III.

Das war also der Mensch, um den mein Herz so viele Jahre lang geklopft hatte! Und was hatte ich denn von Krafft erwartet, was hätten denn das für neue Aufklärungen sein sollen?

Als ich aus seiner Wohnung auf die Straße trat, verspürte ich großen Hunger; es wurde schon Abend, und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich trat deshalb auf dem großen Prospekt der „Petersburger Seite“ in ein kleines Wirtshaus, mit dem Vorsatz, nur zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben – mehr hätte ich mir damals um keinen Preis erlaubt. Ich bestellte eine Portion Suppe, und als ich sie gegessen hatte, setzte ich mich ans Fenster, um hinauszusehen; es waren viel Menschen im Lokal und es roch nach verbranntem Fett, alten Servietten und Tabak. Widerlich war es. Über meinem Kopf hing ein Vogelbauer, und eine stimmlose Nachtigall pickte trübsinnig und nachdenklich mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs. Im anstoßenden Billardzimmer wurde gelärmt, ich aber saß und grübelte. Der Sonnenuntergang (warum hatte Krafft sich darüber gewundert, daß ich die Stunde des Sonnenuntergangs nicht liebe?) rief in mir ganz neue und unerwartete Empfindungen hervor, die gar nicht am Platz waren. So glaubte ich die ganze Zeit den stillen Blick meiner Mutter vor mir zu sehen, ihre lieben Augen, die mich nun schon einen ganzen Monat so schüchtern ansahen, als wolle die Liebe selbst mich auskundschaften. In der letzten Zeit war ich zu Hause sehr grob gewesen, namentlich in meinem Verhalten zu ihr; ich wollte gegen Werssiloff grob sein, doch da ich es gegen ihn nicht zu sein wagte, quälte ich infolge meines schändlichen Charakters statt seiner die Mutter. Ich hatte sie sogar gänzlich eingeschüchtert; oft sah sie mich mit einem so flehenden Blick an, wenn Werssiloff eintrat, in der Angst vor einem Ausfall meinerseits ... Sehr sonderbar war es, daß mir dort in diesem widerwärtigen Speisehaus zum erstenmal zum Bewußtsein kam, daß sie wie eine Fremde immer „Sie“ zu mir sagte, während Werssiloff mich duzte. Freilich hatte ich mich auch früher schon darüber gewundert und mir dabei manches gedacht, was für sie nicht gerade schmeichelhaft war, hier aber fiel mir das irgendwie noch besonders auf, und ich bedachte es tiefer – und lauter ähnliche Gedanken kamen mir einer nach dem anderen unaufhaltsam in den Sinn. Ich saß dort lange auf meinem Platz, bis zur dunkelsten Dämmerung. Ich dachte auch an meine Schwester ...

Eine verhängnisvolle Stunde. Ich stand vor der Entscheidung. Es galt, einen Entschluß zu fassen, um jeden Preis! Oder war ich denn wirklich unfähig, einen Entschluß zu fassen? Was war denn Schweres dabei, mit allen zu brechen, zumal hier niemand sich etwas aus mir machte? Meine Mutter, meine Schwester? Aber die wollte ich doch sowieso in keinem Fall verlassen – wie die Sache sich auch wenden mochte.

Es ist wahr: das Eintreten dieses Menschen in mein Leben, d. h. sein Erscheinen auf einen Augenblick, noch in meiner ersten Kindheit, war der schicksalsvolle Anstoß gewesen, der mein Bewußtsein geweckt hatte und bis zu dem meine Erinnerung jetzt zurückreicht. Hätte er damals nicht meinen Weg gekreuzt, mein Verstand, meine ganze Denkart, ja, mein ganzes Schicksal wären heute anders, sogar ungeachtet meines mir vom Schicksal bestimmten Charakters, dem ich doch unter keinen Umständen entronnen wäre.

Und nun erweist sich, daß dieser Mensch – nur eine von mir geschaffene Phantasiegestalt war, ein Traum meiner Kinderjahre. Ich selbst hatte ihn mir so ausgedacht, in Wirklichkeit aber sah ich jetzt einen ganz anderen Menschen, der tief unter meinem Phantasiegebilde stand. Ich war zu einem reinen Menschen gekommen, nicht aber zu diesem. Und warum hatte ich mich in ihn verliebt, so auf ewig in ihn verliebt, in jenem kurzen Augenblick, als ich ihn da einmal in meiner Kindheit sah? Dieses „auf ewig“ mußte verschwinden. Ich werde vielleicht einmal, wenn ich Platz dafür finde, diese unsere erste Begegnung erzählen: es ist die nichtigste Geschichte, aus der sich nichts ergibt. Bei mir aber ergab sich daraus eine ganze Pyramide. Ich begann diese Pyramide noch unter der Kinderdecke zu bauen, als ich vor dem Einschlafen weinen konnte und träumen – wovon? – das weiß ich selbst nicht. Weinen, weil ich verlassen war? Weil man mich quälte? Doch gequält hat man mich nur wenig, im ganzen nur zwei Jahre lang, in der Pension Touchard, in der ich damals untergebracht wurde, als er wieder verreiste. Späterhin hat mich niemand mehr gequält; im Gegenteil, ich war es, der stolz auf seine Kameraden herabsah. Und ich kann sie auch nicht ausstehen, diese sich selbst bedauernden Waisenkinder! Es gibt nichts Widerlicheres, als wenn Waisen oder unehelich Geborene, alle diese Ausgestoßenen und überhaupt dieses ganze Pack, mit dem ich auch nicht das geringste Mitleid habe, sich plötzlich feierlich vor dem Publikum erhebt und kläglich und moralisch loszuheulen beginnt: „Seht, wie man sich an uns vergangen hat!“ Ich würde diese Waisen am liebsten durchprügeln, denn keiner von diesem ganzen widerlichen Auswurf begreift, daß es von zehnmal mehr Anstand zeugt, wenn er schweigt und nicht heult und zum Klagen sich nicht herabläßt. Läßt du dich aber dazu herab, so hast du, „Sohn der Liebe“, dein Schicksal mit Recht verdient. Das ist meine Auffassung der Sache!

Aber nicht das ist lächerlich, daß ich als Kind unter meinem Deckchen so träumte, wohl aber, daß ich auch nach Petersburg wiederum wegen dieses von mir erdachten Menschen gekommen war, und über dem Gedanken an ihn meine Hauptziele fast vergessen hatte. Ich war gekommen, um ihm zu helfen, die Verleumdung zu vernichten, seine Feinde zu zerschmettern. Jenes Dokument, von dem Krafft gesprochen hatte, der Brief dieser Frau an Andronikoff, den sie jetzt so angstvoll suchte, da er ihr Schicksal zerstören, sie zur Bettlerin machen konnte, und den sie in Werssiloffs Händen wähnte – jener Brief war nicht bei Werssiloff, sondern bei mir, stak eingenäht in meiner Seitentasche! Ich selbst hatte ihn dort eingenäht, und kein Mensch in der ganzen Welt ahnte etwas davon. Daß die romantische Marja Iwanowna dieses ihr „zum Aufbewahren“ eingehändigte Dokument gerade mir und keinem anderen zu übergeben für nötig befunden hatte, war ihr freier Wille gewesen, auf Grund ihrer besonderen Auffassung der Sache, die zu erklären ich nicht verpflichtet bin, vielleicht jedoch gelegentlich erzählen werde. Aber so unverhofft bewaffnet, hatte ich dem geheimen Wunsch, nach Petersburg zu reisen, nicht mehr widerstehen können. Meine Voraussetzung war damals, versteht sich, daß ich diesem Menschen nicht anders als heimlich, ohne selbst hervorzutreten oder mich zu ereifern, helfen würde, ohne auf seinen Beifall, noch auf seine Umarmungen zu rechnen. Und niemals, niemals hätte ich mich dazu herabgelassen, ihm wegen irgend etwas einen Vorwurf zu machen! War es denn seine Schuld, daß ich mich in ihn verliebt und aus ihm ein phantastisches Ideal geschaffen hatte? Ja, vielleicht liebte ich ihn überhaupt nicht. Sein origineller Verstand, sein interessanter Charakter, seine geheimnisvollen Intrigen und Abenteuer, und der Umstand, daß meine Mutter bei ihm wohnte – alles das, scheint es, hätte mich nicht mehr aufhalten können; es genügte ja schon, daß meine phantastische Puppe zerschlagen war und ich ihn so, wie er wirklich war, gar nicht lieben konnte. Also, was hielt mich denn fest, an welcher Stelle war ich denn eingesunken? – das war die Frage. Und als Endergebnis stellte sich heraus, daß nur ich hier der Dumme war und sonst niemand.

Doch da ich von anderen Ehrlichkeit verlange, werde auch ich ehrlich sein: ich muß gestehen, daß jener in meiner Tasche eingenähte Brief nicht nur den leidenschaftlichen Wunsch, Werssiloff zu Hilfe zu eilen, in mir erweckt hatte. Das ist mir heute nur zu klar, aber auch damals errötete ich schon bei dem Gedanken an den anderen Grund. Ich träumte von einer Frau, einer stolzen Aristokratin, der ich Aug in Aug gegenüberstehen werde; sie wird mich verachten, über mich lachen, wie vielleicht über eine Maus, – und nicht einmal ahnen, daß ich Herr über ihr Schicksal bin. Dieser Gedanke hatte mich schon in Moskau berauscht, und besonders noch während der Reise im Waggon, als ich nach Petersburg fuhr. Das habe ich übrigens schon einmal gestanden. Ja, ich haßte diese Frau, und doch liebte ich sie schon, liebte sie als mein Opfer, und das ist wahr, es verhielt sich wirklich so. Nur war’s gleichzeitig so kindisch, daß ich es nicht einmal von einem solchen, wie ich damals war, erwartet hätte. Ich gebe meine damaligen Gefühle wieder, d. h. was mir dort im Speisehaus durch den Kopf ging, als ich auf dem Platz unter der Nachtigall saß und den Entschluß faßte, noch an demselben Abend mit ihnen allen unwiderruflich zu brechen. Der Gedanke an meine Begegnung mit dieser Frau trieb mir plötzlich heiße Schamröte ins Gesicht. Diese schmachvolle Begegnung! Ein erbärmlicher und dummer Eindruck, der – was das schlimmste war – vielleicht am deutlichsten meine Unfähigkeit zur Ausführung einer Tat bewies? Oder nein, er bewies nur – so dachte ich damals –, daß ich nicht einmal den unschlauesten Verlockungen zu widerstehen die Kraft habe, obschon ich noch vor einer kleinen Weile zu Krafft gesagt hatte, ich besäße ein Eigenstes, eine eigene Idee, und würde, selbst wenn ich drei Menschenleben erhielte, doch immer noch nicht genug haben. Mit Stolz hatte ich das gesagt. Daß ich mich nun von meiner „Idee“ hatte ablenken und in Werssiloffs Angelegenheiten hineinziehen lassen – das hätte man noch mit irgend etwas entschuldigen können; daß ich aber wie ein überraschter Hase auf diese und jene Seite hin- und hersprang und mich schon von jeder Nebensächlichkeit fangen ließ, daran war nichts anderes als meine Dummheit schuld. Wer plagte mich, zu Dergatschoff zu gehen, und dort mit meinen Dummheiten herauszuplatzen, obschon ich doch schon längst wußte, daß ich nichts klar und vernünftig zu erzählen verstehe und das Vorteilhafteste für mich Schweigen ist? Und irgend so ein Wassin muß dann die Sache richtigstellen durch die Erklärung, mir ständen noch „fünfzig Jahre Leben bevor“, und folglich sei für mich „kein Grund vorhanden, betrübt zu sein“. Seine Einwendung ist stichhaltig, ist vorzüglich, das gebe ich zu, und macht seinem unbestreitbaren Verstande Ehre; sie ist schon deshalb vorzüglich, weil sie die einfachste ist, das Einfachste aber wird immer erst zuletzt begriffen, wenn man es schon mit allem anderen versucht hat, was umständlicher oder dümmer ist. Doch diese Erklärung sagte mir nichts Neues, die kannte ich bereits, noch bevor Wassin sie aussprach; diesen Gedanken hatte ich schon gute drei Jahre vorher empfunden; ja, und nicht nur das, in ihm liegt sogar ein ganzer Teil meiner „Idee“. – Das waren damals so meine Gedanken dort im Wirtshause.

Ich hatte ein widerwärtiges Gefühl, als ich, müde vom Gehen und vom Denken, gegen acht Uhr abends im Stadtteil Ssemjonowski Polk anlangte. Es war schon ganz dunkel geworden, und das Wetter hatte sich verändert: es war trocken, aber ein widerwärtiger Petersburger Wind hatte sich erhoben, blies mir schneidend scharf in den Rücken und wirbelte Staub und Sand auf. Wie viele verdrießliche Gesichter unter den kleinen Leuten, die von der Arbeit und aus den Geschäften hastend heimeilen in ihre Winkel! Ein jeder hat seine eigene trübe Sorge im Gesicht, und in der ganzen Menge war vielleicht kein einziger gemeinsamer, alle vereinender Gedanke! Krafft hatte recht: ein jeder lebte für sich. Ein kleiner Knabe begegnete mir, der war so klein, daß es mich befremdete, ihn um diese Stunde allein auf der Straße zu sehen; er hatte sich offenbar verirrt; ein Weib blieb einen Augenblick stehen, um ihn anzuhören, aber sie verstand ihn nicht, schüttelte den Kopf und ließ ihn allein in der Dunkelheit stehen. Ich ging auf ihn zu, er aber erschrak plötzlich vor mir und lief weiter. Kurz vor unserem Hause beschloß ich, niemals zu Wassin zu gehen. Als ich die Treppe hinaufstieg, hatte ich den heißen Wunsch, Mutter und Schwester allein zu Hause anzutreffen, ohne Werssiloff, um vor seinem Kommen noch etwas Liebes meiner Mutter sagen zu können, oder wenigstens meiner lieben Schwester, zu der ich in diesem ganzen Monat fast noch kein einziges besonderes Wort gesagt hatte. Und so traf es sich auch, er war nicht zu Hause ...

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