Ich hatte es ja gewußt, daß er sich über mein Kommen furchtbar freuen würde, und, mein Ehrenwort, ich wäre an diesem Tage auch ohne den Fall Werssiloff zu ihm gegangen. Mich hatte in diesen zwei Tagen nur der Gedanke geschreckt, daß ich vielleicht irgendwie Katerina Nikolajewna begegnen könnte; jetzt aber fürchtete ich mich vor nichts mehr.
Er umarmte mich vor Freude.
„Was sagen Sie zu Werssiloff! Haben Sie es schon gehört?“ war das erste, womit ich herausplatzte.
„Cher enfant, du mein lieber Freund, das ist so erhaben, das ist so edel, – en un mot,[33] sogar auf Kilian“ (so hieß der Beamte unten) „hat es einen erschütternden Eindruck gemacht! Es ist unvernünftig von ihm, aber es ist glänzend, ist ein Meisterstück, ist eine Heldentat! Das Ideal muß man schätzen!“
„Nicht wahr? Nicht wahr? Darin stimmen wir zwei immer überein.“
„Du mein Lieber, wir zwei stimmen nicht nur darin, sondern in allem überein. Wo warst du so lange? Ich wollte unbedingt selbst zu dir fahren, aber ich wußte nicht, wo ich dich suchen sollte ... denn bei Werssiloff vorsprechen konnte ich doch nicht ... Obgleich jetzt, nach alledem ... Weißt du, mein Freund: gerade mit diesen Zügen hat er, wie mir scheint, die Frauen besiegt, gerade mit diesen Zügen, das steht außer Frage ...“
„Apropos, um es nicht zu vergessen, ich habe es mir speziell für Sie gemerkt. Gestern hat ein nichtswürdiger Narr, der in meiner Gegenwart auf Werssiloff schimpfte, unter anderem von ihm gesagt, er sei ein ‚Weiberprophet‘. Wie finden Sie den Ausdruck, gerade den Ausdruck? Ich merkte ihn mir für Sie ...“
„Ein ‚Weiberprophet‘! Mais ... c’est charmant![34] Haha! Aber das paßt doch so zu ihm, das heißt, ich wollte sagen, es paßt gar nicht – pfui ...! Aber es ist so treffend ... das heißt, es ist durchaus nicht treffend, aber ...“
„Tut nichts, tut nichts, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, betrachten Sie es nur als Bonmot.“
„Als Bonmot ist es prachtvoll, und, weißt du, es hat einen ungeheuer tiefen Sinn ... Die Idee ist ganz richtig! Das heißt, wirst du es mir glauben ... Ich werde dir ein ganz kleines Geheimnis mitteilen. Hast du dir damals hier diese kleine Olympia gemerkt? Wirst du’s glauben, ihr tut das Herz ein wenig weh vor Liebe zu Andrei Petrowitsch, und das sogar in solchem Maße, daß sie, wie mir scheint, gewisse Absichten ...“
„Absichten! Hat sie nicht Lust, das hier kennen zu lernen?“ rief ich unwillig und zeigte meine Faust.
„Mon cher, sprich nicht so laut, das ist alles so, wie es ist, und du hast meinetwegen recht von deinem Standpunkt aus. Apropos, mein Freund, was geschah mit dir eigentlich das vorige Mal nach Katerina Nikolajewnas Erscheinen? Du schwanktest ... ich dachte, du fielest um, und wollte schon zu dir eilen, um dich zu stützen?“
„Sprechen wir jetzt nicht davon. Ich ... ich war einfach verwirrt, aus einem bestimmten Grunde ...“
„Du bist auch jetzt wieder rot geworden.“
„Und Sie müssen das natürlich gleich breittreten. Sie wissen doch, daß sie mit Werssiloff verfeindet ist ... na, und so alles das; und so war ich denn einfach erregt, – ach, lassen wir das jetzt, reden wir darüber nächstens einmal!“
„Gut, gut, lassen wir das, lassen wir das, ich bin ja selbst froh, von alledem nicht sprechen zu müssen ... Wie dem auch sei, ich habe ihr großes Unrecht getan, ich habe dir sogar, erinnerst du dich, noch über sie vorgeklagt ... Vergiß das, mein Freund; sie wird gleichfalls ihre Meinung über dich ändern, das fühle ich schon voraus, verlaß dich drauf ... Ah, da ist ja der Fürst Sserjosha!“
Ins Kabinett trat ein junger und hübscher Offizier. Ich sah ihn begierig an, ich hatte ihn noch nie gesehen. Das heißt, ich sage ‚hübsch‘, wie das alle von ihm sagten, aber in diesem jungen und hübschen Gesicht lag etwas, was nicht ganz anziehend war. Ich erwähne das hier als ersten Eindruck, den ich im ersten Augenblick von ihm empfing, und den ich dann die ganze Zeit nicht mehr habe vergessen können. Er war mager, prachtvoll gewachsen, dunkelblond, hatte ein frisches, aber doch etwas gelbliches Gesicht und einen entschlossenen Blick. Seine schönen dunklen Augen blickten etwas streng und hart, auch wenn er ganz gelassen war. Aber gerade sein entschlossener Blick stieß ab, und zwar, weil man aus irgendeinem Grunde das Gefühl hatte, daß diese Entschlossenheit ihm gar zu billig zu stehen komme. Übrigens, ich verstehe das nicht auszudrücken ... Freilich, der strenge Ausdruck seines Gesichts konnte sehr schnell wechseln und sich plötzlich in einen erstaunlich freundlichen, bescheidenen und zärtlichen verwandeln, und dabei geschah die Verwandlung ersichtlich mit aller Aufrichtigkeit und Echtheit. Diese seine Aufrichtigkeit wirkte ungemein anziehend. Und ich erwähne noch einen Zug: trotz aller Freundlichkeit und Aufrichtigkeit wurde dieses Gesicht niemals fröhlich, nicht einmal wenn der Fürst aus vollem Herzen lachte, – selbst dann fühlte man gleichsam, daß eine wirkliche, helle, leichte Fröhlichkeit niemals in seinem Herzen war ... Übrigens ist es außerordentlich schwer, einen Menschen so zu beschreiben. Das verstehe ich gar nicht. Der alte Fürst beeilte sich sofort, nach seiner dummen Angewohnheit, uns bekanntzumachen.
„Dies ist mein junger Freund Arkadi Andrejewitsch (wieder sagte er Andrejewitsch!) Dolgoruki.“
Der junge Fürst wandte sich mir sofort mit doppelt höflichem Gesichtsausdruck zu; man sah aber, daß mein Name ihm völlig unbekannt war.
„Es ist ... ein Verwandter Andrei Petrowitschs,“ raunte ihm mein abscheulicher Fürst zu. (Wie sie einen mitunter ärgern können, diese alten Herren mit ihren Angewohnheiten!) Der junge Fürst erriet nun sofort, wer ich war.
„Ach! Ich habe schon früher von Ihnen gehört ...“ sagte er schnell. „Ich hatte das außerordentliche Vergnügen, im vorigen Jahr in Luga Ihr Fräulein Schwester Lisaweta Makarowna kennen zu lernen ... Auch sie hat mir von Ihnen erzählt ...“
Ich wunderte mich: aus seinem Gesicht strahlte entschieden aufrichtige Freude.
„Erlauben Sie, Fürst,“ sagte ich stockend, während ich meine beiden Hände auf den Rücken legte, „ich muß Ihnen offen sagen, – und es freut mich, daß ich das im Beisein unseres lieben Fürsten sagen kann, – daß ich zwar eine Begegnung mit Ihnen sogar gewünscht habe, und noch kürzlich, gestern noch, aber zu einem ganz anderen Zweck. Ich sage Ihnen das ganz offen, wie sehr Sie sich darüber auch wundern mögen. Kurz, ich wollte Sie fordern wegen der Beleidigung, die Sie Werssiloff vor anderthalb Jahren in Ems zugefügt haben. Und obschon Sie meine Forderung vielleicht gar nicht angenommen hätten, da ich ja noch ein halber Gymnasiast und ein noch nicht volljähriger Jüngling bin, so hätte ich Sie dennoch gefordert, gleichviel wie Sie das aufgefaßt oder sich dazu verhalten hätten ... und ich gestehe, ich habe auch jetzt noch dieselbe Absicht.“
Der alte Fürst äußerte später, es sei mir gelungen, das alles ganz vorzüglich zu sagen.
Im Gesicht des jungen Fürsten drückte sich aufrichtige Betrübnis aus.
„Sie haben mich nur nicht aussprechen lassen,“ sagte er eindringlich. „Wenn ich mich mit herzlicher Freude an Sie gewandt habe, so geschah das von mir aus infolge meiner gegenwärtigen, meiner jetzigen Gefühle für Andrei Petrowitsch. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht gleich alle inzwischen hinzugekommenen Momente erklären kann, aber ich versichere Sie bei meiner Ehre, daß ich meine unselige Tat in Ems schon längst aufs tiefste bereue. Als ich mich jetzt nach Petersburg aufmachte, hatte ich schon beschlossen, Andrei Petrowitsch jede überhaupt mögliche Genugtuung zu geben, ich meine, ihn direkt und buchstäblich um Entschuldigung zu bitten, und das in eben der Form, die er selbst bestimmt. Diese Veränderung meiner Auffassung haben höhere und mächtigere Einflüsse verursacht. Daß wir gerade einen Prozeß führten, konnte auf meinen Entschluß nicht den geringsten Einfluß haben. Doch seine gestrige Handlung mir gegenüber hat mich, ich muß sagen, bis in die Seele erschüttert, und sogar jetzt noch, werden Sie es mir glauben, bin ich – wie noch nicht zu mir gekommen. Und da muß ich Ihnen nun mitteilen, und deshalb bin ich auch zum Fürsten gekommen, um ihm von diesem außergewöhnlichen Umstand Mitteilung zu machen: vor drei Stunden, also gerade während der Zeit, als er mit unserem Anwalt die Sache gesetzmäßig erledigte, erschien bei mir ein Bevollmächtigter Andrei Petrowitschs und überbrachte mir seine Forderung ... eine formelle Forderung wegen des Vorfalls in Ems ...“
„Er hat Sie gefordert?“ rief ich und fühlte, wie meine Augen aufblitzten und das Blut mir heiß ins Gesicht schoß.
„Ja, er hat mich gefordert. Ich nahm die Forderung selbstverständlich an, beschloß aber, noch bevor das Duell ausgetragen wird, einen Brief an ihn zu schreiben, in dem ich meine jetzige Ansicht über mein damaliges Vorgehen erklären und meine ganze Reue wegen dieses entsetzlichen Irrtums aussprechen wollte ... denn es war nur ein Irrtum, ein unseliger, verhängnisvoller Irrtum! Ich muß bemerken, daß meine Stellung im Regiment ein solches Vorgehen meinerseits zu einem Wagnis machte: durch einen solchen Brief vor dem Austrag fordert man die öffentliche Meinung heraus ... Sie verstehen? Aber nichtsdestoweniger entschloß ich mich, bloß kam ich nicht dazu, den Brief abzusenden; denn etwa eine Stunde nach der Forderung erhielt ich von ihm ein Schreiben, in dem er mich wegen der Beunruhigung um Entschuldigung bittet: ich möchte die Forderung vergessen! Und er fügt hinzu, er bereue seine ‚vorübergehende Anwandlung von Kleinmut und Selbstsucht‘ – das sind seine eigenen Worte. So hat er mir nun den Schritt mit dem Brief unendlich erleichtert. Ich habe den Brief noch nicht abgesandt, bin aber gerade deswegen hergekommen, um mit dem Fürsten über etwas Diesbezügliches zu sprechen ... Und glauben Sie mir, ich habe unter meinen Gewissensbissen mehr gelitten, als vielleicht sonst jemand ... Genügen Ihnen diese Erklärungen wenigstens vorläufig, Arkadi Makarowitsch? Werden Sie mir die Ehre erweisen, meiner Aufrichtigkeit vollen Glauben zu schenken?“
Ich war vollständig besiegt; ich sah in ihm eine Offenherzigkeit, an deren Echtheit nicht zu zweifeln war, und die ich von ihm am allerwenigsten erwartet hätte. Überhaupt hatte ich nichts Ähnliches erwartet. Ich murmelte irgend etwas zur Antwort und streckte ihm plötzlich meine Hände entgegen: er schüttelte sie freudig mit beiden Händen. Darauf führte er den alten Fürsten ins Nebenzimmer und sprach dort einige Minuten mit ihm. „Wenn Sie mir ein besonderes Vergnügen bereiten wollen,“ wandte er sich laut und kurz an mich, als er aus dem Schlafgemach des alten Fürsten wieder heraustrat, „so fahren Sie mit mir jetzt gleich zu mir, und ich zeige Ihnen den Brief, den ich Andrei Petrowitsch sende, und gleichzeitig seinen Brief an mich.“
Ich willigte mit Vergnügen ein. Mein alter Fürst wurde bei unserem Aufbruch sehr geschäftig und rief mich auch noch auf einen Augenblick in sein Schlafgemach.
„Mon ami, wie froh ich bin, wie froh ich bin ... Wir reden noch darüber, über alles, aber später. Jetzt jedoch, sieh, ich habe hier zwei Briefe in meinem Portefeuille: der eine ist hinzubringen, und da ist noch persönliche Rücksprache zu nehmen, und der andere ist an die Bank – und dort ist dasselbe zu tun ...“
Und damit händigte er mir zwei angeblich wichtige Schreiben ein und tat, als erfordere der Auftrag große Mühe und Aufmerksamkeit. Ich hatte nur hinzufahren und persönlich zu übergeben, zu quittieren usw.
„Ach, Sie Schlauberger!“ rief ich lachend und nahm die Briefe, „ich bin überzeugt, das ist alles nichts von Bedeutung, und was da Mühe machen soll, möchte ich auch gern wissen, – aber Sie haben sich diesen Auftrag einzig für mich ausgedacht, um mich glauben zu machen, ich hätte hier was zu tun und bekäme das Geld nicht umsonst!“
„Mon enfant,[35] ich schwöre dir, du irrst dich: das sind zwei überaus wichtige und unaufschiebbare Sachen ... Cher enfant!“ rief er auf einmal, unendlich gerührt, „du mein lieber Junge!“ (Er legte mir beide Hände aufs Haupt.) „Ich segne dich und dein Los ... seien wir immer so reinen Herzens, wie du es heute warst ... seien wir gut und schön, soviel wir nur irgend können ... laß uns alles Schöne lieben ... in allen seinen verschiedenartigen Formen ... Und – enfin ... enfin rendons grâce ... et je te bénis!“[36]
Er sprach nicht zu Ende und begann zu schluchzen über meinem Haupte. Ich muß gestehen, auch mir waren die Tränen nahe; wenigstens umarmte ich meinen Sonderling herzlich und mit Freuden. Wir küßten uns aufrichtig.