Er war aber nirgendwo zu sehen, und ich wußte nicht, wo ich ihn suchen sollte: daß er geradeswegs in seine Wohnung gegangen wäre, war kaum anzunehmen. Plötzlich kam mir ein Gedanke, und ich lief schnurstracks zu Anna Andrejewna.
Anna Andrejewna war schon zurückgekehrt, und ich wurde sogleich zu ihr gebeten. Ich nahm mich nach Möglichkeit zusammen, während ich hineinging. Ohne mich zu setzen, erzählte ich ihr, was vorgefallen war, also das von dem „Doppelgänger“. Niemals werde ich ihr jene gespannte, aber mitleidslos ruhige und selbstsichere Neugier, mit der sie mich gleichfalls stehend anhörte, vergessen oder gar verzeihen.
„Wo kann er jetzt sein? Vielleicht wissen Sie es?“ schloß ich schroff. „Tatjana Pawlowna hat mich gestern zu Ihnen geschickt ...“
„Ich ließ Sie schon gestern zu mir bitten. Gestern war er in Zarskoje Sselo und war auch bei mir. Jetzt aber“ (sie sah nach der Uhr), „da es schon sieben ist ... wird er bestimmt bei sich zu Hause sein.“
„Ich sehe, daß Sie alles wissen – also sagen Sie, sagen Sie mir auch alles!“ rief ich.
„Ich weiß vieles, aber nicht alles. Ihnen brauche ich wohl nichts zu verheimlichen ...“ Sie maß mich mit einem sonderbaren Blick, dabei lächelnd und gleichsam erwägend. „Gestern früh hat er Katerina Nikolajewna, als Antwort auf ihren Brief, in aller Form einen Heiratsantrag gemacht.“
„Das – ist nicht möglich!“ Ich starrte sie an.
„Der Brief ging durch meine Hände; ich selbst habe ihr den Brief uneröffnet übergeben. Diesmal hat er ‚ritterlich‘ gehandelt und mir nichts verheimlicht.“
„Anna Andrejewna, ich verstehe kein Wort!“
„Es ist allerdings schwer zu verstehen ... diese Handlungsweise erinnert an einen Spieler, der sein letztes Goldstück auf den Tisch wirft und dabei schon den Revolver schußbereit in der Tasche hält – so ungefähr ist auch sein Heiratsantrag aufzufassen. Von zehn Möglichkeiten sprechen neun dafür, daß sie seinen Antrag nicht annimmt; aber auf diese eine zehnte Möglichkeit rechnet er doch noch, und ich muß sagen, das ist sogar sehr – interessant! Meiner Ansicht nach ... übrigens ... übrigens kann hier auch wieder so eine Anwandlung mitgespielt haben, eben jener ‚Doppelgänger‘, wie Sie das soeben so treffend ausgedrückt haben ...“
„Und Sie lachen noch? Und wie soll ich glauben, daß Sie den Brief übergeben haben? Sie sind doch – die Braut ihres Vaters? Foltern Sie mich nicht, Anna Andrejewna!“
„Er bat mich, mein Schicksal seinem Glück zu opfern, oder vielmehr gebeten hat er darum gerade nicht: es wurde ziemlich schweigsam abgetan, ich las das alles nur in seinen Augen. Mein Gott, wozu sich darüber wundern: ist er denn nicht nach Königsberg gereist, um sich von Ihrer Mutter die Zustimmung zu seiner Heirat mit Madame Achmakoffs Stieftochter zu holen? Das sieht dem doch wieder sehr ähnlich, daß er mich gestern zu seiner Vertrauten und Abgesandten erkor.“
Sie war ein wenig bleich. Aber ihr Sarkasmus war nur ein Mittel, um ihre Ruhe zu bewahren. Oh, ich verzieh ihr damals viel, als ich so nach und nach das Ganze erfaßte. Eine Minute lang überlegte ich; sie schwieg und wartete.
„Wissen Sie,“ sagte ich plötzlich lachend, „Sie haben den Brief ja nur deshalb überbracht, weil er für Sie nicht die geringste Gefahr bedeutete, denn zu dieser Heirat wird es doch nie und nimmer kommen! Aber er? Und schließlich auch sie? Selbstverständlich wird sie ihn mit seinem Antrag abweisen, und dann ... was wird dann geschehen? Wo ist er jetzt, Anna Andrejewna?“ rief ich, „jetzt ist jede Minute wertvoll, jede Minute kann ein Unglück geschehen!“
„Er ist jetzt bei sich in seiner Wohnung, wie ich Ihnen schon sagte. In seinem gestrigen Brief an Katerina Nikolajewna, den ich überbrachte, bat er sie auf jeden Fall, also unabhängig von ihrer Antwort, um eine Zusammenkunft in seiner Wohnung heute um sieben Uhr abends. Sie hat zugesagt.“
„Sie in seiner Wohnung? Wie ist das möglich?“
„Warum denn nicht? Die Wohnung gehört ja Darja Onissimowna; da können sie sich doch sehr gut als ihre Gäste bei ihr treffen ...“
„Aber sie fürchtet sich vor ihm ... er kann sie umbringen!“
Anna Andrejewna lächelte nur.
„Katerina Nikolajewna hat trotz ihrer ganzen Furcht vor ihm, die auch ich an ihr bemerkt habe, doch immer eine gewisse Ehrfurcht und Bewunderung für die Vornehmheit seiner Grundsätze und für seinen idealen Verstand gehegt. Sie hat jetzt zugesagt, um ihm ihr Vertrauen zu beweisen, und um der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. In seinem Brief aber hat er ihr feierlich sein Ehrenwort gegeben, daß sie nichts zu fürchten hätte ... Ich entsinne mich nicht mehr genau der Ausdrücke, aber jedenfalls hat sie ihm darauf mit ihrem Vertrauen geantwortet ... und da es doch das letztemal sein soll ... jedenfalls beruhte ihre Antwort auf den edelsten Gefühlen. Es war da beiderseits ein gewisser ritterlich heroischer Wettstreit, wenn Sie wollen.“
„Aber der Doppelgänger, sein Doppelgänger!“ rief ich, „er ist doch wahnsinnig geworden!“
„Als Katerina Nikolajewna gestern in diese Zusammenkunft einwilligte, hat sie mit der Möglichkeit eines solchen Zwischenfalles wahrscheinlich nicht gerechnet,“ meinte Anna Andrejewna.
Ich drehte mich plötzlich um und lief aus dem Zimmer – zu ihm, zu ihm, selbstverständlich! Aber aus dem Vorsaal kehrte ich noch einmal auf eine Sekunde zu ihr zurück.
„Das ist es wohl gerade, was Sie brauchen, daß er sie totschlägt!“ rief ich ihr ins Gesicht und rannte aus dem Hause.
Obgleich ich am ganzen Körper wie im Fieber zitterte, betrat ich die Wohnung leise und behutsam, durch die Küchentür, und bat flüsternd, Darja Onissimowna zu mir herauszurufen – aber da kam sie schon in die Küche und sah mich wortlos mit gespannt forschendem Blick an.
„Er ... er ist nicht zu Hause.“
Aber ich flüsterte ihr schnell und ohne Umschweife zu, daß ich alles wisse, Anna Andrejewna hätte mir alles gesagt, und ich käme geraden Weges von ihr.
„Darja Onissimowna, wo sind sie?“
„Sie sind im Saal, dort, wo Sie vorgestern saßen, am Tisch ...“
„Darja Onissimowna, lassen Sie mich hinein!“
„Aber wie kann ich denn das!“
„Nicht dorthin, aber in das Nebenzimmer. Darja Onissimowna, das ist vielleicht Anna Andrejewnas Wunsch ... Sonst hätte sie mir doch nicht gesagt, daß sie hier sind. Sie werden mich ja nicht sehen ... und Anna Andrejewna will es ja selbst ...“
„Aber wenn sie es nicht will?“ Darja Onissimownas Blick wich nicht von mir und sog sich förmlich hinein in meine Augen.
„Darja Onissimowna, ich werde Ihre Olä nie vergessen ... lassen Sie mich hinein!“
Da fingen ihre Lippen und ihr Kinn plötzlich zu zittern an.
„Liebling, dann um Oläs willen ... für dein gutes Herz ... Aber verlaß nicht Anna Andrejewna, Liebling! Wirst du sie nicht verlassen, was? Wirst du sie nicht verlassen?“
„Nein, nein, ich werde sie nicht verlassen!“
„Dann gib mir noch dein heiliges Ehrenwort, daß du nicht zu ihnen hineinrennen und auch nicht losschreien wirst, wenn ich dich hinführe?“
„Mein Ehrenwort, Darja Onissimowna!“
Sie faßte mich am Rock, führte mich leise in ein dunkles Zimmer, das an jenes stieß, in dem sie saßen, führte mich unhörbar auf dem weichen Teppich zur Tür, schob mich dicht an den zugezogenen Vorhang, den sie vorsichtig ein wenig zur Seite bog, und zeigte mir die beiden.
Ich blieb da, sie schlich zurück. Selbstverständlich blieb ich. Ich war mir vollkommen bewußt, daß ich horchte, daß ich ein fremdes Geheimnis belauschte, aber ich blieb. Wie sollte ich denn nicht bleiben! Und der Doppelgänger? Hatte er doch schon vor meinen Augen das Heiligenbild zertrümmert!