Als ich auf die Straße trat, bog ich nach links und ging weiter, ohne zu denken, wohin. Meine Gedanken waren alle wie zerrissen und verstreut. Ich ging langsam, und ich glaube, ich war schon ein gutes Stück gegangen, wohl über fünfhundert Schritt, als ich plötzlich einen leichten Schlag auf meiner Schulter fühlte. Ich sah mich um und erblickte Lisa: sie hatte mich eingeholt und mit dem Sonnenschirm leicht auf die Schulter geschlagen. Etwas ungeheuer Lustiges und zugleich auch etwas Schelmisches lag in ihrem strahlenden Blick.
„Nein, bin ich froh, daß du nach dieser Seite gegangen bist, sonst hätte ich dich heute nicht mehr erreicht!“ Sie war vom schnellen Gehen etwas außer Atem.
„Wie du außer Atem bist.“
„Ich bin so schnell gegangen, fast gelaufen, um dich einzuholen.“
„Lisa, das warst doch du, die ich vorhin gesehen habe?“
„Wo?“
„Beim Fürsten ... beim Fürsten Ssokolski ...“
„Nein, das war nicht ich, nein, mich hast du nicht gesehen ...“
Ich schwieg; so gingen wir etwa zehn Schritt. Plötzlich fing Lisa furchtbar zu lachen an.
„Ich, ach, natürlich war ich es, ich, ich! Hör mal, du hast mich doch selbst gesehen, hast mir in die Augen gesehen und ich dir, wie kannst du nun noch fragen, ob ich es war? Nein, das ist mir mal ein Charakter! Und weißt du, ich wollte furchtbar lachen, als du mir dort in die Augen sahst; denn du sahst furchtbar komisch aus!“ Und sie lachte unbändig. Ich fühlte, wie sofort mein ganzer Kummer aus meinem Herzen schwand.
„Aber wie, sag doch, wie bist du denn hingekommen?“
„Ich war bei Anna Fjodorowna.“
„Bei was für einer Anna Fjodorowna?“
„Bei der Stolbejeff. Als wir in Luga waren, saß ich ganze Tage bei ihr, sie hat auch Mama bei sich empfangen und ist sogar selbst zu uns gekommen. Sonst aber hat sie dort fast mit keinem Menschen verkehrt. Mit Andrei Petrowitsch ist sie entfernt verwandt, und auch mit den Fürsten Ssokolski ist sie verwandt; sie ist, wenn ich mich nicht irre, eine Großtante des Fürsten.“
„So wohnt sie beim Fürsten?“
„Nein, der Fürst wohnt bei ihr.“
„Aber wessen Wohnung ist denn das?“
„Natürlich ihre Wohnung. Sie hat diese Wohnung schon seit einem ganzen Jahr. Der Fürst ist ja erst vor kurzem angekommen und bei ihr abgestiegen. Und auch sie ist erst seit vier Tagen in Petersburg.“
„Nun denn ... weißt du was, Lisa, hol’ sie der Henker, ihre Wohnung und sie selbst ...“
„Nein, sie ist ein prächtiger Mensch ...“
„Na, meinetwegen, das kann sie ja sein, aber wir sind selbst prächtige Menschen! Sieh, was das für ein Tag ist, sieh, wie schön es ist! Und was du heute für eine Schönheit bist, Lisa! Aber weißt du, du bist doch noch ein richtiges Kind.“
„Arkadi, sag, jenes junge Mädchen von gestern ...“
„Ach, sie tut mir so leid, Lisa, ach Gott, so schrecklich leid!“
„Ja, wie ist das traurig! Was war das für ein Los! Weißt du, es ist sogar sündhaft, daß wir hier so fröhlich gehen, während ihre Seele jetzt irgendwo in der Finsternis schwebt, irgendwo in einer bodenlosen Finsternis, mit ihrer Sünde und mit dem Unrecht, das man ihr angetan. Arkadi, wer ist an ihrer Sünde schuld? Wie ist das grauenvoll! Denkst du auch jemals an diese Finsternis? Ach, wie ich den Tod fürchte, und wie sündhaft das ist! Ich liebe die Dunkelheit nicht, da ist doch solch eine Sonne ein ganz anderes Ding! Mama sagt, es sei Sünde, sich zu fürchten ... Arkadi, sag, kennst du Mama gut?“
„Noch wenig, Lisa, nur wenig.“
„Wenn du wüßtest, was für ein Wesen sie ist! Du mußt Sie kennen lernen! Man muß sie erst ganz besonders und in ihrer Art verstehen lernen ...“
„Aber auch dich habe ich ja bisher nicht gekannt und kenne dich jetzt doch ganz und gar. In einer Minute habe ich dich verstehen gelernt und begriffen. Du, Lisa, fürchtest zwar den Tod, aber du bist doch stolz, unerschrocken, mutig. Bist besser als ich, viel besser als ich! Ich liebe dich furchtbar, Lisa. Ach, Lisa! Mag, wenn es sein muß, der Tod kommen, aber bis dahin – leben, leben! Laß uns um jene Unglückliche trauern, aber das Leben laß uns dennoch segnen, nicht? Nicht? Ich habe eine ‚Idee‘, Lisa. Lisa, du weißt doch, daß Werssiloff die Erbschaft abgelehnt hat? Du kennst meine Seele nicht, Lisa, du weißt nicht, was dieser Mensch für mich bedeutet hat!“
„Wie sollte ich das nicht wissen, – alles weiß ich.“
„Alles weißt du? Nun ja, dafür bist du eben du! Du bist klug; du bist klüger als Wassin. Du und Mama – ihr habt durchdringende Augen, menschenfreundliche Augen, das heißt, ich meine den Blick, nicht die Augen, ich rede dummes Zeug ... Ich bin in vieler Hinsicht schlecht, Lisa.“
„Dich muß man nur an der Hand nehmen, und das ist alles!“
„Nimm mich, Lisa. Wie schön es heute ist, dich anzusehen. Ja, weißt du auch, daß du ganz entzückend aussiehst? Ich habe noch niemals deine Augen gesehen ... Erst jetzt zum erstenmal ... Wo hast du sie heute hergenommen, Lisa? Wo gekauft? Wieviel bezahlt? Lisa, ich habe noch nie einen Freund gehabt, ja, und ich betrachte diese Freundschaftsidee überhaupt als Unsinn; aber Freundschaft mit dir wäre kein Unsinn ... Willst du, so laß uns Freunde werden? Du verstehst, was ich sagen will ...?“
„Sehr gut sogar.“
„Und weißt du, ohne Abmachungen, ohne Kontrakt, – laß uns einfach Freunde sein!“
„Ja, einfach, ganz einfach, aber nur eine Abmachung: wenn wir uns irgendeinmal gegenseitig beschuldigen sollten, wenn wir einmal unzufrieden werden oder sogar böse und schlecht, ja, selbst wenn wir alles dieses vergessen sollten, – so wollen wir doch niemals den heutigen Tag und diese Stunde vergessen! Geben wir uns das Wort darauf! – Das Wort, daß wir immer dieses Tages gedenken werden, wo wir zwei so Hand in Hand gingen und lachten und uns so froh zumute war ... Ja? Ja?“
„Ja, Lisa, ja, und ich schwöre dir das. Aber weißt du, Lisa, mir ist, als hörte ich dich zum erstenmal ... Lisa, hast du viel gelesen?“
„Bis jetzt hast du noch nie danach gefragt! Erst gestern zum erstenmal, als ich mich versprach und mich wie Mama ausdrückte, geruhten Sie, das zu bemerken, mein hochgeehrter Herr und Philosoph.“
„Warum hast du denn nicht selbst mit mir zu sprechen angefangen, wenn ich so ein Dummkopf war?“
„Ich habe immer darauf gewartet, daß du klüger werden würdest. Ich habe Sie, mein Herr, von Anfang an durchschaut, und wie ich Sie, Arkadi Makarowitsch, durchschaut hatte, da dachte ich bei mir: ‚Er wird schon zu mir kommen, es wird ja bestimmt damit enden, daß er kommt,‘ – nun, und so nahm ich mir vor, diese Ehre Ihnen zu überlassen, als erster den Schritt zu tun. ‚Nein,‘ dachte ich, ‚mach du mir erst mal den Hof!‘“
„Ach, du Kokette! Na, Lisa, gestehe mal ehrlich: Hast du in diesem Monat über mich gelacht oder nicht?“
„Oh! – du bist so komisch, du bist furchtbar komisch, Arkadi! Und weißt du, vielleicht habe ich dich gerade deswegen am meisten geliebt in diesem Monat, – weil du solch ein Sonderling bist. Aber du bist in vielen Dingen auch ein häßlicher Sonderling – das sage ich dir, damit du mir nicht zu stolz wirst. Aber weißt du auch, wer noch über dich gelacht hat? Mama hat über dich gelacht, mit mir zusammen: ‚So ein drolliger Kauz,‘ flüsterte sie mir dann zu, ‚sieh nur, was für ein drolliger Kauz!‘ Du aber sitzt und denkst dabei, wir säßen und zitterten vor dir.“
„Lisa, wie denkst du über Werssiloff?“
„Ich halte sehr viel von ihm; aber weißt du, wir wollen jetzt lieber nicht über ihn sprechen. Heute brauchen wir nicht über ihn zu sprechen, nicht wahr?“
„Ja, du hast recht! Nein, du bist wirklich furchtbar klug, Lisa! Du bist unbedingt klüger als ich. Warte nur, Lisa, ich mache mit alledem ein Ende, und vielleicht sage ich dir dann etwas ...“
„Warum machst du nun ein so finsteres Gesicht?“
„Nein, ich mache kein finsteres Gesicht, Lisa, das war nur so ... Sieh, Lisa, ich spreche es lieber offen aus: das ist so eine meiner Eigenheiten, daß ich es nicht liebe, wenn man manches Empfindliche, was man so in der Seele hat, mit den Fingern anrührt ... oder sagen wir: wenn man gewisse Gefühle oft anderen aufdeckt oder sie hervorzieht, damit alle sie sehen, so ist das doch eine Schande, nicht wahr? Deshalb ziehe ich es vor, düster zu sein und zu schweigen. Du bist klug, du mußt das verstehen.“
„Nicht nur das, ich bin auch selbst so; ich habe dich in allem verstanden. Weißt du auch, daß auch Mama so ist?“
„Ach, Lisa! Wenn man nur länger auf Erden leben könnte! Wie? Was sagtest du?“
„Nein, ich habe nichts gesagt.“
„Du siehst mich an?“
„Ja, und auch du siehst mich an. Ich sehe dich an und liebe dich.“
Ich begleitete sie fast bis nach Hause und gab ihr meine Adresse. Beim Abschied küßte ich sie zum erstenmal im Leben.