III. Die Schüler

Koljä hörte sie nicht mehr. Endlich also konnte er gehen, Gott sei Dank! Als er hinaustrat, warf er einen spähenden Blick ringsum, zuckte einmal vor Kälte mit den Schultern, dachte: „Hm, scharfer Frost!“ und schritt die Straße entlang bis zur nächsten Querstraße, in die er rechts einbog, um auf den Marktplatz zu gelangen. Als er am letzten Hause vor dem Platz angelangt war, blieb er an der Hofpforte stehen, zog eine kleine Pfeife aus der Tasche und pfiff aus Leibeskräften, als wolle er ein verabredetes Zeichen geben. Er brauchte nicht lange zu warten: im Augenblick öffnete sich das Hinterpförtchen, und ein rotwangiger, etwa elfjähriger Junge schlüpfte geschwind auf die Straße. Er war gleichfalls in ein warmes, sauberes, elegantes Mäntelchen gekleidet. Das war der kleine Ssmuroff, ein Schüler der Vorbereitungsklasse, während Koljä Krassotkin schon in der Sexta saß, der Sohn eines wohlhabenden Beamten, dem die Eltern allem Anscheine nach verboten hatten, mit dem „tollkühnen“ Krassotkin zu verkehren. Diesmal war er denn auch offenbar heimlich davongeschlichen. Dieser Knabe war derselbe, der, wie der Leser sich vielleicht noch erinnern wird, zusammen mit anderen Schülern vor etwa zwei Monaten mit Steinen nach Iljuscha geworfen und darauf Alexei Karamasoff noch einiges über den ausgestoßenen Jungen jenseits des Grabens erzählt hatte.

„Ich habe dich jetzt genau eine Stunde lang erwartet, Krassotkin,“ sagte mit strenger Miene der kleine Ssmuroff, während sie beide dem Marktplatze zuschritten.

„Ich habe mich verspätet,“ antwortete Krassotkin würdevoll. „Es gibt Umstände. Wird man dich nicht durchbläuen, wenn man erfährt, daß du mit mir gehst?“

„Ach, so hör doch auf, als ob ich noch durchgebläut würde! Kommt auch Pereswonn mit?“

„Ja, auch Pereswonn.“

„Und du wirst ihn auch dorthin mitnehmen?“

„Ja, auch dorthin.“

„Ach, wenn’s doch Shutschka wäre!“

„Das ist unmöglich. Shutschka gibt es nicht mehr. Shutschka ist in der Finsternis des Unbekannten verschwunden.“

„Ach, aber ginge es nicht so ...“ – der kleine Ssmuroff blieb unter dem Eindruck des Gedankens mitten auf der Straße stehen – „Iljuscha sagt doch, daß Shutschka auch so zottig und grau gewesen sei, – könnte man da nicht sagen, daß Pereswonn jener selbe Shutschka sei, vielleicht wird er es auch glauben?“

„Mein Junge, scheue die Lüge, das wäre Punkt eins; selbst dann, wenn es sich um einen guten Zweck handelt, Punkt zwei. Vor allem aber will ich hoffen, daß du dort nichts von meinem Besuch hast verlauten lassen.“

„Gott behüte, ich verstehe doch, um was es sich dabei handelt. Aber auch mit Pereswonn kann man ihn nicht trösten,“ meinte Ssmuroff seufzend. „Weißt du, sein Vater, der Hauptmann, der sogenannte Bastwisch, sagte uns, daß er ihm heute ein junges Hündchen bringen werde, einen echten kleinen Bullenbeißer mit einem schwarzen Schnäuzchen. Er hofft Iljuscha damit zu trösten, nur weiß ich nicht, ob es ihm gelingen wird.“

„Wie steht es denn mit ihm, mit Iljuscha, meine ich?“

„Ach, schlecht, sehr schlecht! Ich glaube, er hat die Schwindsucht. Er ist sonst vollkommen bei Besinnung, aber er atmet so schwer, so beängstigend. Vor ein paar Tagen bat er, man solle ihn im Zimmer etwas gehen lassen; man zog ihm seine Stiefelchen an, und er ging, fiel aber schon nach den ersten Schritten hin. ‚Ach,‘ sagte er, ‚ich habe dir doch gesagt, Papa, das ist nur von den schlechten Stiefeln gekommen, in ihnen war es auch früher unbequem zu gehen.‘ Er glaubte, er sei wegen der Stiefel gefallen, aber es war doch nur aus Schwäche. Er wird keine Woche mehr leben. Doktor Herzenstube kommt häufig hin. Jetzt sind sie wieder reich, haben viel Geld.“

„Diese Banditen!“

„Wer das?“

„Diese Ärzte und das ganze medizinische Pack, im allgemeinen gesprochen ... und im einzelnen, versteht sich, noch mehr. Ich verneine die Medizin. Eine total unnütze Einrichtung. Übrigens werde ich das alles noch eingehender untersuchen. Aber was sind denn das für Sentimentalitäten, die ihr da eingeführt habt? Die ganze Klasse scheint sich ja täglich bei ihm zu versammeln?“

„Gar nicht! Es gehen bloß zehn von uns täglich hin, jeden Tag.“

„Mich wundert schließlich nur die Rolle, die Alexei Karamasoff dabei spielt: sein Bruder wird morgen oder übermorgen wegen Vatermordes verurteilt werden, er aber hat noch Zeit zu Sentimentalitäten mit kleinen Jungen.“

„Gar nicht, da ist nichts von Sentimentalitäten. Du gehst doch jetzt selbst hin, um dich mit Iljuscha zu versöhnen.“

„Versöhnen! Lächerlicher Ausdruck. Übrigens gestatte ich niemandem, meine Handlungen zu analysieren.“

„Wie sich aber Iljuscha über deinen Besuch freuen wird! Er ahnt nicht, daß du kommst. Warum wolltest du denn solange nicht zu ihm mitkommen?“ fragte Ssmuroff, der von ganzem Herzen dem kranken Iljuscha nachfühlte.

„Lieber Junge, das ist meine und nicht deine Sache. Ich gehe, weil das mein eigener freier Wille ist, euch aber hat alle ohne Ausnahme Alexei Karamasoff hingeschleppt, das ist doch wohl ein Unterschied. Und überhaupt, woraus schließt du, daß ich hingehe, um mich mit ihm auszusöhnen? Was ist das für ein dummer Ausdruck.“

„Aber uns hat ja gar nicht Karamasoff hingebracht, gar nicht er! Wir fingen ganz von selbst an, hinzugehen, zuerst allerdings noch zusammen mit Karamasoff. Und es ist auch nichts vorgekommen, gar keine Dummheiten. Zuerst ging nur einer, dann ein zweiter, dritter und so weiter. Der Vater war furchtbar froh darüber, daß wir kamen. Weißt du, er wird bestimmt den Verstand verlieren, wenn Iljuscha stirbt. Er weiß ja schon, daß Iljuscha sterben wird. Iljuscha hat nach dir gefragt, aber er hat weiter nichts hinzugefügt. Er fragt nur und verstummt dann gleich. Aber sein Vater wird den Verstand verlieren oder sich erhängen. Er hat sich ja auch früher schon wie ein Verrückter aufgeführt. Weißt du, er ist ein edler Mensch, das war damals nur ein Irrtum. An allem trägt nur dieser Vatermörder die Schuld, weil er ihn damals verprügelt hat – daraus ist jetzt alles entstanden.“

„Immerhin ist Karamasoff ein Rätsel für mich. Ich hätte schon lange seine Bekanntschaft machen können, aber ich liebe in gewissen Fällen, stolz zu sein. Zudem habe ich mir schon eine gewisse Ansicht über ihn gebildet, die es jetzt nur noch zu untersuchen und zu vervollständigen gilt.“

Koljä verstummte bedeutsam, und Ssmuroff schwieg gleichfalls. Ssmuroff blickte natürlich nur andächtig zum Älteren empor und wagte nicht einmal, daran zu denken, sich mit ihm gleichzustellen. Er war maßlos interessiert durch die Bemerkung Koljäs, er gehe aus „eigenem freien Willen“ hin, da sich hinter diesem Ausspruch sicherlich die Lösung jenes Rätsels verbarg, warum er nicht schon früher zu Iljuscha mitgekommen war, und warum er sich gerade heute dazu entschlossen hatte. Sie gingen über den Marktplatz, auf dem diesmal viele Fuhren standen und viel angetriebenes Geflügel gackerte und schrie. Die Marktweiber saßen wie gewöhnlich unter ihren Zeltdächern und verkauften ihre Ware, Weißbrot, Pfefferkuchen, Garn usw. Derartige sonntägliche Märkte werden bei uns höchst naiverweise Jahrmärkte genannt, und solcher Jahrmärkte gibt es bei uns gar viele im Jahr. Pereswonn lief in der besten Gemütsverfassung vor ihnen her, schwenkte unermüdlich bald nach rechts, bald nach links ab, um irgendwo irgend etwas zu beschnuppern. Traf er mit anderen Hunden zusammen, so blieb er mit ungewöhnlicher Bereitwilligkeit stehen, um sich mit ihnen nach allen Hunderegeln zu beriechen.

„Ich liebe es, die realen Vorgänge zu beobachten,“ sagte plötzlich Koljä. „Hast du schon beobachtet, wie die Hunde sich beschnuppern, wenn sie zusammentreffen? Das muß bei ihnen so ein Naturgesetz sein.“

„Ja, das ist wahr, wirklich lächerlich.“

„Das heißt, durchaus nicht lächerlich, das war eine falsche Bemerkung von dir. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, obwohl manches dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch lächerlich erscheinen mag. Wenn Hunde denken und kritisieren könnten, so würden sie in den sozialen Beziehungen der Menschen, ihrer Herren, ebensoviel, wenn nicht noch mehr, für sie Lächerliches finden, – sogar sehr viel mehr. Ich wiederhole das nur darum, weil ich fest überzeugt bin, daß es bei uns tatsächlich noch viel mehr Dummheiten gibt. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Ausspruch von Rakitin, ein sehr bemerkenswerter sogar. Ich bin Sozialist, Ssmuroff.“

„Was ist das?“ fragte Ssmuroff naiv.

„Das ist, wenn alle gleich sind, alle sind dann einer Meinung, es gibt keine Ehen, und die Religion und alle Gesetze sind dann so, wie es jedem beliebt, nun und so weiter alles übrige. Du bist noch nicht reif dazu, für dich ist das noch zu früh ... Aber es ist heut doch gehörig kalt.“

„Ja. Zwölf Grad. Papa sah vorhin nach dem Thermometer.“

„Hast du nicht bemerkt, Ssmuroff, daß es mitten im Winter, selbst wenn es fünfzehn oder achtzehn Grad sind, gar nicht so kalt ist, wie zum Beispiel jetzt, zu Anfang des Winters bei zwölf, wenn die Kälte ganz plötzlich einsetzt und noch wenig Schnee gefallen ist? Das bedeutet, daß die Menschen sich noch nicht an die Kälte gewöhnt haben. Bei den Menschen kommt alles auf Gewohnheit an. Selbst in den staatlichen und politischen Beziehungen. Gewohnheit ist bei ihnen die erste und größte Triebfeder. Sieh doch, was das für ein komischer Kauz ist!“

Koljä wies auf einen langen Bauer im Pelz, der neben seiner Fuhre stand und vor Kälte die behandschuhten Hände zusammenschlug. Sein langer blonder Bart, der sein sympathisches Gesicht umrahmte, war vom Frost ganz bereift.

„Dieser Bauer hat einen ganz bereiften Bart!“ sagte Koljä laut, als er an ihm vorüberging.

„Viele haben heute einen bereiften Bart,“ sagte ruhig und wohlbedacht der Bauer.

„So reiz ihn doch nicht,“ bat Ssmuroff leise Krassotkin.

„Macht nichts, er wird sich nicht ärgern, er ist ein braver Mann. – Leb wohl, Matwei.“

„Leb wohl.“

„Heißt du denn Matwei?“

„Jawohl. Wußtest du es nicht?“

„Nein, ich sagte es aufs Geratewohl.“

„Nun sieh mal! Bist wohl noch Schulbub?“

„Natürlich.“

„Nun was, wirst du auch gedroschen?“

„Nicht gerade, daß – aber es kommt vor.“

„Aber dann auch feste?“

„Ohne dem geht’s nicht.“

„Ja ja!“ Der Bauer seufzte von ganzem Herzen auf.

„Leb wohl, Matwei.“

„Leb wohl, bist ’n guter Bursch, jawohl.“

Die beiden Jungen gingen weiter.

„Das war ein guter Kerl,“ sagte Koljä zu Ssmuroff. „Ich rede gern mit dem einfachen Volke. Es freut mich immer, wenn ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen kann.“

„Warum aber hast du ihm vorgelogen, daß wir in der Schule gedroschen würden?“ fragte Ssmuroff.

„Man mußte ihn doch beruhigen!“

„Wieso?“

„Sieh mal, Ssmuroff, ich mag es nicht, nochmals gefragt zu werden, wenn man mich nicht nach dem ersten Wort verstanden hat. Manches läßt sich überhaupt nicht erklären. Er glaubt, daß jeder Schüler gedroschen wird, und seiner Meinung nach muß das auch so sein: Was ist denn das für ein Schüler, der nicht seine Portion Wichse kriegt? denkt er bei sich. Und nun soll ich ihm plötzlich sagen, daß es bei uns nie Prügel gibt! Damit würde ich ihn doch tief betrüben. Übrigens kannst du das noch nicht verstehen. Wer mit dem Volk reden will, der muß vorher das Reden erlernen.“

„Nur mach diesmal, bitte, keine Geschichten, sonst kommt wieder so ein Skandal heraus, wie damals mit der Gans.“

„Hast du denn etwa Angst?“

„Lach nicht, Koljä, bei Gott, ich habe Angst. Mein Vater würde furchtbar böse werden. Man hat mir streng verboten, mit dir zu verkehren.“

„Beunruhige dich nicht, diesmal wird nichts geschehen. Guten Morgen, Natascha,“ rief er einer der Marktweiber unter einem Schutzdach zu.

„Was bin ich für eine Natascha, Marja heiß ich,“ rief die Händlerin, ein noch junges Weib, mit hoher Fistelstimme fast schreiend zur Antwort.

„Das ist gut, daß du Marja heißt, leb wohl!“

„Ach, du Galgenstrick, bist noch keine Elle lang, nicht mal auf der Erde zu bemerken und bist doch schon wie die anderen!“

„Habe keine Zeit, keine Zeit für dich, nächsten Sonntag kannst du es mir erzählen,“ rief Koljä, heftig mit der Hand abwinkend, als hätte sie mit ihm angebändelt und nicht er mit ihr.

„Was soll ich dir denn nächsten Sonntag erzählen? Hast selber angefangen und nicht ich, du Frechling,“ schrie Marja aufgebracht, „eine tüchtige Tracht Prügel hast du verdient, wir kennen dich dummen Jungen schon von früher!“

Unter den benachbarten Händlerinnen erhob sich ein Lachen, als plötzlich aus dem Bogengang der nächsten Handlung ein aufgebrachter Bursche, dem Aussehen nach ein Kleinkrämer, hervorstürzte und Koljä wütend mit der Faust drohte. Es war das kein städtischer Händler, sondern einer von den „Jahrmarktsleuten“, ein noch junger Mann in einem langschößigen blauen Bauernkittel und einer Mütze mit ledernem Schirm auf dem Kopf. Sein Gesicht war lang, blaß und pockennarbig. Er befand sich in geradezu unsinniger Erregung und konnte zuerst kaum ein Wort hervorbringen, er drohte immer nur mit der Faust.

„Ich kenne dich!“ rief er endlich, „ich kenne dich!“

Koljä sah ihn scharf an. Er konnte sich nicht recht entsinnen, was er diesem Menschen angetan, oder wo er ihn getroffen hatte. Das war aber schließlich nicht wunderlich, da er ja so unzählige Händel auf der Straße gehabt hatte.

„Du kennst mich?“ fragte er ihn ironisch.

„Ich kenne dich, ich kenne dich!“ wiederholte immer wieder der dumme Bursche.

„Nun, um so besser für dich. Ich habe keine Zeit, leb wohl!“

„Was, du wirst noch frech?“ schrie der andere auffahrend. „Du wirst obendrein noch frech? Ich kenne dich! So ein freches Luder, wie du eins bist, gibt’s ja kein zweites!“

„Das, Freund, ist jetzt nicht deine Sache, ob ich frech bin oder nicht,“ sagte Koljä von oben herab, blieb stehen und blickte ihn wieder scharf an.

„Wieso denn nicht meine Sache?“

„Sehr einfach: weil sie es nicht ist.“

„So – o? Wessen denn sonst, wenn nicht meine? Wen soll es denn sonst was angehen?“

„Das, mein Freund, geht jetzt nur Trifon Nikititsch an, aber nicht dich.“

„Was für einen Trifon Nikititsch?“ fragte in dummer Verwunderung, doch immer noch sehr aufgebracht, der Bursche und starrte Koljä verständnislos an. Koljä maß ihn mit dem Blick.

„Bist du zur Himmelfahrt gegangen?“ fragte er ihn plötzlich streng.

„Zu was für einer Himmelfahrt? Warum, wieso? Nein, ich bin nicht gegangen,“ antwortete noch verdutzter der Bursche.

„Kennst du Ssabanejeff?“ fuhr Koljä noch strenger fort zu fragen.

„Was für einen Ssabanejeff? Nein, ich kenne ihn nicht.“

„Nun, dann hol dich der Teufel, wenn du selbst ihn nicht kennst!“ brach Koljä plötzlich ab und ging, plötzlich nach rechts abschwenkend, seines Weges, als hätte er es verachtet, mit einem solchen Tölpel noch weiter zu reden, der nicht einmal Ssabanejeff kannte.

„Warte, he, du! Bleib doch stehen! Welch einen Ssabanejeff meinst du?“ rief ihm, halb sich besinnend, der Bursche in noch größerer Erregung nach. „Was sagte er eigentlich?“ fragte er plötzlich die Marktweiber, indem er sie dumm anglotzte.

Die Weiber lachten.

„Ein kluger Schlingel,“ meinte eine von ihnen.

„Was für einen Ssabanejeff? Wen meinte er damit?“ fragte immer noch erregt und völlig vor den Kopf gestoßen der Bursche.

„Ach, das wird wohl der Ssabanejeff sein, der bei Kusjmitscheffs einmal diente, ja, den wird er damit gemeint haben!“ sagte schließlich eines der Weiber.

Der Bursche blickte sie groß an.

„Bei Kusj–mi–tscheffs?“ fragte ein anderes Marktweib, „aber der hieß doch nie und nimmer Trifon? Der hieß doch Kusjma, der Bengel aber sagte doch Trifon Nikititsch, da hast du’s nun, wie soll denn das derselbigte sein?“

„Ach was, das ist weder Trifon noch Ssabanejeff, das ist Tschishoff,“ mischte sich ein drittes Weib ein, das bis dahin geschwiegen und ernst zugehört hatte. „Der hieß man aber Alexei Iwanowitsch. Tschishoff mit Familiennamen und sonstig Alexei Iwanowitsch.“

„Jawohl ich weiß es selber auch ganz genau, das kann doch niemand nicht anders sein als Tschishoff,“ bestätigte eifrig ein viertes Weib.

Der betölpelte Bursche blickte verständnislos bald die eine, bald die andere an.

„Warum aber hat er denn gefragt, ihr guten Leute, sagt mir doch wenigstens, warum er mich das gefragt hat!“ rief er schließlich halb verzweifelt aus. „‚Kennst du Ssabanejeff?‘ Der Teufel kann nun wissen, was das für’n Ssabanejeff ist!“

„So nimm doch Vernunft an, Mensch, und hör, was man dir sagt: Nicht Ssabanejeff meint er, sondern Tschishoff, Alexei Iwanowitsch Tschishoff, hast’s nu verstanden?“ schrie ihm eifrig eines der Weiber zu.

„Was Teufel für’n Tschishoff? Nu, sag doch, mach doch das Maul uff, wenn du’s weißt! Nu, was für einer?“

„Na, wen denn sonstig, wenn nicht den langen mit der roten Nase, der im Sommer hier auf dem Markt saß?“

„Aber, was Teufel geht mich denn dieser Tschishoff an, sagt mir doch wenigstens das, ihr guten Leute, was?“

„Ja, das weiß ich doch auch nicht, ich meine ja man bloß.“

„Wer kann denn wissen, was er dich angeht,“ meinte eine andere, „das mußt du selber wissen, wenn du darüber so’n Geschrei erhebst. Der Bub hat’s doch dir gesagt, nicht uns, du dummer Mensch. Oder kennst du ihn denn wirklich selber nicht?“

„Wen?“

„Nun, den Tschishoff doch, den selbigten, sollte ich meinen!“

„Ach, der Teufel hole den Tschishoff und dich noch dazu! Durchbläuen werde ich ihn, den Hund! Er hat sich über mich was lustig gemacht!“

„Was, den Tschishoff willst du durchbläuen? Da sieh dich man vor, daß du nicht selber ’ne Tracht abkriegst! Dumm bist du genug dazu.“

„Nicht den Tschishoff, doch nicht den Tschishoff, du giftiges Weibsbild, – den Frechling, diesen Bengel, werde ich durchbläuen! Der soll nur sehen, der kommt mir jetzt gerade recht! Also zum besten will er mich haben, nasführen will er mich, wart nur, ich werd dir Mores lehren!“

Die Weiber lachten. Koljä schritt schon längst mit siegesbewußter Miene davon. Ssmuroff ging neben ihm und blickte sich noch ein paarmal nach der schreienden Gruppe um. Er war gleichfalls lustig gestimmt, trotz seiner Furcht, Koljä könnte wieder eine „Geschichte“ machen und diesmal auch ihn „hereinbringen“.

„Nach was für einem Ssabanejeff fragtest du ihn?“ erkundigte er sich bei Koljä, obgleich er die Antwort schon ahnte.

„Wie soll ich’s denn wissen, nach welch einem? Jetzt haben sie was, worüber sie bis zum Abend schreien können. Ich versetze den Dummköpfen in allen Gesellschaftsschichten gern einen geistigen Nasenstüber. Da steht der Kerl immer noch wie ein Ochs am Berge. Merk dir eines, man sagt: ‚Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen,‘ aber weißt du, auch die russische Physiognomie kann sich sehen lassen. Nun, sag doch selbst, ist es diesem Bauern dort nicht aufs Gesicht geschrieben, daß er dumm ist, da, diesen Bauern da, meine ich, wie?“.

„Laß ihn, Koljä, gehen wir vorüber.“

„Um nichts in der Welt werde ich so vorübergehen, ich bin jetzt gerade gut dazu aufgelegt. Heda! Guten Tag, Bauer!“

Es war ein kräftiger, älterer Bauer, der langsam an ihnen vorüberging. Er hatte ein rundes, einfaches Gesicht und einen leicht ergrauten Bart. Auf den Gruß hin erhob er den gesenkten Kopf und blickte den forschen Schulbuben an. Wahrscheinlich hatte er schon etwas getrunken.

„Nun, guten Tag, wenn du nicht scherzest,“ gab der Bauer langsam zur Antwort.

„Und wenn ich scherze?“ fragte Koljä lachend.

„Wenn du aber scherzest, dann nur zu, Gott mit dir. Das tut nichts, das kann man. Scherzen kann man immer.“

„Verzeih, Freund, ich habe in der Tat gescherzt.“

„Nun, macht nichts, Gott wird dir verzeihen.“

„Aber verzeihst auch du mir?“

„Von ganzem Herzen, Kleinerchen. Geh mal nur vorwärts.“

„Ei sieh mal, wie du bist! Du bist ja, weiß Gott, ein kluger Mann.“

„Klüger als du gewiß,“ antwortete der Bauer mit derselben würdigen Ruhe.

„Wirklich?“ Koljä war etwas verdutzt.

„Verlaß dich drauf.“

„Übrigens kannst du recht haben.“

„Das will ich meinen.“

„Leb wohl, Bauer.“

„Leb wohl.“

„Die Bauern sind sehr verschieden,“ sagte Koljä zu Ssmuroff, als sie weitergingen, nach einigem Schweigen. „Woher wußte ich nur, daß ich auf einen Klugen stoßen würde? Ich bin immer bereit, im Volke Klugheit anzuerkennen.“

Da schlug es fern von der Turmuhr der Kathedrale halb zwölf. Die Knaben beeilten sich und gingen sehr schnell und fast ohne zu sprechen. Bis zur Wohnung des Hauptmanns Ssnegireff war es noch ziemlich weit. Als sie etwa noch zwanzig Schritt vom Hause entfernt waren, blieb Koljä plötzlich stehen und gab Ssmuroff den Befehl, vorauszugehen und Karamasoff zu ihm herauszuschicken.

„Man muß sich zuerst ein wenig beschnuppern,“ fügte er nur kurz hinzu.

„Aber warum denn das?“ Ssmuroff wollte ihn noch überreden, sofort mitzugehen. „Komm doch so, man wird sich furchtbar freuen. Was hat denn das für einen Witz, hier in der Kälte Bekanntschaft zu machen?“

„Es genügt, wenn ich weiß, wozu es nötig ist, daß ich ihn herausrufen lasse,“ schnitt Koljä geradezu despotisch jede weitere Einwendung ab (ein Verfahren, das er besonders gern im Verkehr mit den „Kleinen“ anzuwenden pflegte), und Ssmuroff lief sofort eilig ins Haus, um dem Befehl nachzukommen.

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