V.

Aber ich hatte kaum eine Straße durchschritten, als ich schon fühlte, daß ich nicht mehr gehen konnte, daß ich mich sinn- und zwecklos unter diesen fremden teilnahmslosen Menschen herumstieß. Doch wo sollte ich bleiben? Wer brauchte mich, und – was brauchte ich? Ich schleppte mich weiter und verfolgte ganz mechanisch den gewohnten Weg zum Fürsten Ssergei Petrowitsch. Dabei dachte ich aber gar nicht an ihn. Er war nicht zu Haus. Dem Pjotr (seinem Diener) sagte ich, ich würde im Kabinett auf ihn warten (was ich schon oft getan hatte). Das Kabinett war ein großer hoher Raum, in dem sehr viele Möbel standen. Ich suchte mir den dunkelsten Winkel aus, setzte mich dort auf einen Diwan, stützte die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände. Ja, das war die Frage: „Was brauchte ich jetzt?“ Wenn ich damals diese Frage bewußt hätte formulieren können, so wäre ich doch zu nichts weniger fähig gewesen, als sie zu beantworten.

Aber ich konnte weder vernünftig denken noch logische Fragen formulieren. Ich habe schon einmal gesagt, daß ich zu guter Letzt von den Ereignissen förmlich erdrückt war. Ich saß dort, und in meinem Kopf drehte sich alles. In mir war ein Chaos. „Ja, ich habe alles in ihm übersehen und nichts bemerkt, nichts begriffen,“ ging es mir flüchtig durch den Sinn. „Er hat mir soeben ins Gesicht gelacht; aber er lachte nicht über mich: er hat ja die ganze Zeit nur an Bjoring gedacht, nicht an mich. Vorgestern bei Tisch, als ich bei ihnen aß, da wußte er schon alles und war finster. Er hat meine dumme Beichte in jenem Kellerrestaurant aufgegriffen und sie auf Kosten der Wahrheit entstellt. Aber wozu? Er glaubt ja selbst nicht ein halbes Wort von dem, was er in seinem Brief an sie geschrieben hat. Ihm war es nur darum zu tun, sie zu beleidigen, sinnlos und grundlos zu beleidigen, ohne selbst zu wissen, wozu; er hat einfach den ersten besten Vorwand benutzt, und diesen Vorwand gab ich ihm mit meiner Beichte ... Die Tat eines tollen Hundes! Will er jetzt etwa Bjoring totschießen? Warum? Sein Herz wird es schon wissen, warum! Ich aber habe keine Ahnung davon, was in seinem Herzen vorgeht ... Nein, nein, auch jetzt weiß ich es nicht ...! Sollte er sie denn wirklich bis zu solcher Leidenschaft lieben? Oder sie so leidenschaftlich hassen? Ich weiß es nicht; aber weiß er es denn selbst? Was sagte ich vorhin meiner Mutter, ‚daß ihm nichts widerfahren kann‘, – was wollte ich damit sagen? Habe ich ihn verloren, oder habe ich ihn noch nicht verloren?“

„... Sie hat gesehen, wie ich gestoßen wurde ... Sie hat wohl gelacht! – oder sollte sie nicht gelacht haben? Ich hätte an ihrer Stelle gelacht! Der Spion wurde geschlagen, der Spion ...!“

„Was hat er damit sagen wollen“ (das fiel mir ganz plötzlich ein), „was hat er damit sagen wollen, was er in diesen schändlichen Brief noch hineingeflochten hat, daß das Dokument, ihr Brief, gar nicht verbrannt worden ist und noch existiert ...?“

„Er wird Bjoring nicht totschießen, er sitzt jetzt bestimmt in dem Kellerrestaurant und hört die ‚Lucia‘. Aber nach der ‚Lucia‘ wird er vielleicht hingehen und Bjoring erschießen. Bjoring hat mich gestoßen, das ist so gut wie geschlagen; hat er mich wirklich geschlagen? Bjoring ist sogar zu stolz, Werssiloff zu fordern, wie sollte er da eine Forderung von mir annehmen? Vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn morgen auf der Straße niederzuschießen ...“ Diesen letzten Gedanken ließ ich mir ganz mechanisch durch den Kopf gehen, ohne im geringsten dabei zu verweilen.

Hin und wieder war es mir aber, als müsse sogleich die Tür aufgehen und Katerina Nikolajewna tritt herein und reicht mir die Hand, und da lachen wir beide ... Oh, mein Student, mein lieber Student!

So zogen die Bilder und Gedanken an mir vorüber, wie meine Wünsche sie heraufbeschworen, als es im Zimmer schon dunkel geworden war.

„Wie lange ist es denn her, daß ich noch vor ihr stand, mich verabschiedete, und sie reichte mir die Hand und lachte? Wie hat es geschehen können, daß wir in so kurzer Zeit so entsetzlich weit auseinandergekommen sind? Sollte ich nicht einfach zu ihr gehen und mich sofort mit ihr aussprechen, im Augenblick, und ganz einfach alles erklären, ganz einfach?! Mein Gott, wie ist denn das gekommen, daß so plötzlich eine ganz neue Welt angefangen hat! Ja, eine neue Welt, eine ganz, ganz neue Welt ... Lisa und der Fürst, die sind noch aus der alten ... Ich bin doch jetzt hier beim Fürsten. Und Mama, wie hat sie mit ihm leben können, wenn es so ist! Ich würde es gekonnt haben, ich könnte alles, aber sie? Was soll jetzt werden?“ Und in meinem kranken Hirn sah ich wie in einem Wirbelwinde die Gestalten Lisas, Anna Andrejewnas, Stebelkoffs, des Fürsten, Aferdoffs, aller meiner Bekannten, auftauchen und verschwinden. Meine Gedanken wurden immer formloser und ungreifbarer: ich war froh, wenn ich einen von ihnen ganz erfassen und mich an ihn klammern konnte.

„Ich habe meine ‚Idee‘!“ dachte ich auf einmal bewußt.

„Aber ist es auch so? Habe ich das nicht nur auswendig gelernt? Meine Idee ist – Finsternis und Einsamkeit, aber kann ich denn jetzt noch in die frühere Einsamkeit und Finsternis zurück, ist das für mich jetzt überhaupt noch möglich? Ach, Gott! – Da hab ich das ‚Dokument‘ doch noch nicht verbrannt! Ich habe es vorgestern richtig vergessen. Sobald ich nach Hause komme, verbrenne ich es am Licht, ja, ich zünde einfach ein Licht an und verbrenne den Brief ... Ich weiß nur nicht, ob es das ist, woran ich jetzt denke ...“

Es war schon längst dunkel geworden. Pjotr war einmal gekommen, hatte mir Licht gebracht und mich gefragt, ob ich zu essen wünschte. Ich hatte ihn fortgeschickt und nichts bestellt. Inzwischen war vielleicht eine Stunde vergangen, da kam er wieder und brachte mir Tee. Durstig trank ich ein ganzes Glas. Ich fragte ihn, wieviel Uhr es sei. Es war halb neun, und ich wunderte mich nicht einmal, daß ich schon fünf Stunden gesessen hatte.

„Ich bin dreimal eingetreten,“ berichtete Pjotr, „aber der Herr schienen zu schlafen.“

Ich erinnerte mich nicht, ihn gesehen zu haben; und plötzlich erschrak ich sehr darüber, daß ich „geschlafen“ hatte. Ich stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um nicht wieder zu „schlafen“. Schließlich bekam ich heftige Kopfschmerzen. Es hatte gerade zehn geschlagen, als auf einmal der Fürst eintrat. Ich wunderte mich, daß ich im Glauben gewesen war, auf ihn zu warten: ich hatte ihn ganz vergessen und überhaupt nicht mehr an ihn gedacht.

„Sie sind hier, und ich bin zu Ihnen gefahren, um Sie abzuholen,“ sagte er zu mir.

Sein Gesicht war finster und streng; keine Spur von einem Lächeln war zu sehen. Sein Blick war wie ein einziger starrer Gedanke.

„Ich habe mich den ganzen Tag herumgeplagt, habe alles versucht,“ fuhr er mit reglosem Gesicht fort, „aber alles ist zusammengestürzt, und vor mir steht das Entsetzen ...“

(NB. Zum alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch war er doch nicht gegangen.) „Ich habe Shibelski gesehen und gesprochen, das ist ein unmöglicher Mensch. Also: zuerst muß man das Geld haben, dann kann man weiter sehen. Wenn es aber auch mit dem Gelde nicht gelingt, dann ... Aber ich habe schon beschlossen, vorläufig daran nicht mehr zu denken. Verschaffen wir uns heute nur das Geld, das weitere werden wir dann morgen sehen. Ihr Gewinn von vorgestern ist noch unangerührt. Es fehlten nur drei Rubel an dreitausend. Nach Abzug Ihrer Schuld bekommen Sie noch dreihundertundvierzig Rubel zurück. Nehmen Sie die, und dann noch siebenhundert, damit Sie tausend haben, und ich nehme die übrigen zweitausend. Und jetzt fahren wir zu Serschtschikoff, setzen uns jeder an ein anderes Ende des Tisches und versuchen, zehntausend Rubel zu gewinnen, – vielleicht gelingt uns etwas; wenn nicht – dann ... Übrigens ist das das einzige, was uns noch bleibt.“

Er sah mich fatalistisch an.

„Ja! ja!“ rief ich plötzlich begeistert, und ich fühlte mich förmlich erlöst. „Fahren wir zu Serschtschikoff! Ich habe ja nur deshalb auf Sie gewartet ...“

In Wirklichkeit hatte ich die ganze Zeit nicht einen Augenblick an das Roulette gedacht.

„Aber die Feigheit? Die Erbärmlichkeit dieses Versuchs?“ fragte auf einmal der Fürst.

„Sie meinen, daß wir’s mit dem Spiel versuchen? Aber das ist doch das einzige!“ rief ich. „Geld ist ja alles! Nur wir zwei sind solche Heilige, Bjoring hat sich doch verkauft, Anna Andrejewna hat sich verkauft, Werssiloff aber – haben Sie schon gehört, daß Werssiloff ein Maniak ist? Ein Maniak! Ein Maniak!“

„Sind Sie nicht krank, Arkadi Makarowitsch? Sie haben so sonderbare Augen.“

„Sagen Sie das etwa, weil Sie ohne mich hinfahren wollen? Nein, ich bleibe jetzt nicht zurück. Mir hat doch nicht umsonst die ganze Nacht vom Spiel geträumt! Fahren wir, fahren wir!“ rief ich, als hätte ich damit die Lösung aller Rätsel gefunden.

„Nun, so fahren wir, wenn Sie auch Fieber haben, dort aber ...“

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ein schwerer unheimlicher Ausdruck lag in seinem Gesicht. Wir brachen auf.

„Wissen Sie auch,“ sagte er plötzlich, und blieb in der Tür stehen, „daß es für mich noch einen anderen Ausweg gibt, außer dem Spiel?“

„Was für einen denn?“

„Einen fürstlichen!“

„Was ...? Was meinen Sie?“

„Das werden Sie später erfahren. Nur dieses eine lassen Sie sich gesagt sein: daß ich dieses Auswegs nicht mehr würdig bin, weil es zu spät ist. Fahren wir, aber behalten Sie meine Worte. Versuchen wir es mit dem lakaienhaften Ausweg ... Als ob ich nicht wüßte, daß ich bewußt, aus freiem Willen hinfahre und handle wie ein – Lakai!“

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