IV.

Werssiloff war nicht allein. Eines muß ich vorausschicken: da er nun einmal diesen verhängnisvollen Brief an Katerina Nikolajewna und eine Abschrift desselben tatsächlich an Baron Bjoring abgesandt hatte (und nur Gott mochte wissen, weshalb), war er selbstverständlich auch auf die Folgen seiner Handlungsweise gefaßt gewesen und hatte deshalb schon am Morgen gewisse Vorkehrungen getroffen. So waren auf seinen Wunsch hin Mama und Lisa (die, wie ich später erfuhr, an diesem Morgen nicht ganz wohl zurückgekehrt war und sich zu Bett gelegt hatte) nach oben in das Giebelstübchen, in den sogenannten „Sarg“, übergesiedelt; und die Zimmer unten, besonders unser „Wohnzimmer“, waren sorgfältig aufgeräumt und gesäubert worden. Und richtig: um zwei Uhr mittags erschien bei ihm ein Baron R., ein Oberst, etwa vierzig Jahre alt, gleichfalls deutscher Abstammung, von hohem Wuchs, hager, doch offenbar von großer körperlicher Kraft, und auch so rötlich blond wie Bjoring, nur zeigte sich bei ihm schon der Anfang einer Glatze. Er war einer von diesen Baronen R., deren es sehr viele in der russischen Armee gibt, die alle als „Barone“ ein übertriebenes Ehrgefühl haben, gar kein Vermögen besitzen und nur von ihrem Gehalt leben, dabei im Dienst unermüdlich und vortreffliche Frontoffiziere sind. Sie waren bereits mitten in ihrer Auseinandersetzung, als ich eintrat, und schienen beide sehr gereizt zu sein. Wie hätten sie es auch nicht sein sollen! Werssiloff saß auf dem Sofa hinter dem Tisch, der Baron seitlich in einem Sessel. Werssiloff war bleich, sprach jedoch sehr beherrscht und jedes Wort scharf durch die Zähne; der Baron dagegen sprach mit erhobener Stimme und war sichtlich zu heftigen Bewegungen geneigt, bezwang sich aber noch, wenn auch nur mit Mühe, blickte streng, hochmütig und sogar mit Verachtung drein, doch sah man ihm trotzdem eine gewisse Verwunderung an. Als er mich erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht; Werssiloff aber schien sich über mein Erscheinen fast zu freuen.

„Guten Tag, mein Lieber. Baron, dieser noch sehr junge Mann ist derselbe, von dem in meinem Brief die Rede ist, aber ich versichere Sie, seine Anwesenheit wird uns nicht stören und uns vielleicht sogar zustatten kommen.“

Der Baron musterte mich mit Verachtung.

„Mein Lieber,“ fügte Werssiloff hinzu, indem er sich zu mir wandte, „es freut mich, daß du gekommen bist; du setzt dich vielleicht so lange dorthin in die Ecke, bis der Baron und ich unsere Auseinandersetzung beendet haben. Ich bitte dich darum. Beruhigen Sie sich, Baron, er wird uns nicht stören und nur dort in der Ecke sitzen.“

Mir war das schließlich einerlei; denn ich hatte meinen Vorsatz schon gefaßt, und außerdem war ich nicht wenig verwirrt. Ich setzte mich stumm in die Ecke, so weit wie möglich entfernt, und verharrte dort regungslos ...

„Ich versichere Ihnen nochmals, Baron,“ sagte Werssiloff mit fester Stimme, „daß ich Katerina Nikolajewna Achmakoff, an die ich diesen unwürdigen und krankhaften Brief geschrieben habe, nicht nur für das edelste Wesen, sondern für den Gipfel aller Vollkommenheiten halte!“

„Eine solche Widerrufung Ihrer eigenen Worte ist aber, wie ich Ihnen bereits erklärt habe, fast eine Wiederholung derselben,“ erwiderte der Baron ungehalten. „Ihre Worte bezeugen entschieden nicht das, was man Ehrerbietung nennt.“

„Und doch kann ich Sie nur ersuchen, meine Worte in ihrem buchstäblichen Sinne aufzufassen. Ich leide an gewissen Anfällen und ... muß deshalb auch eine Kur durchmachen. Und in einem solchen Augenblick habe ich leider ...“

„Solche Erklärungen kann ich unter keinen Umständen gelten lassen. Ich mache Sie schon zum ... ja, ich weiß nicht, zum wievielten Male darauf aufmerksam, daß Sie unentwegt fortfahren, auf Ihrer falschen Auffassung zu beharren, und das vielleicht sogar absichtlich! Ich habe Sie schon gleich zu Anfang darauf hingewiesen, daß diese Dame bei Behandlung der ganzen Frage, das heißt Ihres Schreibens an die Generalin Achmakoff, in unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung ein für allemal ausgeschaltet werden muß; Sie aber kommen immer wieder darauf zurück. Baron Bjoring hat mich gebeten und mich beauftragt, ihm in dieser Angelegenheit nur darüber Klarheit zu verschaffen, was ihn allein und persönlich trifft, also über Ihre herausfordernde Zusendung einer Kopie jenes Briefes an ihn und ferner über Ihre Bemerkung, daß Sie zu jeder von ihm gewünschten Satisfaktion bereit seien.“

„Aber dieses letztere dürfte doch wohl, denke ich, ohne weiteres klar sein.“

„Ich verstehe, das haben Sie schon gesagt. Sie sprechen also nicht einmal Ihre Entschuldigung aus, sondern bestehen unverändert nur darauf, daß Sie zu jeder von ihm gewünschten Satisfaktion bereit sind. Aber das ist doch gar zu wohlfeil! Und deshalb halte ich mich schon jetzt für berechtigt, in Anbetracht der Wendung, die Sie dieser Auseinandersetzung hartnäckig zu geben suchen, Ihnen nun auch meinerseits alles, und zwar rückhaltlos, zu sagen: das heißt, ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß Baron Bjoring unter kei–nen Umständen mit Ihnen etwas zu tun haben kann ... auf der Grundlage gesellschaftlicher Gleichstellung.“

„Eine solche Auffassung ist natürlich die vorteilhafteste für Ihren Freund, den Baron Bjoring, und ich kann Ihnen gestehen, Sie überraschen mich damit nicht im geringsten: ich war auf so etwas gefaßt.“

Nebenbei bemerkt: ich hatte schon aus den ersten Worten, ja, schon auf den ersten Blick erkannt, daß Werssiloff absichtlich auf einen Zusammenstoß lossteuerte, diesen reizbaren Baron geflissentlich reizte und herausforderte und seine Geduld vielleicht einer gar zu harten Probe aussetzte. Der Baron zuckte zusammen, konnte sich aber noch beherrschen.

„Ich habe gehört, daß Sie witzig sein können, aber Witz ist noch nicht Verstand.“

„Eine außerordentlich tiefe Bemerkung, Oberst.“

„Ich habe Sie nicht um Ihren Beifall gebeten,“ fuhr der Baron gereizt auf, „und bin nicht gekommen, um hier leeres Geschwätz zu führen! Ich ersuche Sie, mich anzuhören und zu Ende sprechen zu lassen: Baron Bjoring war sich keineswegs klar darüber, was er von Ihnen nach Ihrem Brief halten sollte, da ein solches Schreiben zweifellos Ihre Reife für eine Irrenanstalt bewies. Und selbstverständlich hätte man sofort Mittel finden können, um Sie ... zu beruhigen. Aber aus gewissen besonderen Gründen entschloß man sich zur Nachsicht mit Ihnen, und es wurden Erkundigungen über Sie eingezogen. So stellte es sich heraus, daß Sie früher allerdings zur guten Gesellschaft gehört haben und Gardeoffizier gewesen sind, jetzt jedoch in der Gesellschaft nicht mehr empfangen werden und daß Ihr Ruf heute ein mehr als zweifelhafter ist. Trotzdem bin ich hergekommen, um mich persönlich zu unterrichten, und da erlauben Sie sich noch zum Überfluß, leere Worte zu machen und sich damit zu entschuldigen, daß Sie an Anfällen leiden. Das genügt! Baron Bjoring kann in diesem Fall sich und seinen Namen nicht so tief erniedrigen, daß er sich auf diese Geschichte überhaupt einläßt ... Und deshalb, mein Herr, bin ich ermächtigt, Ihnen zu erklären: Sollten Sie sich noch einmal so etwas oder auch nur etwas Ähnliches erlauben, so werden unverzüglich Mittel gefunden werden, Sie zur Ruhe zu bringen, und zwar schnell und sicher wirkende, davon können Sie überzeugt sein. Wir leben nicht in einem Urwalde, sondern in einem wohlgeordneten Staat!“

„Sind Sie wirklich so fest davon überzeugt, mein guter Baron R.?“

„Zum Teufel!“ Der Baron sprang plötzlich auf. „Sie führen mich gar zu sehr in Versuchung, Ihnen unverzüglich zu beweisen, daß ich keineswegs ‚Ihr guter Baron R.‘ bin!“

„Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen,“ sagte Werssiloff und erhob sich gleichfalls, „daß meine Frau und meine Tochter sich hier in der Nähe befinden ... und deshalb würde ich Sie bitten, nicht so laut zu sprechen, da Ihr Geschrei von ihnen gehört werden könnte.“

„Ihre Frau ... Zum Teufel! Wenn ich hier gesessen und mit Ihnen gesprochen habe, so habe ich das nur getan, um Ihnen einen anderen Standpunkt in dieser widerlichen Geschichte beizubringen!“ fuhr der Baron laut und zornig fort und dachte nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. „Ich habe aber genug davon!“ schrie er wütend. „Sie sind nicht nur aus dem Kreise anständiger Menschen ausgeschlossen, Sie sind überdies noch – ein Maniak, jawohl, sind mit fixen Ideen behaftet, und als solchen hat man Sie uns auch bezeichnet! Sie sind es nicht wert, daß man mit Ihnen Nachsicht hat, und ich erkläre Ihnen, heute noch werden die erforderlichen Schritte getan werden, und man wird Sie an einen Ort beordern, wo man es schon verstehen wird, Sie wieder zur Vernunft zu bringen ... und Sie aus der Stadt zu schaffen!“ Er verließ das Zimmer mit großen, schnellen Schritten. Werssiloff geleitete ihn nicht hinaus: er stand da, sah mich zerstreut an, doch wie es schien, ohne mich zu sehen; auf einmal lächelte er, schüttelte seine Haare zurück, nahm dann seinen Hut und ging zur Tür. Ich faßte ihn am Arm.

„Ach, ja, auch du bist hier? Du ... hast es gehört?“ Er war vor mir stehengeblieben.

„Wie haben Sie das tun können! Wie haben Sie es so entstellen und mir diese Schande antun können ...! Und noch dazu mit solcher Arglist!“

Er sah mich die ganze Zeit unablässig an, aber sein Lächeln trat immer deutlicher hervor und schien geradezu in ein Lachen übergehen zu wollen.

„Man hat mir die Schmach angetan ... vor ihren Augen! Vor ihren Augen! Man hat mich verspottet, und er ... hat mich auf der Straße gestoßen!“ schrie ich außer mir.

„Wirklich? Ach, du armer Junge, wie ich dich bedauere ... So hat man dich dort verspottet?“

„Sie lachen noch, Sie lachen noch über mich! Sie finden es lächerlich!“

Er riß seinen Arm aus meiner Hand, setzte den Hut auf und verließ lachend, bereits wirklich lachend, die Wohnung. Wozu sollte ich ihm nachlaufen, wozu jetzt noch? Ich hatte alles begriffen und – in einem Augenblick alles verloren! Auf einmal sah ich meine Mutter in der Tür; sie war von oben heruntergekommen und blickte sich ängstlich um.

„Ist er fortgegangen?“

Ich umfing sie schweigend, und sie drückte sich fest, fest an mich, schmiegte sich geradezu an mich.

„Mama, Liebste, können Sie denn wirklich noch bei ihm bleiben? Kommen Sie gleich mit mir, ich werde Sie verbergen und beschützen, ich werde für Sie wie ein Sträfling arbeiten, für Sie und für Lisa ... Kommen Sie, verlassen wir sie alle, alle, und gehen wir fort! Leben wir ganz allein! Mama, wissen Sie noch, wie Sie mich bei Touchard besuchten und ich Sie nicht anerkennen wollte?“

„Ich weiß es noch, Liebling; ich bin mein Leben lang schuldig vor dir; ich habe dich geboren und dich nicht gekannt.“

„Daran ist nur er schuld, Mama, er allein ist an allem schuld; er hat Sie niemals geliebt!“

„Doch, er hat mich geliebt.“

„Gehen wir, kommen Sie, Mama!“

„Wohin soll ich denn von ihm fortgehen, ist er denn glücklich?“

„Wo ist Lisa?“

„Sie liegt zu Bett; als sie nach Haus kam, fühlte sie sich nicht wohl und legte sich hin. Ich habe solche Angst. Ist man denn dort sehr böse auf ihn? Was werden sie jetzt mit ihm tun? Wohin ist er gegangen? Womit hat dieser Offizier ihm hier gedroht?“

„Ach, widerfahren wird ihm ja deshalb doch nichts, beruhigen Sie sich, Mama; ihm widerfährt nie etwas, und ihm kann auch nichts widerfahren. Er ist schon einmal so ein Mensch! Da kommt Tatjana Pawlowna, fragen Sie die, wenn Sie mir nicht glauben, da ist sie!“ (Tatjana Pawlowna trat aus dem Korridor ins Zimmer.) „Auf Wiedersehen, Mama. Ich werde gleich zurückkommen, und dann werde ich Sie nochmals dasselbe fragen ...“

Ich eilte hinaus; ich konnte keinen Menschen sehen, wer es auch sein mochte, nicht nur Tatjana Pawlowna; auch Mama quälte mich. Ich wollte allein sein, allein!

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