Ich fahre also in der Erzählung der Hauptsache fort.
Tatjana Pawlowna, die mich nun glücklich befreit hatte, setzte mich in ihre Droschke und brachte mich zu sich nach Hause. Marja mußte sofort Tee machen, während sie selbst mich wusch und meine Kleider säuberte. Und dabei sagte sie mir denn, daß Katerina Nikolajewna nicht um zehn Uhr, sondern um halb zwölf zu ihr kommen werde, um mich zu treffen. Das hörte nun auch Marja. Nach eine paar Minuten brachte sie die Teemaschine herein, doch als Tatjana Pawlowna kurz darauf noch einmal nach ihr rief, erhielt sie keine Antwort: Marja war, wie sich zeigte, nicht mehr da. Das bitte ich nicht zu vergessen. Die Uhr war vielleicht viertel vor zehn. Tatjana Pawlowna ärgerte sich zwar darüber, daß sie so ohne zu fragen ausgegangen war, sagte sich aber, sie werde wohl nur in den nächsten Laden gegangen sein, und im übrigen vergaß sie den ganzen Vorfall schon nach einem Augenblick. Wir waren aber auch wirklich mit Interessanterem beschäftigt: wir sprachen die ganze Zeit – und ich hatte noch so vieles zu sagen, daß ich dieses Verschwinden der dummen Köchin überhaupt nicht beachtete. Ich bitte den Leser auch das nicht zu vergessen.
Natürlich war ich noch wie benommen; ich erklärte ihr meine Gefühle, aber die Hauptsache war doch, daß wir auf Katerina Nikolajewna warteten, und der Gedanke, daß ich ihr in einer Stunde endlich begegnen werde, und noch dazu in einem so entscheidenden Augenblick meines Lebens, ließ mich erzittern, und mein Herz stand mir still. Schließlich, als ich schon zwei Tassen Tee getrunken hatte, stand Tatjana Pawlowna auf, nahm eine Schere vom Tisch und sagte:
„So, jetzt gib mir mal die Tasche her, wir müssen den Brief heraustrennen – das können wir doch nicht in ihrer Gegenwart.“
„Ja!“ sagte ich und knöpfte meinen Rock auf.
„Das sind mir mal Stiche! Wer hat dir denn das hier zusammengenäht?“
„Ich selbst, Tatjana Pawlowna, ich selbst.“
„Na, das sieht man aber auch! ... So, da haben wir ihn ...“
Sie zog den Brief heraus; die Briefhülle war dieselbe, aber in ihr – war ein unbeschriebenes Stück Papier.
„Das ... was ist denn das?“ fragte Tatjana Pawlowna und wendete es in der Hand. „Was hast du?“
Ich stand blaß da, ohne ein Wort sprechen zu können ... und plötzlich sank ich kraftlos auf den Stuhl ... ich war beinahe ohnmächtig.
„Ja, was soll denn das wieder bedeuten!“ schrie Tatjana Pawlowna, „wo ist denn jetzt der Brief?“
„Lambert!“ rief ich und sprang auf und schlug mir vor die Stirn, denn ich hatte plötzlich alles begriffen.
Hastig und atemlos erzählte ich ihr von der Nacht bei Lambert und von unserer ganzen Verschwörung – übrigens hatte ich ihr schon am Abend vorher von dieser Verschwörung manches mitgeteilt.
„Gestohlen hat er ihn mir, gestohlen!“ schrie ich, stampfte mit den Füßen und raufte mir das Haar.
„Was nun?“ fragte Tatjana Pawlowna ratlos, als sie den Zusammenhang begriff. „Wieviel Uhr ist es?“
Es war kurz vor elf.
„Ach, daß die Marja nicht da ist! ... Marja, Marja!“
„Was wünschen gnädiges Fräulein?“ erscholl plötzlich Marjas Stimme aus der Küche.
„Bist du da? Ja, was machen wir denn jetzt! Ich renne zu ihr hin ... Ach, du Tölpel, du Tölpel!“
„Ich laufe zu Lambert!“ brüllte ich, „und erwürge ihn, wenn es sein muß!“
„Gnädiges Fräulein!“ rief plötzlich Marja aus der Küche, „hier ist eine, die Sie sprechen will ...“
Noch hatte sie ihren Satz nicht zu Ende gesprochen, als diese „eine“ mit Heulen und Schreien aus der Küche hereinstürzte. Es war Alphonsinka. Ich werde die Szene nicht in allen Einzelheiten wiedergeben; die Szene selbst war ein Betrug und eine Komödie, doch ich muß bemerken, daß Alphonsinka ihre Rolle großartig spielte. Unter Tränen der Reue und mit unmöglichen Gebärden schnatterte sie ihren Vortrag herunter (auf Französisch selbstverständlich), gestand, daß sie selbst den Brief aus der Tasche getrennt hätte, daß ihn Lambert jetzt besäße, und daß Lambert zusammen mit „diesem Räuber,“ cet homme noir, „madame la générale“[130] zu sich gerufen habe, und sie würden madame la générale bestimmt erschießen, jetzt, sogleich, in einer Stunde ... sie, Alphonsinka, hätte das alles von ihnen erfahren und plötzlich furchtbare Angst bekommen, weil sie in ihren Händen einen Revolver gesehen, „un pistolet“,[131] und deshalb wäre sie zu uns gelaufen, damit wir hinkämen, madame retteten, das Unglück verhüteten ... „et cet homme noir ...“
Kurz, alles, was sie sagte, erschien uns durchaus glaubwürdig, und die Dummheit einiger ihrer Erklärungen erhöhte eigentlich noch die Glaubwürdigkeit.
„Was für ein homme noir?“ schrie Tatjana Pawlowna sie an.
„Tiens, j’ai oublié son nom ... Un homme affreux ... Tiens, Versiloff!“[132]
„Werssiloff! – das kann nicht sein!“ schrie ich auf.
„Doch, das kann schon sein!“ kreischte Tatjana Pawlowna. „So erzählen Sie doch, meine Beste, aber springen Sie nicht so und fuchteln Sie doch nicht so mit den Armen! Was haben die beiden vor? Sprechen Sie doch vernünftig, meine Beste: ich kann es doch nicht glauben, daß sie sie erschießen wollen?“
Die „Beste“ erklärte nun folgendes (NB.: es war alles Schwindel, ich bereite nochmals darauf vor): Werssiloff werde hinter der Tür sitzen, und Lambert werde ihr, wenn sie hereinkäme, cette lettre[133] zeigen, und in dem Augenblick werde Werssiloff hervorstürzen, und dann ... „Oh, ils feront leur vengeance!“[134] Sie, Alphonsina, habe Angst bekommen, weil sie daran beteiligt sei, denn „cette dame, la générale“[135] werde bestimmt kommen, „sofort, sofort,“ denn sie hätten ihr eine Abschrift des Briefes geschickt, aus der sie ersehen könne, daß der Brief wirklich in ihren Händen sei; und deshalb werde sie bestimmt kommen. Den Brief habe Lambert geschrieben, und von Werssiloff wisse madame la générale noch nichts; Lambert aber habe sich ihr als ein Herr vorgestellt, der soeben aus Moskau angekommen wäre, im Auftrage einer Moskauer Dame, „une dame de Moscou“[136] (NB.: Marja Iwanowna!).
„Ach, mir wird schlecht, mir wird schlecht!“ rief Tatjana Pawlowna.
„Sauvez-la, sauvez-la!“[137] schrie und beschwor uns Alphonsinka.
Freilich hatte diese wahnwitzige Nachricht schon auf den ersten Blick etwas Unsinniges, aber zum Überlegen blieb uns keine Zeit, und das Ganze schien uns doch durchaus glaubwürdig zu sein. Man hätte wohl voraussetzen können, und zwar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, daß Katerina Nikolajewna nach Empfang von Lamberts Brief zuerst zu uns kommen werde, zu Tatjana Pawlowna, um die Sache aufzuklären. Aber auch das brauchte schließlich nicht unbedingt zu geschehen, und sie konnte ja auch direkt zu ihm fahren, und dann – war sie verloren! Und wenn auch kaum anzunehmen war, daß sie so ohne weiteres auf die erste Aufforderung hin zu dem ihr ganz unbekannten Lambert eilen werde, so war doch die Möglichkeit, daß sie es tat, immerhin nicht ausgeschlossen. Die Abschrift mußte sie jedenfalls überzeugen, daß Lambert wirklich im Besitz ihres Briefes war, und wenn sie daraufhin zu ihm fuhr – konnte das Unglück doch geschehen! Aber vor allen Dingen durften wir ja keinen Augenblick verlieren, und so hatten wir auch keine Zeit, lange zu überlegen.
„Und Werssiloff wird sie ermorden! Wenn er sich schon zur Gemeinschaft mit Lambert erniedrigt hat, so wird er sie auch ermorden! Das ist nicht er, das ist sein Doppelgänger!“ rief ich.
„Ach, dieser Doppelgänger!“ Tatjana Pawlowna rang die Hände. „Aber jetzt müssen wir handeln!“ entschloß sie sich plötzlich. „Nimm deine Mütze, den Pelz, und vorwärts marsch! Und Sie, meine Beste, führen uns sofort zu ihnen hin. Ach, das ist ein weiter Weg! Marja, Marja, wenn Katerina Nikolajewna kommen sollte, dann sage ihr, ich käme sofort wieder, sie soll sich hinsetzen und auf mich warten, und wenn sie nicht warten will, so schließe die Tür zu und halt sie mit Gewalt zurück. Sag ihr, ich hätte dir so befohlen! Hundert Rubel bekommst du, Marja, wenn du mir diesen Dienst erweist!“
Wir liefen auf die Treppe hinaus. Zweifellos taten wir das Vernünftigste, denn die größte Gefahr drohte ihr doch in Lamberts Wohnung; und wenn Katerina Nikolajewna vorher zu Tatjana Pawlowna kam, so konnte Marja sie einfach zurückhalten. Aber Tatjana Pawlowna änderte, als wir schon eine Droschke genommen hatten, doch noch ihren Entschluß.
„Nein, fahr du allein mit ihr hin!“ rief sie mir zu und ließ mich mit Alphonsinka einsteigen. „Und dort stirb für sie, wenn es sein muß, verstanden? Ich werde dir gleich folgen, aber vorher will ich noch schnell zu ihr, vielleicht treffe ich sie noch, denn sag’ was du willst, mir kommt die Sache doch verdächtig vor!“
Und sie fuhr schnell zu Katerina Nikolajewna! Ich aber fuhr mit Alphonsinka zu Lambert. Ich trieb den Kutscher zur Eile an, und während der Fahrt fragte ich Alphonsinka weiter aus, aber Alphonsinka antwortete mir nur noch mit Ausrufen und zu guter Letzt mit Tränen. Doch Gott beschützte und rettete uns, als alles nur noch an einem Faden hing. Wir hatten kaum ein Viertel des Weges zurückgelegt, als ich plötzlich hinter uns schreien hörte: mein Name wurde gerufen. Ich sah mich um – Trischatoff jagte uns in einer Droschke nach.
„Wohin?“ rief er erschrocken, „und mit ihr, mit Alphonsinka!“
„Trischatoff!“ rief ich ihm zu, „Sie haben die Wahrheit gesagt – das Unglück ist da! Ich fahre zu dem Schuft Lambert! Kommen Sie mit, es ist dann doch einer mehr!“
„Kehren Sie um, kehren Sie sofort um!“ schrie Trischatoff. „Lambert betrügt Sie und Alphonsinka betrügt Sie! Der Pockennarbige schickt mich, sie sind gar nicht bei Lambert: ich bin Werssiloff und Lambert soeben begegnet: sie fuhren zu Tatjana Pawlowna ... jetzt werden sie schon dort sein ...“
Ich ließ den Kutscher halten und sprang in Trischatoffs Schlitten hinüber. Heute verstehe ich einfach nicht, wie ich mich damals so schnell habe entschließen können; aber ich glaubte ihm sofort und handelte danach. Alphonsinka kreischte fürchterlich, aber wir ließen sie sitzen, wo sie saß, und ich weiß nicht einmal, ob sie uns nachfuhr, oder ob sie dort ausstieg, jedenfalls habe ich sie nachher nie wieder gesehen.
Im Schlitten teilte mir Trischatoff Hals über Kopf und ganz atemlos mit, daß es sich da um gewisse Machenschaften handle, Lambert sei mit dem Pockennarbigen anfangs unter einer Decke gewesen, aber im letzten Augenblick habe der Pockennarbige sich bedacht und sei von ihm abgefallen. Jedenfalls habe er ihn, Trischatoff, selbst zu Tatjana Pawlowna geschickt, damit er ihr sage, daß sie Alphonsinka keinen Glauben schenken solle. Trischatoff fügte hinzu, weiter wisse er nichts, denn der Pockennarbige hätte selbst etwas sehr Wichtiges vorgehabt und deshalb nur in aller Eile die notwendigsten Anordnungen geben können. „Ich sah Sie fahren,“ fuhr Trischatoff fort, „und da bin ich Ihnen nachgejagt.“ Es war natürlich klar, daß der Pockennarbige alles wußte, da er Trischatoff doch geradeswegs zu Tatjana Pawlowna geschickt hatte, doch über dieses neue Rätsel dachte ich nicht lange nach.
Damit aber der Leser sich in diesem Wirrwarr zurechtfinde, will ich, bevor ich die Katastrophe beschreibe, noch einmal, zum letztenmal, vorgreifen und den ganzen Zusammenhang schon jetzt aufdecken.