II.

Sie sprachen über den Adel. Ich muß vorausschicken, daß diese Idee den Fürsten manchmal sehr aufregte, trotz seiner ganzen anscheinend fortschrittlichen Gesinnung. Ja, ich vermute sogar, daß vieles Schlechte in seinem Leben durch diese Idee veranlaßt oder ausschließlich um ihretwillen von ihm begangen worden war: da er so viel auf seine Fürstlichkeit gab, hatte er in seinem ganzen Leben aus falschem Stolz mit dem Gelde um sich geworfen und sich auf diese Weise, da er ja ganz arm war, in Schulden gestürzt. Werssiloff hatte ihm schon mehrmals zu verstehen gegeben, daß der Adel nicht darin liege, und hatte gleichzeitig versucht, ihm eine höhere Auffassung vom Adel nahezulegen; doch der Fürst schien es schließlich übelzunehmen, daß man ihn belehren wollte. Offenbar hatte ihr Gespräch auch an diesem Morgen davon gehandelt, aber den Anfang hatte ich nun versäumt. Werssiloffs Worte schienen mir zunächst sehr reaktionär, später aber söhnte er mich wieder aus.

„Das Wort Ehre – bedeutet Pflicht,“ sagte er (ich gebe nur den Sinn seiner Rede wieder, – seine Worte aber nur soweit ich mich ihrer erinnere).

„Wenn in einem Staat ein bevorzugter Stand herrscht, so ist das Land stark. Der bevorzugte Stand hat immer seinen bestimmten Ehrbegriff und seine bestimmte Beobachtung der Ehrgesetze, die meinetwegen auch unrichtig sein kann, aber sie dient doch fast immer als Bindemittel und macht das Land stark; sittlich ist sie von großem Nutzen, doch noch mehr ist sie es politisch ... Aber die Sklaven leiden darunter, das heißt alle, die nicht zum bevorzugten Stande gehören. Damit sie nicht leiden, versucht man die Rechte auszugleichen. Das hat man bei uns auch getan, und das ist sehr schön. Nur hat bisher, wie die Erfahrung lehrt, überall (das heißt, natürlich nur in Europa) die Ausgleichung der Rechte ein gewisses Sinken des Ehrgefühls zur Folge gehabt und folglich auch des Pflichtgefühls. Der Egoismus ist an die Stelle der früheren zusammenhaltenden Idee getreten, und alles ist zu persönlicher Freiheit auseinandergefallen. Die Freigewordenen, die ohne vereinenden, festigenden Gedanken blieben, haben nun jede höhere, ideelle Verbindung mit der Zeit in solchem Maße eingebüßt, daß sie zu guter Letzt sogar die von ihnen erlangte persönliche Freiheit gemeinsam zu verteidigen aufgehört haben. Aber der russische Adelstyp hat dem europäischen niemals geglichen. Unser Adel könnte selbst jetzt, nach Verlust seiner Vorrechte, der höchste Stand bleiben, als Hüter der Ehre, des Lichts, der Wissenschaft und der höheren Idee, und, was die Hauptsache ist, ohne sich als besondere Kaste abzuschließen, was der Tod der Idee wäre. Im Gegenteil, die Tür zu diesem Stande steht bei uns schon lange offen, jetzt aber dürfte es an der Zeit sein, sie endgültig und vollends aufzumachen. Möge jede große Tat der Ehre, der Wissenschaft, des Mutes bei uns einem jeden das Recht geben, sich den Menschen des höheren Standes anzuschließen. Auf diese Weise würde sich der höhere Stand ganz von selbst in eine Versammlung der Besten verwandeln, und zwar im buchstäblichen und wahren Sinne, und nicht im früheren Sinne einer privilegierten Kaste. In dieser neuen, oder sagen wir richtiger erneuerten Gestalt könnte sich der Stand erhalten.“

Der Fürst verzog den Mund zu einem halb höhnischen Lächeln, das seine Zähne sehen ließ.

„Was wird denn das noch für ein Adel sein? Sie projektieren ja da irgendeine Freimaurerloge, nicht aber einen Adel.“

Ich erwähne nochmals: der Fürst war furchtbar ungebildet. Ich nahm vor Ärger über ihn auf meinem Diwan eine andere Stellung ein, obschon ich Werssiloff nicht ganz beistimmte. Werssiloff begriff nur zu gut, daß der Fürst sich getroffen fühlte und – ihm die Zähne zeigte.

„Ich weiß nicht, in welchem Sinne Sie das von der Freimaurerei gesagt haben,“ erwiderte er; „doch übrigens, wenn selbst ein russischer Fürst sich von einer solchen Idee lossagt, so ist selbstredend ihre Zeit noch nicht gekommen. Die Idee der Ehre und der Aufklärung als Bekenntnis eines jeden, der in diesen Stand eintreten will, der niemals abgeschlossen und beständig erneuert wird – ist natürlich eine Utopie, aber weshalb denn eine Unmöglichkeit? Wenn dieser Gedanke auch nur in wenigen Köpfen lebt, so ist er doch noch nicht ausgelöscht, so brennt und leuchtet er noch, und sei es auch nur wie ein feuriger Punkt in der Finsternis.“

„Sie gebrauchen immer Worte wie: ‚der große Gedanke‘, ‚die zusammenhaltende Idee‘, und ähnliche. Ich würde gern wissen, was Sie darunter verstehen, zum Beispiel unter dem ‚großen Gedanken‘?“

„Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll, mein lieber Fürst,“ erwiderte Werssiloff mit feinem Lächeln. „Das beste ist wohl, ich gestehe Ihnen, daß ich selbst nichts darauf zu antworten weiß. Der große Gedanke – das ist meistens ein Gefühl, das manchmal gar zu lange unausgesprochen bleibt und noch immer nicht seinen Ausdruck findet. Ich weiß nur, daß es immer dasjenige gewesen ist, woraus das lebendige Leben zu strömen pflegt, ich meine nicht das intellektuelle und nicht das erdichtete, sondern im Gegenteil, das wirkliche, niemals langweilige und heitere Leben; so ist denn die höhere Idee, der es entströmt, entschieden unentbehrlich, – zum allgemeinen Ärger, versteht sich.“

„Warum zum Ärger?“

„Weil mit Ideen zu leben, langweilig ist, ohne Ideen dagegen immer heiter.“

Der Fürst schluckte die Pille.

„Und was ist denn dieses lebendige Leben Ihrer Meinung nach?“ (Er ärgerte sich sichtlich.)

„Auch das weiß ich nicht, Fürst; ich weiß nur, daß es etwas unglaublich Einfaches sein muß, das Alltäglichste und Unverborgenste, etwas Tagtägliches und Allstündliches, etwas dermaßen Gewöhnliches, daß wir einfach nicht glauben können, dieses Einfache könnte es sein, und deshalb gehen wir schon so viele Jahrtausende an ihm vorüber, ohne es zu bemerken und zu erkennen.“

„Ich wollte nur sagen, daß Ihre Idee vom Adel gleichzeitig eine Verneinung des Adels ist,“ sagte der Fürst.

„Nun, wenn Sie es denn durchaus wollen, so – hat es einen Adel bei uns vielleicht niemals gegeben.“

„Was Sie da sagen ist alles sehr dunkel und unklar. Ich denke, wenn man schon spricht, muß man seinen Gedanken auch erklären ...“

Der Fürst runzelte die Stirn und blickte flüchtig nach der Kaminuhr. Werssiloff erhob sich und nahm seinen Hut.

„Erklären!“ sagte er, „nein, lieber nicht; und überdies ist es meine Leidenschaft – zu sprechen, ohne zu erklären. In der Tat, so ist es. Und dann noch eine Eigenheit: Geschieht es einmal, daß ich einen Gedanken, an den ich selbst glaube, zu erklären anfange, so ist es bisher immer geschehen, daß ich zum Schluß der Erklärung an das Erklärte selbst zu glauben aufhöre; dem fürchte ich mich auch heute auszusetzen. Auf Wiedersehen, teurer Fürst; bei Ihnen rede ich immer unverzeihlich viel.“

Er ging hinaus; der Fürst gab ihm höflich das Geleit, ich aber fühlte mich gekränkt.

„Warum schauen Sie denn so finster drein?“ fuhr er mich plötzlich geradezu an und ging, ohne mich anzusehen, zu seinem Schreibtisch.

„Wenn ich finster dreinschaue,“ begann ich mit einem Zittern in der Stimme, „so tue ich es deshalb, weil ich finde, daß Ihr Ton mir und sogar Werssiloff gegenüber sich so sonderbar verändert hat, weshalb ich ... Allerdings, Werssiloff begann vielleicht etwas zu reaktionär, aber dann hat er das doch wieder gutgemacht und ... in seinen Worten lag ein tiefer Sinn, aber Sie haben das vielleicht gar nicht verstanden und ...“

„Ich will einfach nicht, daß man sich unterfängt, mich zu belehren, und mich für einen Schuljungen hält!“ schnitt er mir fast wütend das Wort ab.

„Fürst, solche Ausdrücke ...“

„Keine Theaterposen – wenn ich bitten darf. Ich weiß, daß das, was ich tue, eine Gemeinheit ist, daß ich ein Verschwender bin, ein Spieler, vielleicht ein Dieb ... ja, ein Dieb; denn ich verspiele das Geld meiner Familie, aber ich wünsche nicht, daß andere sich als meine Richter vor mich hinsetzen. Das will ich nicht, und das lasse ich nicht zu. Ich bin mein eigener Richter. Und wozu diese Zweideutigkeiten? Wenn er mir etwas sagen wollte, so hätte er es einfach und geradezu aussprechen sollen, nicht aber so einen nebligen Unsinn prophezeien. Aber, um mir das zu sagen, muß man das Recht dazu haben, muß man selbst anständig sein ...“

„Erstens habe ich den Anfang Ihrer Unterhaltung nicht gehört und weiß daher nicht, wovon Sie gesprochen haben; zweitens aber, inwiefern ist denn Werssiloff nicht anständig? – Gestatten Sie, daß ich Sie das frage.“

„Genug davon, ich bitte Sie, genug davon. Sie baten mich gestern um dreihundert Rubel, – hier sind sie ...“ Er legte das Geld vor mir auf den Tisch, setzte sich selbst in seinen Lehnstuhl, lehnte sich nervös zurück und schlug ein Bein über das andere. Ich blieb verwirrt stehen.

„Ich weiß nicht ...“ murmelte ich, „ich habe Sie wohl gebeten ... und ich habe das Geld augenblicklich zwar sehr nötig, aber im Hinblick auf diesen Ton ...“

„Lassen Sie den Ton. Wenn ich mich etwa scharf ausgedrückt habe, so entschuldigen Sie mich. Ich versichere Ihnen, ich habe an anderes zu denken. Hören Sie mich an: Ich habe einen Brief aus Moskau erhalten; mein Bruder Ssascha, der kleine Junge, Sie wissen, ist vor vier Tagen gestorben. Mein Vater ist, wie Sie gleichfalls wissen, nun schon seit zwei Jahren gelähmt, und jetzt geht es ihm, wie man mir schreibt, viel schlechter, er kann überhaupt nicht mehr sprechen und erkennt keinen mehr. Sie haben sich dort alle so über die Erbschaft gefreut und wollen ihn nun gern ins Ausland bringen; der Arzt aber schreibt mir, daß er kaum noch zwei Wochen leben könne. So bleiben von uns nur noch meine Mutter, meine Schwester und ich, also eigentlich so gut wie nur ich ... Nun, sagen wir, ich, ich allein ... Diese Erbschaft ... diese Erbschaft – oh, vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte nichts bekommen! Aber was ich Ihnen eigentlich sagen wollte: ich habe von dieser Erbschaft mindestens zwanzigtausend Rubel Andrei Petrowitsch versprochen ... Und dabei ... können Sie sich denken, diese Formalitäten halten alle so auf, ich habe da noch nichts machen können. Ich bin sogar ... das heißt, wir ... das heißt, mein Vater ist sogar noch nicht einmal offiziell bestätigt, er hat den Besitz noch nicht angetreten. Und dabei habe ich in diesen letzten drei Wochen soviel Geld verloren, und dieser Schuft Stebelkoff nimmt solche Prozente ... Ich habe Ihnen jetzt fast mein letztes Geld gegeben ...“

„Oh, Fürst, wenn es so ist ...“

„Ich sage es nicht deshalb, nicht deshalb. Stebelkoff wird mir heute sicher welches bringen, und das wird für den Augenblick reichen, aber der Teufel werde aus ihm klug, aus diesem Stebelkoff! Ich habe ihn beschworen, mir zehntausend zu verschaffen, damit ich wenigstens Werssiloff zehntausend abgeben kann. Mein Versprechen, ihm ein Drittel abzutreten, quält mich, foltert mich! Ich habe mein Wort gegeben und muß es halten. Und ich schwöre Ihnen, ich brenne darauf, mich wenigstens nach dieser Seite hin von meinen Verpflichtungen befreien zu können. Sie sind schwer, niederdrückend, unerträglich! Diese mich bedrückende Verbindung ... Ich kann Andrei Petrowitsch nicht ansehen, weil ich ihm nicht offen in die Augen sehen kann ... weshalb mißbraucht er das?“

„Was mißbraucht er, Fürst?“ Ich blieb erstaunt vor ihm stehen. „Hat er denn jemals Ihnen gegenüber auch nur eine Andeutung gemacht?“

„O nein, und ich weiß das zu würdigen, aber ich selbst mache mir Andeutungen. Und schließlich, ich werde immer tiefer und tiefer hineingezogen ... Dieser Stebelkoff ...“

„Hören Sie, Fürst, beruhigen Sie sich doch, ich bitte Sie; ich sehe schon, je mehr Sie reden, um so mehr regen Sie sich auf, und dabei ist vielleicht das alles doch nur Einbildung. Ich habe mich ja auch hineinziehen lassen und unverzeihlich, niederträchtig! – aber ich weiß doch, daß es nur vorübergehendes Unglück ist ... und wenn ich nur eine gewisse Summe zurückgewinne, dann ... Sagen Sie, mit diesen dreihundert schulde ich Ihnen jetzt zweitausendfünfhundert Rubel, nicht wahr?“

„Ich habe sie von Ihnen, denke ich, noch nie zurückverlangt,“ sagte der Fürst plötzlich mit einem höhnischen Lächeln, das wieder seine Zähne sehen ließ.

„Sie sagen, zehntausend brauchten Sie für Werssiloff. Wenn ich von Ihnen jetzt borge, so tue ich das selbstverständlich auf Rechnung der Werssiloffschen Zwanzigtausend; anders lasse ich es nicht zu. Aber ... aber ich werde es Ihnen ja bestimmt schon vorher selbst wiedergeben ... Oder denken Sie womöglich, Werssiloff käme zu Ihnen des Geldes wegen?“

„Mir wäre es leichter, wenn er des Geldes wegen käme,“ sagte der Fürst rätselhaft.

„Sie sprachen von einer Sie ‚bedrückenden Verbindung‘ ... Wenn Sie damit Ihren Verkehr mit Werssiloff und mir meinten, so ist das, bei Gott, eine Beleidigung. Und dann, Sie sagen: Warum ist er nicht selbst so, wie er andere zu sein lehrt – das ist doch Ihre Logik! Aber erstens ist das nicht Logik, erlauben Sie schon, daß ich Ihnen das sage; denn selbst wenn er auch nicht so wäre, könnte er doch nicht anders, als die Wahrheit verkünden ... Und schließlich, was ist das für ein Wort, ‚verkünden‘? Sie sagen, er sei ein ‚Prophet‘. Sagen Sie, haben Sie ihn in Deutschland einen ‚Weiberprophet‘ genannt?“

„Nein, nicht ich.“

„Stebelkoff sagte mir, Sie hätten es getan.“

„Dann hat er gelogen. Ich bin kein Meister im Erfinden von Spitznamen. Aber wenn jemand Ehre predigt, so muß er selbst ehrenhaft sein – das ist meine Logik, und wenn sie falsch ist, so ist mir das gleichgültig. Ich will, daß es so sei, und es muß so sein. Und keiner, keiner darf es wagen, in mein Haus zu kommen, um mich zu verurteilen und mich für einen dummen Jungen zu halten! Genug, hören Sie auf!“ rief er heftig und winkte mir ungeduldig mit der Hand ab, damit ich nicht mehr spräche ...

„Ah, endlich!“

Die Tür hatte sich geöffnet und Stebelkoff erschien.

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