IV. Die kleingläubige Dame

Die zugereiste Gutsbesitzerin, die dem ganzen Gespräch des Staretz mit dem einfachen Volk zugehört hatte, vergoß stille Tränen und tupfte sie mit ihrem Batisttüchlein ab. Sie war eine gefühlvolle Weltdame mit in gar manchen Dingen wahrhaft guten Neigungen. Als der Staretz endlich auch zu ihr trat, begrüßte sie ihn ganz begeistert.

„Ich habe soviel, soviel empfunden beim Anblick dieser rührenden Szene ...“ Vor Erregung stockte sie im Sprechen. „O, ich verstehe nur zu gut, daß das Volk Sie liebt, ich liebe es auch selbst, ich will es lieben, und wie sollte man es auch nicht lieben, dieses prachtvolle, in seiner Größe so treuherzige, russische Volk!“

„Wie steht es mit der Gesundheit Ihrer Tochter? Man sagte mir, daß Sie mit mir sprechen wollten?“

„O, ich habe darum gebeten, gefleht! ich war bereit, auf die Knie zu fallen und meinetwegen drei Tage lang vor Ihren Fenstern zu knien, bis Sie mich dann endlich empfangen hätten! Wir sind zu Ihnen gekommen, großer Arzt, um Ihnen unseren heißen, heißen Dank auszusprechen! Sie haben doch meine Lisa ganz gesund gemacht, aber ganz, und wodurch? – Durch Ihr Gebet am Donnerstag, dadurch daß Sie Ihre Hände beim Gebet auf sie gelegt haben! Wir sind hergekommen, um diese Hände zu küssen, um unsere Gefühle, unsere Ehrfurcht auszudrücken!“

„Wieso habe ich sie geheilt? Sie liegt doch noch im Rollstuhl?“

„Aber sie fiebert jetzt in der Nacht überhaupt nicht mehr, zwei Nächte nicht mehr, seit Donnerstag!“ sagte nervös erregt die Dame. „Und nicht nur das allein, auch ihre Füße sind erstarkt. Heute morgen stand sie ganz gesund auf, sie hat die ganze Nacht geschlafen; sehen Sie doch, wie rosig sie heute ist, wie ihre Augen glänzen! Sonst weinte sie immer, jetzt aber lacht sie, ist lustig und fröhlich. Heute wollte sie unbedingt, daß man sie auf die Füße stelle, und so stand sie eine ganze Minute ohne jede Stütze. Sie hat mit mir gewettet, daß sie nach zwei Wochen Walzer tanzen werde. Ich ließ den hiesigen Doktor Herzenstube zu mir bitten; er aber zuckte bloß mit den Achseln und sagte: ‚Das überrascht mich, ist mir unverständlich!‘ Und Sie verlangen, daß wir Sie nicht mehr beunruhigen sollen, daß wir nicht danken? Lise, bedank dich doch, aber so bedanke dich doch!“

Lisas reizendes, lachendes Gesichtchen wurde plötzlich ganz ernst; sie erhob sich im Stuhl, soweit sie es konnte, blickte ernst den Staretz an und legte ihre Händchen vor ihm zusammen, doch konnte sie sich nicht bezwingen und fing von neuem an zu lachen ...

„Über ihn, ach, ich lache ja nur über ihn!“ rief sie, auf Aljoscha weisend, in kindlichem Unwillen über sich selbst, weil sie nicht ernst geblieben war und gelacht hatte. Wer Aljoscha, der einen Schritt hinter dem Staretz stand, betrachtet hätte, der würde die Röte bemerkt haben, die auf einen Augenblick in sein Gesicht stieg. Seine Augen blitzten auf, und er senkte den Blick zu Boden.

„Sie hat einen Auftrag an Sie, Alexei Fedorowitsch ... Wie geht es Ihnen?“ wandte sich die Mama an Aljoscha und streckte ihm ihr reizendes behandschuhtes Händchen entgegen. Der Staretz sah sich hastig nach Aljoscha um und betrachtete ihn lange Zeit sehr aufmerksam. Jener näherte sich Lisa und reichte ihr ein wenig ungeschickt lächelnd die Hand. Lise machte ein wichtiges Gesichtchen.

„Katerina Iwanowna schickt Ihnen durch mich diesen Brief,“ sagte sie und überreichte ihm ein kleines Schreiben. „Sie läßt Sie sehr, sehr bitten, zu ihr zu kommen und so schnell als möglich, und nicht nur zu versprechen, sondern bestimmt zu kommen.“

„Sie bittet mich, zu ihr zu kommen? Zu ihr, mich ... Warum denn?“ stotterte Aljoscha höchst verwundert. Er sah plötzlich ganz besorgt aus.

„O, es handelt sich natürlich um Dmitrij Fedorowitsch und ... um alle diese jüngsten Begebenheiten,“ erklärte flüchtig die Mama. „Katerina Iwanowna hat sich jetzt zu etwas entschlossen ... zu diesem Zweck aber muß sie Sie sehen – warum? Das weiß ich natürlich nicht; aber sie läßt Sie bitten, sobald als möglich zu kommen. Und Sie kommen doch, nicht wahr? Kommen Sie unbedingt, hier gebietet es sogar die Christenpflicht.“

„Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen,“ sagte Aljoscha immer noch ganz verwundert.

„O, das ist ein so edles, ein so unerreichbar edles Mädchen! ... Schon allein, was sie gelitten hat ... Bedenken Sie doch nur, was sie ertragen hat, und was sie jetzt ertragen muß, und bedenken Sie nur, was sie noch erwartet! ... Es ist schrecklich, wirklich schrecklich, wenn man das bedenkt!“

„Gut, ich werde hingehen,“ beschloß Aljoscha, nachdem er das kurze, rätselhafte Schreiben überflogen hatte, das außer der dringenden Bitte, zu ihr zu kommen, weiter nichts, keine einzige Erklärung enthielt.

„Ach, wie nett das von Ihnen ist, und es wird herrlich sein!“ rief Lisa ganz entzückt aus. „Ich habe Mama immer gesagt: Er wird bestimmt nicht kommen, um keinen Preis wird er kommen! Wie nett, wie reizend Sie sind! Ich habe mir immer gedacht, daß Sie reizend sind, und es ist mir angenehm, Ihnen das jetzt sagen zu können.“

„Lise!“ rief ernst die Mama, doch lächelte auch sie gleich wieder.

„Sie haben uns ganz vergessen, Alexei Fedorowitsch; Sie kommen ja gar nicht mehr zu uns! Lise aber hat mir schon zweimal gesagt, daß sie sich nur in Ihrer Gesellschaft wohl fühle.“

Aljoscha erhob den gesenkten Blick, wurde plötzlich wieder über und über rot und lachte abermals, ohne selbst zu wissen, warum. Der Staretz aber beobachtete ihn nicht mehr; er unterhielt sich bereits mit dem Mönch, der, wie schon erwähnt, neben Lisas Rollstuhl auf sein Erscheinen gewartet hatte. Es war dem Aussehen nach ein ganz einfacher Mönch, ein Mensch mit einer kleinen, doch unzerstörbaren Weltanschauung, dabei aber gläubig und in seiner Art ungemein starrköpfig. Er sagte, daß er aus dem fernen Norden gekommen sei, aus Obdorsk vom heiligen Silvester, – aus einem armen, kleinen Kloster, in dem nur neun Mönche lebten. Der Staretz segnete ihn und forderte ihn auf, einerlei wann, zu ihm in die Zelle zu kommen.

„Wie können Sie so was erreichen?“ fragte plötzlich der Mönch, wobei er ernst und feierlich auf Lisa hinwies. Er fragte es in betreff ihrer „Heilung“.

„Davon zu sprechen, ist natürlich noch zu früh. Erleichterung ist nicht völlige Heilung und kann auch durch andere Ursachen hervorgerufen worden sein. Und selbst das wird nicht anders als nach Gottes Wunsch und durch Gottes Kraft geschehen sein. Alles kommt von Gott. Besuchen Sie mich bald, Pater,“ fügte er nochmals hinzu, „denn nicht zu jeder Zeit kann ich aufstehen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind.“

„O nein, nein, Gott wird Sie nicht von uns nehmen; Sie werden noch lange, lange leben!“ fiel die Mama ihm ins Wort. „Und woran sind Sie denn erkrankt? Sie sehen so gesund aus, so fröhlich und glücklich!“

„Heute fühle ich mich auch viel besser, aber ich weiß, daß es nur eine Erleichterung auf eine Minute ist. Ich kenne jetzt meine Krankheit und kann mich nicht mehr darüber täuschen. Wenn ich Ihnen aber so fröhlich und glücklich scheine, so hätten Sie mich mit nichts so erfreuen können wie durch diese Bemerkung. Denn zum Glück sind die Menschen geschaffen, und wer vollkommen glücklich ist, der darf sich selbst sagen: ‚Ich habe das Gebot Gottes auf dieser Welt erfüllt.‘ Alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer sind glücklich gewesen.“

„O wie schön Sie reden, welch große und hohe Worte Sie gebrauchen,“ sagte begeistert die Mama. „Wenn Sie etwas sagen, so durchdringen Sie einen gleichsam. Und doch! ... das Glück, ja, das Glück – wo ist es? Wer kann von sich sagen, daß er glücklich sei? O, wenn Sie schon so gut gewesen sind, heute nochmals zu uns zu kommen, so hören Sie denn auch alles, was ich Ihnen das vorige Mal nicht sagen konnte, was ich nicht zu sagen wagte, alles, worunter ich so lange, so lange schon leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide ...“ Und sie faltete in einem plötzlich sie überkommenden heißen Gefühl die Hände vor ihm.

„Worunter denn so besonders?“

„Ich leide ... unter meinem Unglauben ...“

„Unglauben an Gott?“

„O nein, nein, daran wage ich nicht einmal zu denken: aber das Leben im Jenseits – das ist solch ein Rätsel! Und niemand, niemand kann genau auf die Frage antworten! Hören Sie mich an, Sie tiefer Kenner der Menschenseele; ich habe natürlich keine Ansprüche darauf, daß Sie meinen Worten vollen Glauben schenken, aber ich versichere Ihnen, daß ich jetzt nicht aus Leichtsinn rede: Der Gedanke an das Leben nach dem Tode regt mich Unglückliche auf, bis zur Beängstigung, bis zum Entsetzen bringt er mich! Und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, niemals habe ich gewagt ... Und sehen Sie, jetzt habe ich gewagt, mich an Sie zu wenden ... O Gott, für was werden Sie mich nun halten!“ Und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

„Beunruhigen Sie sich nicht wegen meiner Meinung,“ entgegnete der Staretz. „Ich glaube vollkommen an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.“

„O, ich danke Ihnen dafür! Sehen Sie, ich schließe die Augen und denke: Wenn alle glauben, so – woher kommt das? Jetzt aber versichert man, das sei zuerst nur aus der Furcht vor den Schrecken einflößenden Naturerscheinungen gekommen, und daß es alles das überhaupt nicht gäbe. Wie nun, denke ich, ich habe geglaubt so lange ich lebe – und da sterbe ich nun, und plötzlich ist nichts da, und nur ‚Kletten wachsen auf meinem Grabe‘, wie ich vor kurzem bei einem Schriftsteller las. Das ist doch entsetzlich! Wodurch den Glauben wiedergewinnen, wodurch? Und wissen Sie, ich habe eigentlich nur als ganz kleines Mädchen geglaubt, mechanisch, ohne etwas dabei zu denken ... Wodurch sich nun überzeugen? Ich bin zu Ihnen gekommen, um vor Ihnen niederzuknien und Sie zu fragen; denn wenn ich jetzt diese Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lasse, so wird mir doch in meinem ganzen Leben niemand mehr darauf Antwort geben. Womit nun beweisen, wodurch sich überzeugen? O, das ist ein zu großes Unglück! Ich stehe und sehe, daß allen alles einerlei ist, oder fast allen, niemand denkt jetzt daran, nur ich allein kann das nicht mehr ertragen. Das ist ja entsetzlich, ganz entsetzlich, einfach tötend!“

„Zweifellos tötend. Doch beweisen läßt sich hierbei nichts, wohl aber kann man sich überzeugen.“

„Wie? Wodurch?“

„Durch die Erfahrung der werktätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben. In dem Maße, wie Sie in der Liebe fortschreiten, werden Sie sich auch vom Sein Gottes und von der Unsterblichkeit Ihrer Seele überzeugen. Wenn Sie aber in Ihrer Liebe zum Nächsten bis zur vollen Selbstverleugnung gekommen sind, dann werden Sie auch den vollen Glauben errungen haben, und kein Zweifel wird sich dann mehr in Ihre Seele einschleichen können. Das ist eine alterprobte Wahrheit.“

„Durch werktätige Liebe? Aber da erhebt sich die andere Frage, und was das für eine Frage ist! Sehen Sie: ich liebe die Menschheit dermaßen, daß ich – werden Sie es mir glauben? – zuweilen daran denke, alles zu verlassen, alles, was ich habe, Lise und alles, alles, und barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, denke und träume, und in diesen Augenblicken fühle ich eine unüberwindliche Kraft in mir. Keine Wunden, keine eiternden Beulen könnten mich abschrecken, ich würde sie mit meinen eigenen Händen waschen und verbinden; ich möchte die Wärterin dieser Leidenden sein und wäre bereit, diese Schwären zu küssen ...“

„Und selbst das ist schon viel und gut, daß Ihre Gedanken davon träumen und nicht von anderem. Bestimmt werden Sie doch noch eine gute Tat tun, wenn auch vielleicht nur aus Versehen ...“

„Ja, aber wie lange könnte ich denn dieses Leben aushalten?“ fragte erregt, fast außer sich, die Dame. „Das ist ja die Hauptfrage! Das ist die allerquälendste Frage! Ich schließe die Augen und frage mich: Wie lange würdest du auf diesem Wege gehen können? Und wenn der Kranke, dessen Wunden du wäschst, dir nicht sofort seine ganze Dankbarkeit schenkt, dich im Gegenteil womöglich noch mit Launen quält, ohne deine menschenfreundliche Aufopferung zu schätzen oder auch nur zu beachten, dich anschreit, sogar roh von dir verlangt, was du doch freiwillig gibst, sich sogar bei den Vorgesetzten über dich beklagt – wie das doch häufig Schwerleidende tun –, was dann? Wird dann deine Liebe noch fortdauern oder nicht? Und denken Sie sich, ich habe mir selbst sofort angstvoll eingestanden: wenn es etwas gibt, was meine ‚tätige‘ Liebe zur Menschheit sofort erkalten machen könnte, so ist das einzige die Undankbarkeit. Mit einem Wort, ich bin eine Arbeiterin um Lohn, ich verlange den Lohn sofort; ich meine, daß man mich lobt, ich verlange Gegenliebe als Lohn für meine Liebe. Anders bin ich überhaupt nicht fähig, jemanden zu lieben!“

Es schien ein Anfall der aufrichtigsten Selbstgeißelung über sie gekommen zu sein. Als sie geendet hatte, blickte sie mit einer geradezu herausfordernden Entschlossenheit auf den Staretz.

„Was Sie mir sagen, hat mir fast Wort für Wort einmal, es ist schon lange her, ein Arzt gesagt,“ bemerkte dieser. „Es war ein bereits bejahrter und zweifellos kluger Mensch. Er sprach ebenso aufrichtig wie Sie, wenn auch halb scherzend, jedenfalls aber traurig scherzend. Ich liebe die Menschheit, sagte er, doch wundere ich mich über mich selbst: je mehr ich die Menschheit im allgemeinen liebe, desto weniger liebe ich die Menschen im einzelnen, das heißt, als einzelne Personen genommen. In Gedanken, sagte er, bin ich nicht selten zu ganz sonderbaren Absichten, der Menschheit zu dienen, gekommen, und vielleicht wäre ich wirklich fähig gewesen, mich für die Menschen kreuzigen zu lassen, wenn das, sagen wir, irgendwie unbedingt vonnöten gewesen wäre; indessen aber könnte ich nicht einmal zwei Tage lang mit irgend jemandem in einem Zimmer leben, was ich aus mehrfacher Erfahrung weiß. Kaum daß jemand bei mir ist, so verletzt er schon meine Persönlichkeit, meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. In vierundzwanzig Stunden kann ich den besten Menschen hassen: den einen, weil er langsam ißt bei Tisch, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich immer schnauben muß. Und so werde ich, sagte er, sofort ein Menschenfeind, sobald ich nur mit Menschen in Berührung komme. Dafür aber wurde, je mehr ich die Menschen im einzelnen haßte, meine Liebe zur Menschheit im allgemeinen immer größer und leidenschaftlicher.“

„Aber was soll man denn tun? Was soll man denn in diesem Falle tun? Das ist doch zum Verzweifeln!“

„Nein, denn auch das genügt, daß Sie sich darum grämen. Tun Sie, was in Ihren Kräften steht, und auch das wird Ihnen angerechnet werden. Sie haben schon vieles getan, denn Sie haben sich so tief und aufrichtig selbst erkannt! Wenn Sie aber auch mit mir nur deswegen so aufrichtig gesprochen haben, um von mir nur ein Lob zu hören für Ihre Aufrichtigkeit, so werden Sie natürlich mit Ihrer werktätigen Liebe nichts erreichen, so wird alles nur in Ihren Gedanken bleiben, und das ganze Leben wird wie ein Phantom vorüberfliehen. Dann werden Sie natürlich auch das jenseitige Leben vergessen und sich schließlich vielleicht irgendwie beruhigen.“

„Sie haben mich vernichtet! Erst jetzt, erst in diesem Augenblick, da Sie sprachen, begriff ich, daß ich wirklich nur Ihr Lob für meine Aufrichtigkeit erwartete, als ich Ihnen sagte, ich würde Undankbarkeit nicht ertragen können. Sie haben mich ganz begriffen, und Sie haben mich mir selbst erklärt!“

„Sagen Sie das jetzt wirklich ganz aufrichtig? Nun, dann kann ich Ihnen sagen: Jetzt, nach solch einem Bekenntnis, glaube ich, daß Sie aufrichtig und im Herzen ein guter Mensch sind. Wenn Sie auch das Glück nicht erreichen sollten, so denken Sie daran, daß Sie auf einem guten Wege sind, und bemühen Sie sich, nicht von ihm abzugehen. Die erste Bedingung ist: vermeiden Sie die Lüge, jede Lüge, die Lüge vor sich selbst ganz besonders. Geben Sie acht auf Ihre Lüge und beobachten Sie sie in jeder Stunde, in jeder Minute. Desgleichen vermeiden Sie Launenhaftigkeit, sich selbst sowohl als anderen gegenüber. Das, was Ihnen im Herzen schlecht erscheint, wird schon allein dadurch, daß Sie es in sich bemerken, geläutert. Meiden Sie die Furcht, obgleich Furcht nur die Folge jeder Lüge ist. Lassen Sie sich niemals durch Ihren eigenen Kleinmut vom Werben um Liebe abschrecken, sogar Ihre eigenen, schlechten Handlungen in der Beziehung brauchen Sie nicht so sehr zu fürchten. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Beruhigenderes sagen kann, denn die werktätige Liebe ist im Vergleich zur schwärmerischen Liebe etwas Grausames und Abschreckendes. Die schwärmerische Liebe lechzt nach einer schnellen Heldentat, die man in kurzer Zeit vollbringen kann, und zwar unbedingt so, daß alle sie beachten. Dabei kommt es wirklich so weit, daß man bereit ist, das Leben hinzugeben, wenn es nur nicht lange dauert, sondern schnell vollbracht ist, wie auf der Bühne, und alle es sehen und loben. Die werktätige Liebe dagegen, die ist Arbeit und Ausdauer, für einige sogar eine ganze Wissenschaft. Ich aber sage Ihnen, in derselben Minute, in der Sie sich mit Entsetzen gestehen, daß Sie sich trotz all Ihrer Bestrebungen nicht nur dem Ziele nicht genähert, sondern sich von ihm scheinbar noch entfernt haben – in diesem Augenblick, das sage ich Ihnen, werden Sie mit einemmal das Ziel erreichen und über sich klar die wundertätige Kraft des Herrn fühlen, die Kraft Gottes, der Sie immer geliebt hat und Sie die ganze Zeit unsichtbar lenkt. Verzeihen Sie, aber ich muß jetzt gehen, man erwartet mich. Auf Wiedersehen.“

Die Dame weinte.

„Lise, Lise, o segnen Sie sie, segnen Sie sie!“ bat sie erregt.

„Nun, Ihr Töchterchen zu lieben, lohnt sich gar nicht. Ich habe sehr wohl gesehen, wie unartig sie die ganze Zeit gewesen ist,“ sagte scherzend der Staretz. „Warum haben Sie die ganze Zeit über Alexei gelacht?“

Lise hatte sich tatsächlich die ganze Zeit nur mit dieser kleinen Spitzbüberei beschäftigt. Sie hatte es schon längst bemerkt, daß Aljoscha verlegen wurde, wenn sie ihn ansah, und daß er sich immer bemühte, sie nicht anzusehen; nun, und das fand sie ungeheuer interessant. Aufmerksam wartete sie und suchte sie, seinen Blick zu erhaschen. Aljoscha aber, der den unverwandt auf ihn gerichteten Blick nicht ertragen konnte, bezwang sich, bezwang sich wieder, und plötzlich, – plötzlich blickte er doch selbst, von einer unbezwingbaren Kraft angezogen, zu ihr hin, worauf Lise ihm natürlich sofort triumphierend ins Gesicht lachte. Aljoscha wurde immer verlegener und ärgerte sich immer mehr über sich selbst. Zu guter Letzt wandte er sich ganz von ihr ab und versteckte sich halbwegs hinter dem Rücken des Staretz. Doch schon nach kurzer Zeit wandte er sich, wieder von dieser unbezwingbaren Kraft angezogen, vorsichtig ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob er betrachtet werde oder nicht, und da sah er denn, daß Lise, die sich ganz über die Armlehne ihres Stuhles bog, ihn von der Seite betrachtete und krampfhaft den Augenblick erwartete, da er sich nach ihr umsehen werde; als sie aber dann seinen Blick auffing, lachte sie so lustig auf, daß selbst der Staretz nicht ernst bleiben konnte.

„Sie Unart Sie, warum machen Sie ihn denn so verlegen?“

Lise wurde plötzlich ganz unerwarteterweise feuerrot, ihre Augen blitzten auf, ihr Gesichtchen aber wurde furchtbar ernst, und dann kam es in heißer, unwilliger Klage hastig, erregt aus ihr heraus:

„Ja, aber warum hat er alles vergessen? Er hat mich auf den Armen getragen, als ich klein war, und wir haben zusammen gespielt! Und später hat er mich lesen gelehrt, ist deswegen zu uns gekommen, wissen Sie das auch? Und als er vor zwei Jahren fortfuhr, sagte er noch, er würde nie vergessen, daß wir ewige Freunde sind, ewige, ewige Freunde! Und jetzt fürchtet er mich auf einmal! Werde ich ihn denn beißen oder aufessen? Warum will er nicht zu mir kommen, warum spricht er nicht mit mir? Warum will er nicht zu uns kommen? Oder erlauben Sie es ihm nicht? Wir wissen doch, daß er sonst überall hingeht. Ich kann ihn doch nicht dazu zwingen, er muß von selbst kommen; er hätte selbst daran denken müssen, wenn er es nicht vergessen hat. Nein, er kommt nicht, er sucht jetzt hier sein Seelenheil! Wozu haben Sie ihm diesen langschößigen Lappen angezogen? ... Er wird ja fallen, wenn er läuft ...“

Und plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit der Hand und lachte, lachte unbezwingbar, unaufhörlich ihr gezogenes, nervöses, schüttelndes und unhörbares Lachen.

Der Staretz hatte sie lächelnd angehört, und zärtlich segnete er sie; als sie aber darauf seine Hand küssen wollte, preßte sie diese plötzlich an ihre Augen und brach in Tränen aus:

„Seien Sie nicht böse auf mich, ich bin so dumm, bin überhaupt nichts wert ... Aljoscha hat vielleicht recht, ganz recht, wenn er zu einer so Dummen nicht kommen will.“

„Ich werde ihn ganz bestimmt zu Ihnen schicken,“ versprach ihr lächelnd der Staretz.

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