Diesmal warteten unten an der kleinen Holzgalerie, die an der Außenseite der Einfriedigungsmauer angebaut war, nur Frauen, etwa zwanzig Weiber aus dem Volk. Man hatte sie benachrichtigt, daß der Staretz endlich käme, und alle hatten sich daraufhin erwartungsvoll herangedrängt. Auf die Galerie war auch Frau Chochlakoff mit ihrer Tochter gekommen, doch blieb sie in der anderen, für vornehme Gäste reservierten Hälfte. Frau Chochlakoff, eine reiche und stets geschmackvoll gekleidete Dame, war noch ziemlich jung, an sich sehr nett, etwas bleich vielleicht, mit sehr lebhaften, fast ganz schwarzen Augen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre alt und seit fünf Jahren Witwe. Ihre vierzehnjährige Tochter hatte gelähmte Füße, und so wurde denn das arme Ding, das seit einem halben Jahr nicht gehen konnte, in einem langen Rollstuhl auf Gummirädern geschoben. Sie hatte ein ganz reizendes Gesichtchen, von der Krankheit sah es allerdings etwas abgezehrt aus, doch war es nichtsdestoweniger stets lustig. Etwas Schalkhaftes spielte in ihren großen, dunklen Augen mit den langen Wimpern. Die Mutter beabsichtigte schon seit dem Frühling, mit ihr ins Ausland zu reisen, hatte aber im Sommer ihr Gut nicht verlassen können. In unserer Stadt wohnte sie bereits seit einer Woche, wohl mehr aus geschäftlichen Gründen, als um hier zu beten; doch hatte sie vor drei Tagen schon einmal den Staretz besucht. Jetzt aber waren sie plötzlich wiedergekommen, obgleich sie wußten, daß er so gut wie niemanden mehr empfangen konnte, und hatten unentwegt um das „Glück, dem großen Arzt danken zu können“, gebeten. Inzwischen warteten sie auf ihn. Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Rollstuhl ihrer Tochter. Zwei Schritt von ihnen stand ein alter Mönch, der aus einem fernen, unbekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wartete gleichfalls auf den Segen des Staretz. Doch dieser schritt, als er auf die Galerie trat, geradenwegs zum Volk. Man drängte sich sofort zur kleinen, dreistufigen Treppe, die von der niedrigen Galerie auf den Rasen hinabführte. Der Staretz blieb auf der obersten Stufe stehen, nahm das Epitrachelion um und begann die sich zu ihm drängenden Frauen zu segnen. Man zog auch eine „Klikuscha“ an beiden Händen zu ihm heran. Kaum aber hatte diese den Staretz erblickt, als sie plötzlich ganz absonderlich zu kreischen, zu schnucken und am ganzen Körper zu zittern begann, so, wie kleine Kinder zittern, wenn sie Krämpfe haben. Der Staretz breitete sein Epitrachelion mit einer Handbewegung über ihren Kopf, sprach ein kurzes Gebet – und sie verstummte und beruhigte sich sofort. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, doch in meiner Kindheit habe ich häufig auf dem Lande und in Klöstern solche „Klikuschi“ gesehen und gehört. Sie wurden zum Gottesdienst geführt; sie kreischten oder bellten wie Hunde durch die ganze Kirche, doch wenn die geweihten Gaben des heiligen Abendmahles herausgetragen und sie dann zu ihnen geführt wurden, so hörte die „Besessenheit“ sofort auf, und die Kranken beruhigten sich stets auf einige Zeit. Mir fiel das als Kind ungemein auf, und ich wunderte mich nicht wenig darüber. Doch schon damals erfuhr ich auf meine Fragen von verschiedenen benachbarten Gutsbesitzern und besonders in der Stadt von meinen Lehrern, daß alles nur Verstellung sei, um nicht arbeiten zu müssen, und daß diese Krankheit mit der gehörigen Strenge stets auszurotten sei, wobei es dann noch zur Bekräftigung dieser Behauptung verschiedene Anekdoten gab. Späterhin aber erfuhr ich zu meinem Erstaunen von Medizinern, von Spezialisten, daß hierbei von Verstellung überhaupt nicht die Rede sein könne, daß das ganz einfach eine furchtbare Frauenkrankheit sei, die, wie es scheint, am häufigsten hier bei uns in Rußland vorkommt und von dem schweren Los unserer Bauernweiber zeugt, eine Krankheit, die von der allzu früh begonnenen, anstrengenden Arbeit nach einer schweren, unnormalen Entbindung ohne jede ärztliche Hilfe herrührt, oder auch von aussichtslosem Leid, von Schlägen usw., was gewisse Frauennaturen denn doch nicht ertragen können. Was aber die sonderbare und sofortige Heilung des „besessenen“ und tobenden Weibes anbetrifft, die man mir als Verstellung erklärt hatte oder als eine Posse, die womöglich von dem „Klerus“ selbst arrangiert werde, so ging sie wahrscheinlich gleichfalls auf ganz natürliche Weise vor sich: Sowohl die Kranke als die Weiber, die sie zur Hostie führten, glaubten daran, wie an eine allbekannte Wahrheit, daß der unreine Geist, der sich der Kranken bemächtigt hatte, diese einfach verlassen müsse, weil er es nicht ertragen könne, wenn man sie zum Altar bringt und sie vor der Hostie niederkniet. Darum aber ging dann in dem nervösen und natürlich auch psychisch kranken Weibe gewissermaßen eine Erschütterung des ganzen Organismus vor sich, die selbstverständlich durch die Erwartung des unbedingten Wunders hervorgerufen wurde, ja, infolge des unerschütterlichen Glaubens daran, daß es geschehen werde, hervorgerufen werden mußte. Und so geschah es denn auch, wenn auch nur auf eine Minute. Und so geschah es denn auch diesmal, kaum daß der Staretz die Kranke mit dem Epitrachelion bedeckt hatte.
Viele von den sich zu ihm drängenden Weibern brachen unter dem Eindruck des Augenblicks in Tränen der Rührung und der Begeisterung aus; andere wiederum drängten sich zu ihm, um wenigstens den Saum seines Gewandes zu küssen; wieder andere murmelten Gebete oder Segenssprüche vor sich hin. Er segnete sie alle, und mit einigen von ihnen sprach er auch. Die „Klikuscha“ kannte er schon von früher, sie wurde aus einem Dorfe, das nur sechs Werst vom Kloster entfernt war, zu ihm gebracht, und zwar hatte man das schon des öfteren getan.
„Du dort, du bist von fern hergekommen!“ sagte er zu einem noch ziemlich jungen Weibe, das aber sehr mager und im Gesicht nicht etwa bloß sonnverbrannt, sondern geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah mit unbeweglichem Blick auf den Staretz. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung.
„Von weitem, Vater, von weitem, dreihundert Werst von hier. Von weitem, Vater, von weitem,“ sagte das Weib, die Worte fast singend, wobei es den Kopf langsam hin und her wiegte und die Hand an die Wange legte. Und ihre ganze Sprache war wie ein Klagegesang.
Es gibt im Volk stummes und vielgeduldiges Leid: es zieht sich in sich selbst zurück und schweigt. Doch gibt es auch anderes Leid: das bricht einmal in Tränen aus, und von dem Augenblicke an geht es dann in Klage oder Gebet über. Dies kommt besonders bei den Frauen vor. Doch ist es nicht leichter als das schweigende Leid. Die Klage lindert nur dadurch das Leid, daß sie das Herz zerreißt. Solch ein Leid verlangt nicht einmal nach Trost, es nährt sich am Gefühl seiner Unstillbarkeit, an seiner Trostlosigkeit. Die Klage aber ist nur das Bedürfnis, die schmerzende Wunde immer wieder zu berühren.
„Du bist wohl vom Kleinbürgerstande?“ fragte der Staretz, der sich aufmerksam in ihr Gesicht hineinsah.
„Aus der Stadt sind wir, Vater, aus der Stadt, sind einfache Leute, sind vom Bauernstande, wohnen aber in der Stadt, Vater, in der Stadt. Bin gekommen, um dich zu sehen. Wir haben von dir gehört, Vater, viel gehört. Habe mein Söhnchen, mein Kleines, beerdigt, bin gegangen, um zu Gott zu beten. Bin in drei Klöstern gewesen, doch alle sagen sie mir: ‚Gehe hin, Nastassjuschka, gehe hin, zu ihm,‘ zu dir, mein Liebling, soll ich gehen. So bin ich gekommen, war gestern im nächtlichen Gottesdienst, und heute bin ich zu dir gekommen.“
„Worüber weinst du?“
„Über mein Söhnchen, Vater, ein dreijähriges Kindchen war’s, nur noch drei Monate fehlten, und es wäre drei Jahre alt gewesen. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Es war das letzte, das mir blieb, vier hatten wir, vier, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns, du Guter, sie bleiben nicht. Die drei ersten begrub ich, begrub sie, und es tat mir nicht gar so weh; diesen letzten aber begrub ich, und nun kann ich ihn nicht mehr vergessen. Es ist mir, als ob er hier vor mir steht und nicht fortgeht. Hat mir die Seele ausgesogen. Betrachte ich seine Sächelchen, seine Hemdchen oder seine kleinen Stiefelchen, da stöhne ich und heule auf. Breite alles aus, was von ihm übriggeblieben ist, jedes kleine Sächelchen, sehe und heule. Sage Nikituschka, meinem Manne: Laß du mich, Lieber, beten gehen. Droschkenkutscher ist er, nicht arm sind wir, Vater, nicht arm, er ist sein eigener Herr, alles gehört uns selbst, die Pferde und auch die Wagen. Aber wozu nützt uns jetzt unser Besitz? Wieder wird er jetzt fehlgehen, mein Nikituschka, das ist schon so, ohne mich, und ist auch immer so gewesen: Wenn ich mich nur von ihm abwende, wird er sofort wieder schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht mehr an ihn. Bin jetzt schon drei Monate fort von Hause. Habe vergessen, alles vergessen, und will auch nichts wissen; was soll ich jetzt mit ihm? Es ist aus mit ihm, habe mit allem abgeschlossen, mit allem. Würde ich doch jetzt nicht mein Haus sehen wollen und all mein Hab und Gut, und würde ich doch auch nichts mehr sehen!“
„Höre mich, Mutter,“ sagte der Staretz, „einstmals erblickte ein alter Heiliger im Tempel eine weinende Mutter, wie du, und sie weinte gleichfalls über ihr kleines Kind, um ihr einziges, das Gott von ihr zu sich genommen hatte. ‚Oder weißt du nicht,‘ sprach der Heilige zur Mutter, ‚wie kühn diese Kindlein vor dem Throne Gottes sind? Gibt es doch niemanden, der im Himmelreiche kühner wäre, denn sie. Du, Herr, hast uns das Leben geschenkt, sagen sie zu Gott, und kaum, daß wir es erschauten, da nahmst du es wieder von uns. Und so kühn bitten und flehen sie, daß der Herr sie alsbald zu Engeln macht. Und darum,‘ sprach der Heilige, ‚freue du dich, Weib, und weine nicht, denn dein Kind ist bei Gott und weilet in seiner Engelschar.‘ Also sprach in alten Zeiten der Heilige zum weinenden Weibe. War aber ein großer Heiliger, wie also hätte er ihr Unwahrheit sagen können? So wisse denn auch du, Mutter, daß auch dein Kind vor dem Throne Gottes steht und fröhlich und selig ist, und Gott für dich bittet. Und darum weine auch du nicht, sondern freue dich.“
Das Weib hörte ihn an, die Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief.
„Damit hat mich auch Nikituschka getröstet, Wort für Wort, wie du es sagst: ‚Was weinst du,‘ sagt er, ‚unser Söhnchen ist jetzt bestimmt beim lieben Herrgott und singt dort mit den Engelein.‘ Das sagt er mir, weint aber dabei selbst, ich sehe es ja, weint, wie ich weine. ‚Das weiß ich, Nikituschka,‘ sage ich, ‚wo sollte er denn sonst sein, wenn nicht beim lieben Herrgott, nur ist er nicht bei uns, Nikituschka, sitzt nicht mehr hier neben uns, wie er früher saß!‘ Wenn ich nur ein einziges Mal ihn wiedersehen könnte, nur ein einziges Mal, würde ja nicht zu ihm gehen, würde kein Wörtchen sagen, würde mich in der Ecke verstecken, nur ein Minutchen, nur ein einziges, ihn sehen, ihn hören, wie er auf dem Hof spielt, oder hereinkommt und mit seinem Stimmchen ruft: ‚Mammi, wo bist du?‘ Nur einmal noch will ich hören, wie er im Zimmer herumtrippelt, nur ein einziges Mal, mit seinen Beinchen, tipp tapp, und so schnell, schnell geht’s, ich weiß noch, wie er zuweilen so zu mir gestrampelt kam, schrie und lachte dabei ... wenn ich nur einmal noch seine Schrittchen hören könnte, nur einmal, ich würde ihn gleich wiedererkennen! Aber er ist nicht mehr, Vater, er ist nicht mehr, und niemals mehr werde ich ihn hören. Sieh, hier ist sein Gürtelchen, er aber ist nicht mehr da, und niemals mehr, niemals mehr werde ich ihn sehen noch hören! ...“
Sie zog einen kleinen mit Borten bestickten Gürtel hervor, den sie in den Busen gesteckt hatte, doch kaum sah sie ihn an, da brach sie auch schon in Tränen aus; ihr ganzer Körper wurde vom Schluchzen erschüttert, sie bedeckte die Augen mit den Händen, doch die Tränen flossen durch die Finger über die Hände herab.
„So hat auch Rachel über ihre Kinder geweint und sich nicht trösten können; das sind die Schranken, die euch Müttern hier auf Erden gezogen worden sind. Und so gib dich denn nicht damit zufrieden, Weib, tröste dich nicht, und laß dich nicht trösten, sondern weine, nur wisse in jeder Stunde, in der du weinst, daß dein Sohn einer der Engel Gottes ist, daß er von dort auf dich niederschaut, dich sieht, und sich deiner Tränen freut, und sie Gott dem Herrn zeigt. Und lange noch, Mutter, wirst du die Tränen deines großen Schmerzes weinen, doch schließlich werden sie sich in eine stille Freude verwandeln, und deine bitteren Tränen werden dann nur Tränen einer stillen Rührung sein, eine Herzensläuterung, die vor allen Sünden bewahrt. Deines Sohnes aber werde ich im Gebete gedenken. Wie hieß er mit Namen?“
„Alexei, Vater.“
„Ein lieber Name. Nach dem Gottesknecht Alexei?“
„Nach dem Gottesknecht, Vater, ja, nach dem Gottesknecht, nach dem Gottesknecht Alexei.“
„Das war ein heiliger Mann! Ich werde seiner gedenken, Mutter, und auch deiner Trauer in meinem Gebet, und auch deines Mannes werde ich gedenken, auf daß es ihm wohl ergehe, und er gesund bleibe. Nur ist es Sünde von dir, ihn so allein zu lassen. Kehre zurück zu deinem Manne und beschütze ihn. Sonst sieht es dein Sohn von droben, daß du seinen Vater verlassen hast, und er wird über euch weinen: Warum störst du also seine Seligkeit? Denn er lebt doch, er lebt, denn die Seele ist ewig lebendig, und wenn du ihn auch nicht im Hause siehst, so ist er doch unsichtbar bei euch. Wie soll er nun in euer Haus kommen, wenn dir dein Haus, wie du sagst, nicht mehr lieb ist? Und zu wem soll er kommen, wenn er nicht euch beide, Vater und Mutter, beisammen findet? Sieh, jetzt träumst du von ihm, und das quält dich, dann aber wird er dir sanfte Träume schicken. Geh zu deinem Manne, Weib, kehre noch heutigen Tages zu ihm zurück, Mutter.“
„Ich werde gehen, du mein Lieber, werde gehen, wie du sagst. Hast mir mein Herz erleichtert! ... Nikituschka, du mein Nikituschka, erwartest mich wohl, mein Täubchen,“ begann sie vor sich hinzusagen, doch der Staretz wandte sich schon zu einem alten Mütterchen, das städtisch, aber ganz sonderbar und altmodisch gekleidet war. An ihren Augen konnte man sehen, daß sie etwas Besonderes auf dem Herzen hatte und gekommen war, um es mitzuteilen. Sie war die Witwe eines Unteroffiziers aus unserem Städtchen. Ihr Sohn Wassenjka hatte irgendwo im Kommissariat gedient, war aber dann nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren. Zweimal hatte er ihr von dort geschrieben, dann aber hatte sie ein ganzes Jahr lang keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Sie hatte sich darauf wohl nach ihm erkundigt, doch genau genommen, wußte sie nicht recht, wo man sich eigentlich erkundigen sollte.
„Nun sagte mir noch neulich Stepanida Iljinitschna Bedrjägina, die Kaufmannsfrau, sie ist sehr reich – sie sagte mir, laß doch, Prochorowna, für deinen Sohn eine Seelenmesse lesen. Dann wird seine Seele Heimweh bekommen, und er wird dir sofort einen Brief schreiben. Das ist schon mehrmals erprobt worden und hat sich immer als richtig erwiesen, sagt Stepanida Iljinitschna. Nur denke ich so bei mir ... weiß nicht, was ich tun soll ... Sage du mir, unser Augenlicht, was soll ich tun, soll ich die Messe für seine Seele lesen lassen?“
„Du solltest an so etwas überhaupt nicht denken. Es ist schon eine Schande, solches auch nur zu fragen. Und wie wäre denn das möglich, daß man für eine lebende Seele die Totenmesse lesen läßt, und dazu noch die leibliche Mutter. Das wäre eine große Sünde, wäre wie Zauberei, und nur wegen deiner Unwissenheit sei es dir verziehen. Bete lieber zur Muttergottes für seine Gesundheit und auf daß sie dir deine unrechten Gedanken verzeihe. Und höre, was ich dir noch sagen werde, Prochorowna: Dein Sohn wird bald entweder selbst zu dir zurückkehren, oder er wird dir einen Brief schicken. Das wisse. Gehe jetzt und sei ruhig. Dein Sohn lebt, das sage ich dir.“
„Unser Lieber, du unser Augenlicht, Gott schütze dich, unser Wohltäter, weiß ich doch, daß du für uns alle betest und für alle unsere Sünden!“
Der Staretz aber hatte schon zwei brennende Augen bemerkt, mit denen ihn eine magere, dem Anscheine nach schwindsüchtige, doch noch junge Bäuerin unverwandt ansah. Sie blickte ihn stumm an, ihre Augen baten um etwas, doch schien sie Angst zu haben, näher zu kommen.
„Womit bist du gekommen, mein Kind?“
„Erlöse meine Seele, Vater,“ sagte sie leise und unübereilt, kniete nieder und verbeugte sich vor ihm bis zur Erde.
„Ich habe gefehlt, mein Vater, ich fürchte meine Sünde.“
Der Staretz setzte sich auf die unterste Stufe, die Bäuerin näherte sich ihm, ohne sich dabei von den Knien zu erheben.
„Ich bin Witwe, schon das dritte Jahr,“ begann sie halb flüsternd, wobei sie fast zusammenschauerte. „Schwer hatte ich es in der Ehe, alt war er, und schmerzhaft schlug er mich. Dann wurde er krank und lag zu Bett; und so denke ich, wie ich ihn so sehe, wenn er aber gesund wird und wieder aufsteht, was dann? Und da kam mir dieser selbe Gedanke! ...“
„Wart,“ sagte der Staretz und näherte sein Ohr ganz dicht ihren Lippen. Sie fuhr mit leisem Flüstern in ihrer Beichte fort, doch konnte man nichts mehr verstehen. Sie war bald zu Ende damit.
„Das dritte Jahr?“ fragte der Staretz.
„Das dritte. Zuerst dachte ich nicht daran, jetzt aber ist das Kränkeln gekommen und damit auch die Seelenangst.“
„Bist du von weitem hergekommen?“
„Über fünfhundert Werst von hier.“
„Hast du es in der Beichte gestanden?“
„Habe gestanden, habe es zweimal gestanden.“
„Hat man dich zum Abendmahl zugelassen?“
„Ja, man ließ mich zu. Ich fürchte mich, fürchte mich, zu sterben.“
„Fürchte nichts, und fürchte dich niemals, und ängstige deine Seele nicht. Wenn nur die Reue in dir nicht verarmt – wird Gott dir alles verzeihen. Gibt es doch keine Sünde, kann es doch auf der ganzen Welt keine so große Sünde geben, die Gott der Herr dem wahrhaft reuigen Sünder nicht verziehe. Und kann doch der Mensch nie und nimmer eine so große Sünde begehen, daß sie die endlose Liebe Gottes ganz erschöpfte. Oder glaubst du, daß es eine Sünde gäbe, die größer wäre als die Liebe Gottes? Trage nur Sorge um die Reue, sei unermüdlich im Bereuen, doch die Angst sollst du von dir scheuchen. Glaube daran, daß Gott dich so liebt, wie du es dir gar nicht denken kannst, daß er dich zusammen mit deiner Sünde und dich in deiner Sünde liebt. Weißt du nicht, daß es geschrieben steht: Über einen reuigen Sünder wird im Himmel mehr Freude sein, als über zehn Gerechte? So geh denn hin und fürchte dich nicht. Laß dich von den Menschen nicht erbittern und ärgere dich nicht über Kränkungen. Dem Verstorbenen vergib im Herzen alles, söhne dich aus mit ihm in Wahrheit. Wenn du bußfertig bist, so liebst du, liebst du aber, so bist du schon Gottes Kind ... Liebe erkauft alles, Liebe rettet alles. Wenn du schon mich, der ich doch ein ebenso sündiger Mensch bin wie du, gerührt hast und ich Mitleid mit dir empfinde, um wieviel mehr wird es dann Gott tun. Die Liebe ist ein so unschätzbarer Schatz, daß du mit ihr die ganze Welt kaufen kannst und nicht nur deine, sondern auch fremde Sünden auskaufst. So gehe jetzt hin in Frieden und fürchte dich nicht.“
Dreimal schlug er das Kreuz über sie, nahm dann von seinem Halse ein kleines Heiligenbild und legte es um ihren Hals. Schweigend neigte sie sich vor ihm bis zur Erde. Er erhob sich, und blickte heiter auf ein gesundes Bauernweib, das ein Brustkind auf den Armen trug.
„Bin aus Wyschegorje, Liebster.“
„Immerhin sechs Werst von hier, hast noch dazu das Kindchen getragen. Was wolltest du?“
„Dich sehen wollte ich; ich bin doch schon früher bei dir gewesen, oder hast du’s vergessen? Dann hast du wohl kein großes Gedächtnis, wenn du mich schon vergessen hast! Die Leute sprachen dort bei uns, daß du krank sein sollst; da dachte ich, wart, werde ich selbst hingehen, sehen, was er macht. Und da sehe ich dich nun; was bist du denn für ein Kranker? Wirst noch zwanzig Jahre leben, wirklich! Gott mit dir! Und als ob du wenig Fürbitter hättest! Wie sollst du denn krank sein?“
„Ich danke dir für alles, Liebe.“
„Wart, ich habe noch eine kleine Bitte an dich, sie ist nicht groß: Hier sind sechzig Kopeken, gib sie, Liebster, einer, die ärmer ist als ich. Als ich herkam, dachte ich so bei mir: Besser, ich gebe es durch ihn; er wird schon wissen, wer es nötig hat.“
„Ich danke dir, Liebste, danke, meine Gute. Ich habe dich lieb, du Gute; ich werde unbedingt so handeln, wie du wünscht. – Ist es ein Mädchen?“
„Ein Mädchen, Liebster, Lisaweta.“
„Der Herr segne euch beide, dich wie die kleine Lisaweta. Mein Herz hast du mir erheitert, Mutter. Lebt wohl, meine Lieben, lebt wohl, meine teuren Lieben!“
Er segnete alle und verneigte sich tief vor ihnen.