Jeder Mensch, wer er auch sei, hat unter seinen Erinnerungen sicherlich eine an ein besonderes Erlebnis, das er für etwas mehr oder weniger Phantastisches, Außergewöhnliches, wenn nicht gar Wunderbares hält oder zu halten geneigt ist, gleichviel, ob das nun ein Traum, eine Begegnung, eine Weissagung oder eine Vorahnung oder sonst etwas von der Art ist. Ich für mein Teil bin auch heute noch geneigt, mein Zusammentreffen damals mit Lambert für ein Ereignis von nahezu mystischer Bedeutung zu halten ... wenigstens was die Umstände und die Folgen des Zusammentreffens anbelangt. Übrigens war dabei von seiner Seite alles auf die natürlichste Weise zugegangen: er war ganz einfach von seiner nächtlichen Beschäftigung (welcher Art dieselbe war, soll später erklärt werden) halbbetrunken nach Hause gegangen, und als er in dieser Querstraße beim Tor einen Augenblick stehengeblieben war, hatte er mich erblickt. In Petersburg hielt er sich erst seit kurzer Zeit auf.
Das Zimmer, in das er mich gebracht hatte, war ein nicht großes, spärlich möbliertes Petersburger Chambre garnie[60] mittlerer Güte. Das stach insofern von ihm ab, als seine Kleider wirklich gut und teuer waren. Auf dem Fußboden standen zwei kleine Koffer, die erst zur Hälfte ausgepackt waren. Eine Ecke des Zimmers war durch einen Schirm abgeteilt, hinter dem ein Bett stand.
„Alphonsine!“ rief Lambert.
„Présente!“[61] antwortete hinter dem Schirm eine plärrende Frauenstimme mit deutlichem Pariser Akzent, und es dauerte nicht länger als höchstens zwei Minuten, da hüpfte hinter dem Schirm Mademoiselle Alphonsine hervor, die gerade aus dem Bett kam und schnell in ein paar Kleidungsstücke und in eine Morgenjacke geschlüpft war, – ein sonderbares Geschöpf, lang und mager wie ein Holzspan, brünett, mit einer langen Taille, einem langen Gesicht, unruhigen Augen und eingefallenen Wangen, – ein furchtbar verlebtes Frauenzimmer!
„Schnell!“ rief Lambert (ich übersetze, er sprach Französisch mit ihr), „die Leute hier müssen ihre Teemaschine schon aufgestellt haben, – schnell heißes Wasser, Rotwein und Zucker, auch ein Glas, aber schnell, er ist beinah erfroren ... Er ist mein Schulkamerad ... er hat die Nacht draußen im Schnee zugebracht ...“
„Malheureux!“[62] rief sie aus und schlug mit einer theatralischen Gebärde die Hände zusammen.
„Still! Wirst du wohl ...!“ schrie Lambert sie drohend an, wie einen Hund; sie unterließ sofort alle weiteren Gebärden und lief hinaus, um seinem Befehl nachzukommen.
Er besah und betastete mich, fühlte mir auch den Puls, legte die Hand auf meine Stirn, an meine Schläfen.
„Unbegreiflich ist mir,“ brummte er, „daß du nicht erfroren bist ... Allerdings warst du ganz im Pelz, auch dein Kopf war zugedeckt, hocktest da wie in einer Pelzhöhle ...“
Das heiße Getränk tat mir gut, ich schluckte gierig und fühlte mich sogleich wie neubelebt; ich begann auch gleich wieder zu sprechen, zusammenhanglos stammelnd. Ich saß halb liegend in der Diwanecke und sprach unaufhörlich, sprach atemlos, aber was ich sprach, dessen entsinne ich mich wiederum fast gar nicht, und manches habe ich sogar vollständig vergessen, weshalb in meiner Erinnerung an diese Stunden große Lücken sind. Wie gesagt: wieviel er von meinem Gerede verstanden hat, das weiß ich nicht, aber eines ist mir nachher doch ganz klar geworden: soviel wird er immerhin verstanden haben, daß er in der Begegnung mit mir sogleich die Möglichkeit eines Vorteils für sich erspäht hat ... Ich werde später noch darauf zurückkommen, was für eine Berechnung er damals hat machen können.
Nach dem heißen Getränk wurde ich nicht nur sehr gesprächig, sondern zeitweise sogar fröhlich. Ich erinnere mich noch, wie die Sonne auf einmal ins Zimmer schien, als die Vorhänge weggezogen wurden, wie das Feuer im Ofen prasselte, nachdem jemand ihn angeheizt hatte – aber wer das getan hatte und wann und wie, das weiß ich alles nicht mehr. Auch erinnere ich mich eines auffallend kleinen schwarzen Bologneserhündchens, das Mademoiselle Alphonsine im Arm hielt und kokett an ihr Herz drückte. Dieses Hündchen gefiel mir so ausnehmend, daß ich sogar zu erzählen aufhörte und mich zweimal vorbeugte, ich glaube, um das Tierchen zu streicheln, aber das mißfiel Lambert, und auf einen Wink von ihm zog Alphonsina sich mitsamt dem Hündchen sofort hinter den Schirm zurück.
Er selbst war auffallend schweigsam, saß mir gegenüber, hatte sich sogar stark zu mir vorgebeugt und hörte mir gespannt zu; hin und wieder erschien langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht, und er lächelte lange und kniff dabei die Augen zusammen, als suche er hinter den Zusammenhang des Gehörten zu kommen; jedenfalls schien er angestrengt nachzudenken. Das einzige, wessen ich mich von meiner Erzählung noch ganz klar erinnere, ist, daß ich mich, als ich ihm von dem „Dokument“ erzählte, auf keine Weise verständlich auszudrücken und die Geschichte zusammenhängend wiederzugeben vermochte, und daß ich dabei an seinem Gesicht sah, wie gern er diese wirre Geschichte verstanden hätte, bis er mich schließlich sogar mit einer Frage unterbrach; das war insofern ein Wagnis, als ich, sobald ich unterbrochen wurde, von etwas ganz anderem weitersprach und das früher Erzählte vergaß. Wie lange wir so gesessen und gesprochen haben, weiß ich nicht und kann ich mir nicht einmal denken. Plötzlich stand er auf und rief Alphonsine.
„Er braucht Ruhe; vielleicht wird man auch nach dem Arzt schicken müssen. Was er verlangt – das muß alles sofort getan werden, das heißt ... vous comprenez, ma fille? Vous avez de l’argent,[63] nicht? Da!“
Er gab ihr einen Zehnrubelschein und flüsterte noch ziemlich lange mit ihr. Ich hörte nur, wie er zwischendurch immer wieder „vous comprenez? vous comprenez?“[64] fragte. Er schien ihr etwas einzuschärfen, drohte ihr dabei mit dem Finger und runzelte mit strengem Gesicht die Brauen.
Ich sah, daß sie furchtbare Angst vor ihm hatte.
„Ich komme bald wieder, du aber mußt dich jetzt erst ausschlafen,“ sagte er darauf mit einem Lächeln zu mir und nahm seine Mütze.
„Mais vous n’avez pas dormi du tout, Maurice!“[65] rief Alphonsine pathetisch.
„Taisez-vous, je dormirai après.“[66]
Damit ging er hinaus.
„Sauvée!“[67] flüsterte sie mir zu und deutete mit pathetisch ausgestrecktem Arm ihm nach.
„Monsieur, Monsieur!“ fuhr sie gleich darauf fort, zu deklamieren und stellte sich großartig mitten im Zimmer vor mir auf, „jamais homme ne fut si cruel, si Bismarck que cet être, qui regarde une femme comme une saleté de hasard. Une femme, qu’est-ce que c’est que ça dans notre époque? ‚Tue la!‘ voilà le dernier mot de l’Académie française!“[68]
Ich sah sie erstaunt an; vor meinen Augen verdoppelte sich alles, ich glaubte schon zwei Alphonsinen vor mir zu sehen ... Plötzlich bemerkte ich, daß sie weinte: ich fuhr zusammen und wurde mir bewußt, daß sie ja schon sehr lange zu mir sprach, und ich folglich geschlafen haben mußte, wenn ich nicht bewußtlos gewesen war.
„... Hélas! de quoi m’aurait-il servi de le découvrir plus tôt,“ rief sie, „et n’aurais-je pas autant gagné à tenir ma honte cachée toute ma vie? Peut-être, n’est-il pas honnête à une demoiselle de s’expliquer si librement devant monsieur, mais enfin je vous avoue que s’il m’était permis de vouloir quelque chose, oh, ce serait de lui plonger au cœur mon couteau, mais en détournant les yeux, de peur que son regard exécrable ne fît trembler mon bras et ne glaçât mon courage! Il a assassiné ce pope russe, monsieur, il lui arracha sa barbe rousse pour la vendre à un artiste en cheveux au pont des Maréchaux, tout près de la Maison de monsieur Andrieux – hautes nouveautés, articles de Paris, linge, chemises, vous savez, n’est-ce pas? ... Oh, monsieur, quand l’amitié rassemble à table épouse, enfants, sœurs, amis, quand une vive allégresse enflamme mon cœur, je vous demande, monsieur: est-il bonheur préférable à celui dont tout jouit? Mais il rit, monsieur, ce monstre exécrable et inconcevable et si ce n’était pas par l’entremise de monsieur Andrieux, jamais, oh, jamais je ne serais ... Mais quoi, monsieur, qu’avez vous, monsieur?“[69]
Sie eilte auf mich zu: ich werde wohl vor Fieber oder Frost gezittert haben, oder vielleicht war es ein Ohnmachtsanfall. Ich kann gar nicht sagen, was für einen bedrückenden, krankhaften Eindruck dieses halbverrückte Geschöpf auf mich machte. Vielleicht glaubte sie, sie müsse mich zerstreuen – wenn Lambert ihr das nicht ausdrücklich befohlen hatte; wenigstens verließ sie mich keinen Augenblick. Vielleicht war sie einmal beim Theater gewesen; sie deklamierte entsetzlich, drehte und bewegte sich ohne Unterlaß, und das Sprechen nahm bei ihr überhaupt kein Ende, während ich schon lange verstummt war. Soweit ich ihr Geschwätz verstanden habe, war sie auf irgendeine Weise mit der Maison de monsieur Andrieux – hautes nouveautés, articles de Paris, etc. eng verknüpft, ja vielleicht war sie sogar aus dieser Maison de monsieur Andrieux hervorgegangen; nun aber war sie auf ewig von diesem monsieur Andrieux getrennt worden, und zwar durch dieses monstre furieux et inconcevable,[70] und darin bestand nun die Tragödie ... Sie weinte fürchterlich, aber mir schien, daß sie sich nur verstellte und eigentlich gar nicht daran dachte, wirklich zu weinen; manchmal schien es mir, daß sie gleich auseinanderfallen werde wie ein Skelett. Sie sprach mit einer seltsam gequetschten, tremolierenden Stimme; das Wort préférable sprach sie zum Beispiel „préfér–a–able“ aus, und das a blökte sie wie ein Schaf. Einmal sah ich, als ich gerade zu mir kam und wieder die Augen aufschlug, daß sie mitten im Zimmer eine Pirouette machte, aber sie tanzte dabei nicht etwa, sondern diese Pirouette gehörte auch auf irgendeine Weise zu der Erzählung und sollte die Sache wohl nur anschaulicher machen. Plötzlich eilte sie zu dem alten, kleinen, ganz verstimmten Pianino, das an einer Wand stand, klimperte und begann zu singen. Wahrscheinlich bin ich dann wieder eingeschlafen oder eine Zeitlang bewußtlos gewesen, aber da bellte das Bologneserhündchen, und ich erwachte: das Bewußtsein kehrte mir für kurze Zeit mit voller Klarheit zurück und ließ mich alles deutlich in hellem, klarem Licht erkennen; ich erschrak und sprang auf.
„Lambert, ich bin bei Lambert!“ dachte ich, griff schnell nach meiner Mütze und stürzte zu meinem Pelz.
„Où allez-vous, monsieur?“[71] rief Alphonsina erschrocken und eilte zu mir, um mich festzuhalten.
„Ich will fort, ich will hinaus! Lassen Sie mich, halten Sie mich nicht fest ...“
„Oui, monsieur! Oh oui, je comprends!“ nickte Alphonsina und lief selbst voraus, um mir die Tür zum Korridor zu öffnen. „Mais ce n’est pas loin, monsieur, ce n’est pas loin du tout, ça ne vaut pas la peine de mettre votre manteau, c’est ici près, monsieur!“[72] rief sie mir zu.
Ich bog aber, als ich auf den Korridor trat, schnell nach rechts.
„Par ici, monsieur, c’est par ici!“[73] schrie sie aus Leibeskräften und klammerte sich mit ihren langen knochigen Fingern an meinen Pelz, und mit der anderen Hand wies sie nach links in den Korridor, irgendwohin, wohin ich gar nicht wollte.
Ich riß mich los und lief durch die Tür am Ende des Korridors auf die Treppe hinaus.
„Il s’en va, il s’en va!“ kreischte Alphonsina hinter mir drein und rannte mir nach. „Mais il me tuera, monsieur, il me tuera!“[74]
Aber ich war schon auf der Treppe, und es gelang mir, obgleich sie mir noch auf die Treppe nachstürzte, die Haustür zu öffnen, mich auf die Straße zu retten und in den ersten besten Schlitten zu springen. Dem Kutscher nannte ich Mamas Adresse ...