hartnäckig bei sich behalten haben, was mir im höchsten Grade charakteristisch zu sein scheint ... Aber das ist von hunderten nur eine Bemerkung, die ich mir hier zu machen erlaube. Ich weiß auch sehr zu schätzen, daß Sie mir, und wie es scheint, mir allein das ‚Geheimnis Ihrer Idee‘ anvertraut haben. Ihre Bitte jedoch, mich besonders zu dieser Ihrer ‚Idee‘ zu äußern, muß ich Ihnen abschlagen; denn erstens würde das über den Rahmen eines Briefes hinausgehen, und zweitens – ich bin noch nicht imstande, darauf zu antworten, ich muß alles erst selbst verarbeiten. Ich will nur bemerken, daß Ihre ‚Idee‘ sich durch Eigenart auszeichnet, während die Jugend von heute sich in der Mehrzahl nicht auf selbsterfundene Ideen einstellt, sondern auf fertig vorgefundene, von denen es wohl nichts weniger als eine große Auswahl gibt, ganz abgesehen davon, daß sie häufig recht gefährlich sind. Ihre Idee hat Sie wenigstens zeitweilig vor den Ideen der Herren Dergatschoff und Konsorten bewahrt, die fraglos bei weitem nicht so originell sind wie Ihre Idee. Und schließlich pflichte ich durchaus der hochverehrten Tatjana Pawlowna bei, die ich zwar persönlich gekannt, bisher jedoch nicht in dem Maße zu schätzen verstanden habe, wie sie es verdient: ihr Wunsch, daß Sie die Universität beziehen, hat für Sie das Beste im Auge. Die Wissenschaft und das Leben werden in den drei bis vier Jahren die Horizonte Ihrer Gedanken und Bestrebungen zweifellos bedeutend erweitern, und sollten Sie nach beendetem Studium sich wieder Ihrer ‚Idee‘ zuwenden wollen, so wird Ihnen nichts im Wege stehen.
Und jetzt erlauben Sie, daß ich Ihnen von mir aus ganz offen und sogar ungebeten einige Gedanken und Eindrücke mitteile, die mir während der Lektüre Ihrer so offenherzigen Aufzeichnungen in den Sinn gekommen sind und mein Herz bewegt haben.
Ja, ich stimme mit Andrei Petrowitsch darin vollkommen überein, daß man für Sie und Ihre einsame Jugend in der Tat Angst haben konnte. Und solcher Jünglinge wie Sie gibt es unter unserer heranwachsenden Jugend nicht wenige, und ihre Fähigkeiten drohen in der Tat immer, sich zum Schlechteren zu entwickeln – sei es zu kriechendem Strebertum oder zum heimlichen Verlangen nach Unordnung in Leben und Staat. Aber dieses Verlangen nach Unordnung entspringt vielleicht in den meisten Fällen einer geheimen Sehnsucht nach Ordnung und ‚Vornehmheit‘ (ich gebrauche Ihren Ausdruck)! Die Jugend ist schon darum rein, weil sie Jugend ist. Vielleicht sind diese so frühen Ausbrüche der Unvernunft eben nur Ausbrüche der Sehnsucht nach Ordnung und ein Suchen der Wahrheit; aber, ja, wer ist denn schuld daran, daß manche jungen Menschen von heute diese Wahrheit und diese Ordnung in so dummen und lächerlichen Utopien zu sehen glauben, daß man gar nicht begreift, wie sie auf so etwas überhaupt hereinfallen können! Ich will hier gleich bemerken, daß man früher, in der Vergangenheit, die unmittelbar hinter uns liegt, im Zeitalter der vorigen Generation, diese merkwürdigen jungen Leute gar nicht so sehr zu bedauern brauchte, denn damals endeten sie fast immer damit, daß sie sich in ihrem weiteren Leben unserer höheren Kulturschicht anschlossen und mit ihr zu einem Ganzen verschmolzen. Und wenn sie im Anfang ihres Weges auch die ganze Ordnungslosigkeit und Zufälligkeit ihrer Existenz erkannten, das Fehlen alles Schönen, zum Beispiel in ihrem Familienleben, das Fehlen jeglicher Familienüberlieferung und guter vollendeter Lebensformen, so war das ja um so besser, denn eben diese Erkenntnis lehrte sie, das Fehlende ganz bewußt zu suchen, darum zu ringen und es zu schätzen. Heute verhält es sich anders – eben weil nichts vorhanden ist, an das man sich anschließen könnte.
Ich möchte das durch ein Beispiel noch klarer machen. Wenn ich ein russischer Romancier wäre und Talent hätte, so würde ich meine Helden unbedingt aus dem russischen alten Adel wählen, denn nur an diesem einen Stande russischer Kulturmenschen ist es für einen die Wirklichkeit darstellenden Dichter möglich, wenigstens den Schein einer schönen Ordnung zu zeigen und den schönen Eindruck zu erzielen, der in einem Roman zur ästhetischen Wirkung auf den Leser unbedingt erforderlich ist. Indem ich das sage, scherze ich durchaus nicht, obgleich ich selbst nichts weniger als ein Adliger bin, was Ihnen ja bekannt ist. Schon Puschkin hat sich die Stoffe für seine geplanten Romane in den ‚Überlieferungen der russischen Familie‘ angemerkt, und glauben Sie mir, in diesen findet sich tatsächlich alles, was es bisher an Schönem bei uns überhaupt gegeben hat. Jedenfalls enthalten sie alles, was wir an wenigstens einigermaßen Abgeschlossenem hervorgebracht haben. Ich sage das nicht deshalb, weil ich etwa von der Richtigkeit und Wahrheit dieser Schönheit unbedingt überzeugt wäre; aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß es in der Kaste unseres Geburtsadels schon abgeschlossene Formen für Ehre und Pflicht gegeben hat, die es außer beim Adel in ganz Rußland nicht nur nicht in abgeschlossener Form, sondern nicht einmal im Anfangszustande gibt. Ich spreche das als ein ruhiger Mensch aus, der nach Ruhe strebt.
Ob nun diese Form der ‚Ehre‘ an sich gut und diese Auffassung der ‚Pflicht‘ richtig ist – das ist eine andere Frage; wichtiger ist für mich eben die Abgeschlossenheit, die Vollendung der Formen und somit wenigstens irgendeine Art von Ordnung, und zwar nicht eine von außen her vorgeschriebene, sondern eine aus uns selbst heraus entwickelte. Mein Gott, das ist ja für uns eben das wichtigste: gleichviel was für eine Ordnung, wenn es nur endlich einmal eine selbstgeschaffene Ordnung ist! Und so etwas zu sehen, gab uns Hoffnung und war, man kann wohl sagen, eine Erholung fürs Auge: es war doch endlich etwas anderes, war nicht ewig dieses Zerstören, nicht ewig umherfliegende Splitter, nicht Schutt und Unrat, aus denen bei uns nun schon seit zweihundert Jahren noch immer nichts hervorgehen will.
Werfen Sie mir nicht Slawophilismus vor; ich sage das nur so, aus Misanthropie, weil mein Herz bedrückt ist! Denn jetzt, seit kurzer Zeit, geht bei uns etwas vor, was dem oben geschilderten vollkommen entgegengesetzt ist. Es ist nicht mehr der Nachschub von unten, der sich an die höhere Menschenschicht anschließt und mit ihr zusammenwächst, sondern umgekehrt, von der schönen und feststehenden Schicht bröckeln mit fröhlicher Eilfertigkeit Stückchen und Klümpchen ab und scharen sich in einen Haufen mit den Vertretern der Unordnung und des Neides. Es ist schon längst kein Ausnahmefall, daß die Väter und Familienhäupter alter Kulturgeschlechter heute selbst darüber lachen, woran ihre Kinder vielleicht noch glauben wollen. Und nicht nur das: sie zeigen ihren Kindern sogar mit Vergnügen ihre gierige Freude an dem plötzlichen Recht auf Ehrlosigkeit, das dieser ganze Haufen auf einmal irgendwoher erhalten zu haben glaubt. Ich rede hier nicht von den wahren Fortschrittlern, mein lieber Arkadi Makarowitsch, sondern bloß von jenem Gesindel, das so überraschend zahlreich ist, und von dem es heißt: grattez le russe et vous verrez le tartare.[139] Glauben Sie mir, wirkliche Freiheitler, wahrhafte und großherzige Menschenfreunde sind bei uns durchaus nicht so zahlreich, wie wir hin und wieder geglaubt haben.
Aber das ist ja alles Philosophie; kehren wir zu unserem Romancier zurück. Seine Lage wäre unter diesen Umständen eine vollkommen bestimmte: er könnte in keiner anderen Form als in der historischen schreiben, denn in unserer Zeit gibt es keinen schönen Typus mehr, und wenn sich auch Reste von ihm erhalten haben, so haben sie doch nach der heute herrschenden Ansicht ihre Schönheit schon eingebüßt. Oh, auch in der historischen Form läßt sich noch eine Menge sehr gefälliger und erfreulicher Einzelheiten schildern! Man kann den Leser sogar so weit mit sich fortreißen, daß er das historische Bild noch in der Gegenwart für möglich hält.
Aber ein solches Werk, von einem begnadeten Künstler geschrieben, würde weniger der russischen Literatur als der russischen Geschichte angehören. Es wäre ein künstlerisch vollendetes Bild der russischen Fata Morgana, die allerdings so lange Wirklichkeit sein wird, bis man dahinterkommt, daß sie eben nur noch eine Fata Morgana ist. Aber der heute lebende Enkel der Typen jenes Bildes, das die russische Familie der höheren Kulturschicht im Verlauf von drei Menschenaltern und in engster Verbindung mit der russischen Geschichte darstellt – dieser Enkel jener Typen könnte in seinem gegenwärtigen Typ, wenn er wahrheitsgetreu sein soll, nicht mehr anders dargestellt werden, als in einer etwas misanthropischen, einsamen und fraglos traurigen Gestalt. Er muß sogar als eine Art Sonderling erscheinen, den der Leser auf den ersten Blick als das zu erkennen vermag, was er ist: als einen, der das Feld geräumt hat, und dem man es ansieht, daß der Sieg nicht ihm verblieben ist. Über ein Kleines – wird auch dieser Enkel und Misanthrop verschwunden sein; neue Gestalten werden auftauchen, uns noch unbekannte Gesichter, und eine neue Fata Morgana; aber was werden das für Gestalten sein? Wenn sie unschön sind, so ist ein weiterer russischer Roman unmöglich. Doch wehe uns! – wird dann der Roman allein unmöglich sein?
Aber wozu so weit vorausgehen, ich komme lieber auf Ihr Manuskript zurück. Betrachten Sie zum Beispiel die beiden Familien des Herrn Werssiloff (diesmal erlauben Sie mir schon, vollkommen aufrichtig zu sein). Da ist er zunächst selbst, Andrei Petrowitsch, – doch über ihn will ich mich nicht weiter äußern. Immerhin gehört er zu den Familienhäuptern. Er ist ein Edelmann aus altem, vornehmem Geschlecht und gleichzeitig – ein Pariser Kommunard. Er ist ein echter Dichter und liebt Rußland, doch dafür verneint er es auch vollständig. Er ist ohne jede Religion, aber er ist beinahe bereit, in den Tod zu gehen – für etwas Unbestimmtes, das er selbst nicht zu nennen vermag, woran er jedoch leidenschaftlich glaubt, gleich einer Menge russisch-europäischer Zivilisatoren aus der Petersburger Ära der russischen Geschichte. Doch genug von ihm selbst! Aber da ist nun seine rechtmäßige Familie: von seinem Sohn will ich weiter nicht sprechen: er ist ja dieser Ehre gar nicht wert! Wer Augen hat, zu sehen, der weiß schon im voraus, was aus solchen Tagedieben bei uns wird, und wohin sie gelegentlich auch andere mitziehen. Aber da ist seine Tochter Anna Andrejewna – wer könnte der wohl Charakter absprechen? Eine Persönlichkeit vom Schlage unserer berühmten Äbtissin Mitrofania – doch selbstredend soll damit nicht gesagt sein, daß sie auch deren Verbrechen begehen könnte, was von mir ungerecht wäre. Wenn Sie, Arkadi Makarowitsch, mir jetzt sagten, diese Familie sei eine einzelne Erscheinung – ich würde froh aufatmen. Aber ist nicht umgekehrt der Schluß richtiger, daß schon eine Menge von solchen unzweifelhaft altadligen russischen Familien mit unaufhaltsamer Gewalt zu zufälligen Familien geworden sind, daß sie sich in Massen mit den tatsächlich zufälligen zu gemeinsamer Unordnung und gemeinsamem Chaos vermischen? Den Typ einer solchen zufälligen Familie zeigen zum Teil auch Sie in Ihren Aufzeichnungen. Ja, Arkadi Makarowitsch, Sie sind ein Glied einer zufälligen Familie, im Gegensatz zu den bei uns noch vor kurzem vorherrschenden Typen aus altem Stamm, die eine so anders geartete Kindheit und Jugend hatten, als Sie.
Ich muß bekennen, ich möchte nicht der Schilderer eines Helden aus einer zufälligen Familie sein!
Es ist eine undankbare Arbeit, ohne die Möglichkeit schöner Formung. Auch sind diese Typen in jedem Falle noch erst in der Bildung begriffen und können darum noch gar nicht künstlerisch abgeschlossen sein. Es sind wichtige Fehler möglich, Übertreibungen und Verkennungen. Andererseits muß manches völlig ungesehen bleiben. Jedenfalls wäre man dabei gar zu oft auf ein bloßes Erraten angewiesen. Aber was soll schließlich ein Schriftsteller tun, der nicht nur als Historiker schreiben will, und der von der Sorge um das Gegenwärtige befallen ist? Es verbleibt ihm nichts als – hin- und herraten und ... sich irren.
Aber solche Aufzeichnungen wie die Ihren könnten, glaube ich, als Material für ein späteres Kunstwerk dienen, für ein künftiges Bild einer unordentlichen, halb schon vergangenen Epoche. Oh, wenn die Zeit dieser brennenden Tagesfrage vergangen sein wird und die Zukunft anbricht, dann wird ein künftiger Künstler für die Darstellung selbst der vergangenen Unordnung und des Chaos schon schöne Formen finden. Und dann werden solche ‚Aufzeichnungen‘ wie die Ihren zustatten kommen und als Material verwendet werden können – wenn sie nur aufrichtig sind, mögen sie dabei auch noch so chaotisch und zufällig sein ... Es werden sich wenigstens einige richtige Züge erhalten, aus denen man wird erraten können, was sich in der Seele manch eines Jünglings jener unruhigen Zeit verborgen hat – eine Ermittelung, die nicht ganz unnütz sein dürfte, denn aus den Jünglingen wachsen die Generationen ...“