II.

Aber betrachten wir auch die Kleinigkeiten.

Ich habe nun meine ersten zwei Versuche beschrieben; in Petersburg machte ich, wie ich schon erzählt habe, den dritten Versuch – ich ging auf eine Auktion und gewann mit einem Schlage sieben Rubel fünfundneunzig Kopeken. Versteht sich, das war kein ernster Versuch, sondern nur ein Spiel, ein Vergnügen: ich hatte Lust, einen Augenblick aus der Zukunft zu stehlen und im voraus auszukosten, wie ich so in künftigen Jahren gehen und mein Vorhaben ausführen würde. Den wirklichen Anfang der Umsetzung meiner Idee in die Tat hatte ich von vornherein, d. h. schon in Moskau, bis zu dem Zeitpunkt hinausgeschoben, wo ich als Mensch einmal vollkommen frei dastehen werde; ich sah ein, daß ich zum Beispiel wenigstens das Gymnasium vorher beenden mußte. (Die Universität hatte ich, wie schon erwähnt, bereits geopfert.) Natürlich reiste ich mit einem geheimen Grimm nach Petersburg: kaum hatte ich das Gymnasium beendet und war nun ein freier Mensch geworden, da sah ich plötzlich, daß Werssiloffs Angelegenheiten mich vom Beginn der Ausführung meines Vorhabens auf unbestimmte Zeit ablenkten! Aber trotzdem habe ich mich nicht im entferntesten wegen der Erreichung meines Zieles beunruhigt gefühlt.

Es ist wahr, noch fehlte mir die praktische Erfahrung; aber in den drei Jahren hatte ich schon alles bedacht, und so konnte mich kein Zweifel mehr beunruhigen. Wohl tausendmal hatte ich es mir ausgemalt, wie ich anfangen würde: plötzlich befinde ich mich, wie vom Himmel gefallen, in einer von unseren zwei Hauptstädten (ich hatte mir gerade für den Anfang unsere Hauptstädte erwählt, und zwar gab ich aus einer gewissen Erwägung Petersburg den Vorzug). Ich bin also wie vom Himmel herabgefallen und vollständig frei, hänge von keinem ab, bin gesund und habe in der Tasche ein heimliches Vermögen von hundert Rubeln – mein Anlagekapital. Ohne hundert Rubel kann man nicht gut anfangen; denn so würde die erste Periode des geringen Erwerbes gar zu lange dauern. Außer den hundert Rubeln besaß ich noch, wie sich erwiesen hatte, Mut, Ausdauer, Fähigkeit zu vollständiger Einsamkeit und zur folgerechten Geheimhaltung eines Geheimnisses. Ja, gerade die bedingungslose Einsamkeit war die Hauptsache; ich habe tatsächlich bis zuletzt keinerlei Beziehungen oder Verbindungen mit anderen Menschen gemocht, und im allgemeinen stand es für mich unumstößlich fest, daß ich die Ausführung meiner Idee ganz allein anfangen würde: das war mein sine qua non. Es fällt mir schwer, Menschen zu ertragen; ich werde innerlich unruhig, und die Unruhe würde die Verfolgung meines Zieles beeinträchtigen. Und überhaupt ist es bisher in meinem Leben immer so gewesen: wenn ich mir vorstellte oder träumte, wie ich mich im Verkehr mit den Menschen halten würde, verlief alles immer sehr gut und klug, kaum aber trat an die Stelle des Traumes oder der Vorstellung die Wirklichkeit – so benahm ich mich immer furchtbar dumm. Ich gestehe das mit aufrichtigem Unwillen; immer habe ich mich selbst durch meine Worte zu erkennen gegeben und übereilt gesprochen, und deshalb hatte ich beschlossen, mich von den Menschen abzusondern. Nur so konnte ich mir Unabhängigkeit, Seelenruhe und ungestörte Verfolgung meines Zieles sichern.

In Petersburg sind die Preise für Lebensmittel bekanntlich sehr hoch, aber dessenungeachtet hatte ich ein für allemal beschlossen, nicht mehr als fünfzehn Kopeken täglich fürs Essen auszugeben, und ich wußte im voraus, daß ich meinen Vorsatz durchführen würde. Diese Frage der Ernährung habe ich lange und eingehend erwogen. So zum Beispiel nahm ich mir vor, zwei Tage lang nichts als Brot mit Salz zu essen, um dann am dritten Tage für die in zwei Tagen ersparten Kopeken um so viel mehr zu essen; denn mir schien diese Verteilung zuträglicher für die Gesundheit, als ein ewig gleichmäßiges Fasten bei einer Tagesration für die geringste Summe. Ferner bedurfte ich eines Winkels, buchstäblich nur eines Winkels, d. h. ich brauchte einen Ort, wo ich in der Nacht schlafen konnte und bei gar zu unfreundlichem Wetter auch am Tage Schutz fand. Zu leben beabsichtigte ich eigentlich nur auf der Straße und war bereit, im Notfall auch in den Nachtasylen für Obdachlose zu schlafen, wo man, abgesehen vom Nachtlager, noch ein Stück Brot und ein Glas Tee erhält. Oh, ich würde es schon verstehen, mein Geld so zu verstecken, daß es mir weder von Winkelnachbarn noch im Nachtasyl gestohlen werden könnte, nicht einmal ahnen würden sie, daß ich welches besitze. „Was, mir könnte man es stehlen? Ach, Freund, ich muß mich ja selbst nur in acht nehmen, daß nicht ich einem anderen was stehle!“ – hörte ich einmal auf der Straße im Vorübergehen einen Galgenstrick mit Humor zum anderen sagen. Was mich betrifft, so würde ich es ihm nur in Vorsicht und Schlauheit gleichtun, aber zu stehlen, nein, zu stehlen beabsichtige ich nicht. Ja, ich habe sogar schon in Moskau, und vielleicht schon am ersten Tage meiner „Idee“, beschlossen, weder Pfandleiher noch Wucherer zu werden: dazu sind die Juden da und auch diejenigen Russen, die weder Verstand noch Charakter haben. Pfänder und Prozente – das ist so was für die ordinären!

In betreff der Kleidung hatte ich mir vorgenommen, immer zwei Anzüge zu besitzen, einen Alltagsanzug und einen guten. Wenn ich sie mir einmal angeschafft hätte, würde ich sie lange tragen, das wußte ich. Zweieinhalb Jahre lang habe ich mich vorsätzlich darin geübt, wie man seine Kleider tragen muß, damit sie nicht schnell abnutzen, und habe bei der Gelegenheit ein Geheimnis entdeckt: soll ein Kleidungsstück immer wie neu aussehen, so muß man es möglichst oft bürsten, womöglich fünf- bis sechsmal am Tage. Tuch fürchtet die Bürste nicht, wohl aber Staub und Schmutz. Staub besteht, unter dem Mikroskop betrachtet, aus Steinen, die Bürstenhaare aber sind, selbst die härtesten, immerhin etwas der Wolle Ähnliches. Ebenso habe ich meine Stiefel zu tragen gelernt: das Geheimnis besteht darin, daß man ganz gerade und mit der ganzen Sohle auftritt; denn vor allem gilt es ein Schieftreten der Stiefel zu vermeiden. In vierzehn Tagen hat man das heraus, und dann geht’s von selbst, ohne daß man daran zu denken braucht. So trägt man Stiefel im Durchschnitt um ein Drittel der Zeit länger. – Ergebnis zweijährigen Versuchs.

Hierauf befaßte ich mich schon mit der eigentlichen Aufgabe.

Ich ging von der Erwägung aus: ich habe hundert Rubel. In Petersburg finden so viel Auktionen und Ausverkäufe statt, gibt es so viel kleine Buden auf dem Trödelmarkt und so viel kauflustige Menschen, daß es unmöglich ist, eine Sache, die man für soundsoviel gekauft hat, nicht etwas teurer verkaufen zu können. An einem Album habe ich mit einem Anlagekapital von zwei Rubel und fünf Kopeken jene sieben Rubel und fünfundneunzig Kopeken verdient. Diesen ungeheuren Gewinn erhielt ich ohne jedes Wagnis meinerseits: ich sah dem Käufer an den Augen an, daß er dieses alte Album unbedingt erstehen wollte. Natürlich gebe ich zu, daß dieser Fall nur ein Zufall war, aber gerade solche Fälle suche ich ja, nur deshalb habe ich doch beschlossen, auf der Straße zu leben! Nun gut, mögen sie noch so selten sein, gleichviel, mein Grundsatz bleibt: nichts aufs Ungewisse hin zu wagen, und zweitens: unbedingt an jedem Tage wenigstens etwas mehr als das Minimum zu verdienen, d. h. was ich für meinen Unterhalt täglich ausgeben muß, damit an keinem Tage die Vermehrung des Kapitals stillstehe.

Man wird mir sagen: „Das sind alles nur Träume! Sie kennen die Straße noch nicht, man wird Sie schon beim ersten Schritt übers Ohr hauen, und ohne daß Sie es merken.“ Aber ich habe Willen und Charakter, und die Wissenschaft der Straße ist wie jede andere Wissenschaft und läßt sich mit Fleiß, Ausdauer, Aufmerksamkeit und Fähigkeiten ohne weiteres erwerben. Auf dem Gymnasium war ich bis zur letzten Klasse einer der ersten Schüler und ein sehr guter Mathematiker. Und wie kann man nur die bloße „Erfahrung“ und Straßenwissenschaft so götzenbildhaft überschätzen und, wo sie fehlen, ein sicheres Mißlingen prophezeien! Das pflegen aber immer nur diejenigen zu tun, die selbst niemals einen Versuch, gleichviel in welcher Sache, gemacht haben, die nie etwas Neues angefangen, sondern immer auf dem Fertigen frierend gesessen haben. „Einer hat sich die Nase verbrannt, folglich wird jeder andere sie sich auch verbrennen.“ Nein, ich nicht. Ich habe Charakter, und wenn ich will, kann ich alles erlernen. Wäre es denn überhaupt möglich, daß man es bei ununterbrochener Aufmerksamkeit, Berechnung und Überlegung, bei unermüdlicher und ununterbrochener Tätigkeit und Lauferei – schließlich nicht zu dem Wissen brächte, wie man täglich zwanzig Kopeken verdienen kann? Sehr wichtig ist, daß man sich nicht auf den größtmöglichen Gewinn versteift, sondern immer ruhig bleibt. Späterhin, wenn ich das eine und andere Tausend schon verdient habe, würde ich selbstverständlich und ganz unwillkürlich den kleinen Handel und Wiederverkauf auf der Straße aufgeben und mich mit Besserem befassen. Allerdings sind mir jetzt die Börse, die Aktien- und Bankgeschäfte und ähnliches noch wenig bekannt. Aber dafür weiß ich so genau, wie ich fünf Finger an jeder Hand habe, daß ich alle diese Börsen- und Bankiergeschäfte mit der Zeit erlernen und mich wie kein anderer in ihnen auskennen werde, und daß dieses Wissen sich bei mir fast von selbst einstellen wird, einfach weil die Dinge dazu führen. Als ob Gott weiß was für eine salomonische Weisheit dazu erforderlich wäre! Wenn man nur Charakter hat – Verständnis, Geschicklichkeit, Wissen kommen dann von selbst. Und wenn nur das „Wollen“ nicht aufhört!

Die Hauptsache bleibt: nichts aufs Spiel setzen, und das kann man nur, wenn man Charakter hat. Noch kürzlich hatte ich hier in Petersburg eine Zeichnungsliste auf Eisenbahnaktien; wer damals subskribieren konnte, hat viel verdient. Eine Zeitlang stiegen die Aktien. Da gibt es dann immer Leute, die zu spät kommen, und wenn ich, nehmen wir an, subskribiert hätte, würde mir doch der eine oder andere den Vorschlag gemacht haben, ihm die Aktien für eine Prämie von soundsoviel Prozent abzutreten. Nun, und ich hätte dann unbedingt verkauft, ohne lange auf weiteres Steigen der Papiere zu warten. Natürlich hätte man mich ausgelacht, weil man mir nach einiger Zeit vielleicht zehnmal mehr bieten würde. Das wäre ja möglich, aber mein kleinerer Gewinn ist schon deshalb vorteilhafter, weil ich ihn bereits in der Tasche habe, der erhoffte große Gewinn aber noch irgendwo in der Luft hängt. Man wird mir hierauf zu bedenken geben, daß man auf diese Weise doch nicht viel verdienen könne. Entschuldigen Sie, darin irren Sie sich, und darin besteht auch der große Irrtum aller unserer großen verkrachten Spekulanten. So hören Sie denn die Wahrheit: Fleiß und Ausdauer im Verdienen und vor allem im Sparen machen mehr aus als zufällige große Gewinne, selbst wenn diese hundert Prozent und darüber einbringen!

Als John Law zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in Paris erschien, um ein im Prinzip geniales Projekt durchzuführen (das freilich nachher fürchterlich enttäuschte), geriet ganz Paris in Aufregung. Man riß sich förmlich um Laws Aktien, das Gedränge war unbeschreiblich. Und in das Haus, in dem die Aktien ausgegeben wurden, strömte aus ganz Paris das Geld zusammen. Aber das Haus konnte so viel Menschen nicht fassen, das Publikum mußte schon auf der Straße bleiben, und dort drängte sich alles durcheinander, Arme, Reiche, Vornehme, Geringe, Kinder und Greise, Bourgeoisie und Noblesse, Gräfinnen, Marquisen und Dirnen – alles wurde zu einer einzigen, nur von einem Gedanken besessenen Masse, als wären alle von einem tollen Hunde gebissen. Alle Standesvorurteile, Rang, Stolz, Ehre und guter Name – alles wurde unter die Füße getreten; alles wurde geopfert (sogar von Frauen), nur um ein paar Aktien zu erhalten. Die Subskription mußte schließlich auf der Straße stattfinden, doch man hatte keinen Tisch, auf dem man hätte schreiben können. Da machte man einem Buckligen den Vorschlag, seinen Buckel als Schreibtisch benutzen zu lassen. Der willigte ein – man kann sich denken, wieviel er sich dafür von jedem Subskribenten zahlen ließ! Nun, es dauerte nicht lange, und alle waren bankerott, das ganze Unternehmen, die ganze Idee ging zum Teufel und die Aktien waren wieder wertlose Papierstücke. Wer hatte nun gewonnen? Nur der Bucklige, eben weil er statt der Aktien die baren Louisdors genommen hatte. Nun, und dieser Bucklige bin unter ähnlichen Umständen – ich. Habe ich doch genug Willenskraft gehabt, nicht zu essen und kopekenweise mir zweiundsiebzig Rubel zusammenzusparen; sie wird wohl auch ausreichen, um dem Wirbel einer alle erfassenden Gier zu widerstehen und das geringe, aber sichere Geld dem großen, aber ungewissen vorzuziehen. Nur in Kleinigkeiten bin ich kleinlich, im großen – nie. Wenn zu einer Sache nur ein wenig Geduld erforderlich war, hat meine Willenskraft oft nicht ausgereicht, sogar nachdem ich mir meine Idee schon ausgedacht hatte; zu einer großen Geduld aber – wird sie immer ausreichen. Wenn meine Mutter mir morgens, bevor ich zum Fürsten ging, einen Kaffee vorsetzte, der nur noch lauwarm war, ärgerte ich mich und wurde grob, und dabei war ich derselbe Mensch, der einen ganzen Monat nur von Wasser und Brot gelebt hatte.

Mit einem Wort: auf diese Weise nicht Geld zu erwerben oder nicht erlernen zu können, wie man Geld erwirbt, wäre unnatürlich. Und ebenso unnatürlich wäre es, bei ununterbrochenem und gleichmäßigem Erwerb, bei unermüdlicher Aufmerksamkeit und klarem Verstande, Mäßigkeit, Sparsamkeit und ständig wachsender Energie – nicht Millionär zu werden. Wodurch hat denn der Bettler sein Geld erworben, wenn nicht durch den Fanatismus seines Charakters und seine Ausdauer? Stehe ich diesem Bettler nach? „Und schließlich, mag ich auch nichts erreichen, mag meine Berechnung falsch sein, mag ich Schiffbruch leiden und untergehen, gleichviel! – ich gehe. Ich gehe, weil ich es so will!“ Das sagte ich mir noch in Moskau.

Man wird mir sagen, in alledem sei nichts von einer „Idee“ und das Ganze überhaupt nichts Neues. Ich aber sage, und jetzt zum letztenmal, daß hierin unendlich viel Idee und unendlich viel Neues ist.

Oh, ich habe es ja schon geahnt, wie trivial alle Einwände sein würden, und wie trivial ich selbst erscheinen muß, wenn ich meine „Idee“ auseinandersetze: was habe ich denn ausgesprochen? Nicht einmal den hundertsten Teil. Ich fühle doch, daß es so nur kleinlich, plump, oberflächlich und gleichsam viel zu kindisch für meine Jahre ausgedrückt ist.

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