III.

Am nächsten Tage verließ ich das Haus, und obgleich es schon zehn Uhr morgens war, bemühte ich mich, leise aufzutreten, um ungesehen hinauszukommen, weshalb ich auch niemandem etwas von meinem Fortgehen sagte und mich nicht verabschiedete; kurz, ich versuchte, heimlich zu entschlüpfen. Warum ich das tat, weiß ich nicht; aber selbst wenn Mama mich erblickt und aufgehalten hätte, würde ich ihr mit irgendeiner Bosheit geantwortet haben. Als ich auf die Straße trat und die kalte Luft mich berührte, erzitterte ich wie von einer ungeheuer starken Empfindung, die geradezu tierisch war, und die ich fleischlüstern nennen möchte. Wozu ging ich aus, wohin ging ich? Das war für mich vollkommen unbestimmbar und zugleich war ich doch – fleischlüstern. Und Furcht war in mir und Seligkeit zugleich.

„Werde ich mich heute beschmutzen oder werde ich mich nicht beschmutzen?“ fragte ich mich mutig, wenn ich auch nur zu gut wußte, daß der für heute vorgenommene Schritt von entscheidender Bedeutung und in meinem ganzen Leben nicht mehr ungeschehen zu machen sein würde. Doch wozu hier in Rätseln sprechen!

Ich ging ins Gefängnis zum Fürsten. Schon vor drei Tagen hatte ich von Tatjana Pawlowna ein Briefchen an den Inspektor erhalten, und dieser war infolgedessen sehr liebenswürdig zu mir. Ich weiß nicht, ob er auch sonst ein guter Mensch war, aber das kommt ja hier nicht weiter in Betracht; jedenfalls gestattete er mir, den Fürsten zu sprechen, und führte mich sogar in ein Zimmer seiner Amtswohnung, wo er uns liebenswürdig allein ließ. Das Zimmer war nicht anders, als die Zimmer der Amtswohnung eines Beamten von diesem Rang gewöhnlich sind – aber auch das ist, denke ich, überflüssig hier zu beschreiben. So konnten wir denn, der Fürst und ich, ungestört unter vier Augen sprechen. Er erschien in einem halbmilitärischen Hausrock, in reinster Wäsche und eleganter Halsbinde, gepflegt und frisiert, war aber furchtbar abgemagert und ganz gelb im Gesicht. Sogar das Weiße seiner Augen war, wie ich bemerkte, gelblich. Kurz, er sah so verändert aus, daß ich stehen blieb und ihn ganz betroffen ansah.

„Wie haben Sie sich verändert!“ rief ich unwillkürlich aus.

„Das macht nichts! Setzen Sie sich, lieber Freund,“ sagte er, wies mit einer fast gezierten Handbewegung auf einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. „Kommen wir zur Hauptsache: Sehen Sie, mein lieber Alexei Makarowitsch ...“

„Arkadi,“ verbesserte ich ihn.

„Was? Ach, schon gut, einerlei ...“ sagte er. „Ach so!“ – jetzt erst wurde er sich seines Irrtums bewußt – „Entschuldigen Sie, mein Lieber, kommen wir zur Hauptsache ...“

Er hatte es furchtbar eilig, auf irgendeine Hauptsache zu sprechen zu kommen. Der ganze Mensch war nur von einem Gedanken erfüllt, den er auszudrücken und mir zu erklären suchte. Er sprach viel und schnell, eindringlich, mit Gefühl und lebhaften Bewegungen, aber ich konnte ihn beim besten Willen nicht verstehen.

„Mit einem Wort“ (er hatte schon zehnmal vorher den Ausdruck, „mit einem Wort“ gebraucht) – „mit einem Wort,“ schloß er seine Rede, „wenn ich Sie, Arkadi Makarowitsch, gestern durch Lisa dringend zu mir zu kommen gebeten habe, so war das vielleicht gar zu beunruhigend, aber da es sich wirklich um einen außerordentlichen und endgültigen Entschluß handelt, so müssen wir ...“

„Erlauben Sie, Fürst,“ unterbrach ich ihn, „Sie haben mich gestern rufen lassen? Lisa hat mir nichts davon gesagt.“

„Was?“ schrie er auf und sah mich ganz starr an vor Verwunderung und Schreck.

„Sie hat mir nichts davon gesagt. Gestern abend kam sie so niedergeschlagen nach Haus, daß sie fast überhaupt kein Wort gesprochen hat, auch mit mir nicht.“

Der Fürst sprang vom Stuhl auf.

„Ist das wirklich wahr, Arkadi Makarowitsch? In dem Falle ...“

„Was ist denn dabei so Außergewöhnliches, daß Sie sich darüber so aufregen? Sie wird es einfach vergessen haben oder ...“

Er setzte sich wieder hin, aber er verblieb wie in einer Erstarrung. Es war, als wäre er von der Nachricht, daß Lisa mir nichts gesagt hatte, einfach niedergeschmettert. Plötzlich begann er wieder zu sprechen und mit den Händen zu fuchteln, aber es war mir wieder sehr schwer, auch nur etwas davon zu verstehen, was er eigentlich sagen wollte.

„Passen Sie auf!“ sagte er plötzlich, verstummte und hob den Finger in die Höhe. „Passen Sie auf, das ... das ... das sind, wenn ich mich nicht irre ... Kniffe! ...“ flüsterte er mit dem Lächeln eines Blödsinnigen. „Und das bedeutet, daß ...“

„Gar nichts bedeutet das!“ unterbrach ich ihn. „Ich begreife nicht, wie ein so nichtssagender Umstand Sie überhaupt aufregen kann ... Ach, Fürst, seit der Zeit, seit jener Nacht, erinnern Sie sich noch ...“

„Seit welcher Nacht?“ rief er gereizt und sichtlich geärgert darüber, daß ich ihn unterbrochen hatte.

„Bei Serschtschikoff, wo wir uns zum letztenmal sahen, damals, wissen Sie noch, vor Ihrem Brief an mich. Auch damals waren Sie in einer furchtbaren Aufregung, aber damals und jetzt – der Unterschied ist so groß, daß ich Angst um Sie bekomme ... oder sollten Sie vergessen haben?“

„Ach, ja,“ sagte er in gesellschaftlich nachlässigem Tone, als erinnere er sich zufällig, „ach, ja! An dem Abend ... Ich hörte davon ... Aber wie steht es denn mit Ihrer Gesundheit, und wie fühlen Sie sich jetzt, nach alledem, Arkadi Makarowitsch? ... Doch kommen wir zur Hauptsache! Sehen Sie, ich verfolge eigentlich drei Ziele, drei Aufgaben sehe ich vor mir, und ich ...“

Er kam wieder auf seine „Hauptsache“ zu sprechen. Ich begriff endlich, daß ich einen Menschen vor mir hatte, dem man zum mindesten ein in Essig getauchtes Handtuch um den Kopf legen mußte, falls man ihn nicht zur Ader lassen konnte. Sein ganzes zusammenhangsloses Gerede drehte sich natürlich um den Prozeß und den voraussichtlichen Ausgang desselben; er sprach auch davon, daß sein Regimentskommandeur ihn besucht und ihm dringend von irgend etwas abgeraten hätte, er aber hätte nicht auf ihn gehört – dies bezog sich auf ein Schreiben, das von ihm soeben eingereicht worden war, und das irgend etwas mit dem Staatsanwalt zu tun hatte; ferner sprach er davon, daß man ihm alle Rechte nehmen und wohl irgendwohin, nach den nördlichsten Provinzen Rußlands verbannen werde; er sprach von der Möglichkeit, Kolonist zu werden oder in Taschkent sich wieder heraufzudienen, und davon, was für Lehren er seinem Sohne (dem erwarteten Sohne von Lisa) auf den Lebensweg mitgeben wolle – „dort in der Einöde bei Archangelsk oder Cholmogory“. „Ich wollte Ihre Meinung hören, Arkadi Makarowitsch, glauben Sie mir, ich lege so viel Wert auf das Gefühl ... Wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, Arkadi Makarowitsch, mein Lieber, mein Bruder, was Lisa für mich bedeutet, was sie für mich hier bedeutet hat, jetzt in dieser Zeit!“ rief er auf einmal und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.

„Ssergei Petrowitsch, wollen Sie sie denn wirklich zugrunde richten und sie mitnehmen? ... Nach Cholmogory!“ entfuhr es mir plötzlich unvorsichtigerweise.

Das Schicksal Lisas, die nun ewig an diesen Maniaken gebunden war, kam mir da plötzlich klar zu Bewußtsein – zum erstenmal. Er sah mich an, erhob sich von neuem, tat ein paar Schritte, kehrte aber um und setzte sich wieder, ohne die Hände, die er an seinen Kopf preßte, sinken zu lassen.

„Mir träumt immer von Spinnen!“ sagte er plötzlich.

„Sie sind schrecklich aufgeregt, Fürst; ich rate Ihnen, sich ins Bett zu legen und den Doktor holen zu lassen.“

„Nein, erlauben Sie, das kommt später. Ich habe Sie hauptsächlich deshalb zu mir gebeten, um Ihnen alles über die Trauung mitzuteilen. Die Trauung, wissen Sie, wird hier in der Kirche stattfinden, ich habe alles schon besprochen. Die Erlaubnis ist auch schon erteilt, und man redet mir sogar zu ... Was Lisa betrifft, so ...“

„Fürst, haben Sie doch Erbarmen mit Lisa,“ rief ich – „quälen Sie sie doch nicht so mit Ihrer unsinnigen Eifersucht, wenigstens nicht jetzt!“

„Was!“ schrie er auf und sah mich mit hervorquellenden Augen unbeweglich an, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich zu einem breiten, sinnlos fragenden Lächeln. Ersichtlich hatte das Wort „Eifersucht“ einen schrecklichen Eindruck auf ihn gemacht.

„Verzeihen Sie, Fürst, das ist mir nur so entschlüpft. Oh, Fürst, ich habe in der letzten Zeit einen alten Mann kennen gelernt, meinen namentlichen Vater ... Oh, wenn Sie mit ihm sprechen könnten, Sie würden bestimmt ruhiger werden ... Auch Lisa schätzt ihn sehr ...“

„Ach ja, Lisa ... ach so, das ist ihr Vater? Oder ... pardon, mon cher,[76] so etwas Ähnliches ... Ich weiß ... sie sagte mir ... ein alter Mann ... Ich bin überzeugt davon, überzeugt. Ich habe auch einmal solch einen Alten gekannt ... Mais, passons.[77] Die Hauptsache ist, daß man, um das ganze innere Wesen der gegenwärtigen Lage sich klarzumachen, daß man, wie gesagt ...“

Ich erhob mich, um fortzugehen, denn es schmerzte mich zu sehr, ihn so zu sehen.

„Ich verstehe nicht!“ sagte er streng und mit anmaßender Miene, als er sah, daß ich schon aufbrechen wollte.

„Mir tut es weh, Sie so zu sehen,“ sagte ich.

„Arkadi Makarowitsch, ein Wort, nur noch ein Wort!“ Er ergriff mich plötzlich an den Schultern, aber mit einem ganz anderen Ausdruck im Gesicht und in den Gebärden, und drückte mich wieder auf den Stuhl. „Haben Sie schon gehört von diesen, Sie verstehen schon?“ ... Er beugte sich über mich.

„Ach, ja, Dergatschoff! Das ist sicherlich eine Machenschaft von Stebelkoff!“ rief ich unüberlegt.

„Ja, Stebelkoff, und ... wissen Sie noch nichts?“

Er brach plötzlich ab, und wieder sah er mich mit diesen hervortretenden Augen an und mit diesem krampfhaften, sinnlos fragenden Lächeln, das langsam immer breiter wurde. Sein Gesicht erblaßte mehr und mehr. Und plötzlich durchzuckte mich etwas: mir fiel Werssiloffs Blick ein, mit dem er mir gestern die Verhaftung Wassins mitgeteilt hatte.

„Oh, ist es denn möglich?“ rief ich erschrocken aus.

„Sehen Sie, Arkadi Makarowitsch, weshalb ich Sie gerufen habe: um Ihnen zu erklären ... ich wollte ...“ flüsterte er hastig.

„Sie haben Wassin angezeigt?“ schrie ich.

„Nein, sehen Sie, es war da ein Manuskript. Wassin hatte es Lisa am letzten Tage gegeben ... damit sie es aufbewahre. Sie ließ es mir hier, da ich es durchlesen wollte, und am nächsten Tage verzankten sie sich ...“

Sie sind es, der das Manuskript der Polizei ausgeliefert hat!“

„Arkadi Makarowitsch, Arkadi Makarowitsch ...“

„Und da haben Sie,“ schrie ich stockend, indem ich aufsprang, „und da haben Sie, ohne einen Grund, ohne einen Zweck, den unglücklichen Wassin angezeigt, nur weil er Ihr – Nebenbuhler ist! Nur aus Eifersucht haben Sie das Manuskript, das Lisa anvertraut war, ausgeliefert! ... An wen? An den Staatsanwalt?“

Er kam nicht dazu, mir zu antworten, und er hätte mir auch schwerlich etwas erwidern können – er stand vor mir wie ein Götzenbild, immer noch mit demselben krankhaften Lächeln und demselben starren Blick – plötzlich öffnete sich die Tür und Lisa trat herein. Sie fiel fast in Ohnmacht, als sie uns beide zusammen sah.

„Du hier. Du bist hier?“ rief sie mit verzerrtem Gesicht und ergriff mich am Arm. „So ... weißt du’s schon?“

Sie ersah aus meinem Gesicht, daß ich es bereits „wußte“. Ich umfing sie schnell und hielt sie krampfhaft umschlungen! Und erst in diesem Augenblick überwältigte mich die ganze Erkenntnis, was für ein unentrinnbarer, hoffnungsloser Kummer für immer über dem Schicksal dieser ... freiwilligen Märtyrerin lag.

„Kann man denn jetzt überhaupt mit ihm reden?“ rief sie und entwand sich mir plötzlich. „Wie kann man ihn denn jetzt beunruhigen? Warum bist du hier? Sieh ihn doch nur an, sieh ihn doch an! Und wie darf man, wie darf man ihn denn verurteilen?“

Unendlicher Schmerz und unendliches Mitleid sprachen aus ihrem Gesicht, als sie das ausrief und auf ihn wies. Er saß im Lehnstuhl, das Gesicht in den Händen vergraben. Und sie hatte recht: es war ein Mensch im Fieberdelirium, den man für nichts verantwortlich machen konnte. Noch an demselben Tage wurde er ins Lazarett gebracht, und am Abend ließ sich bereits eine schwere Gehirnentzündung feststellen.

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