Die Abwesenheit des Staretz aus der Zelle dauerte im ganzen vielleicht nur fünfundzwanzig Minuten. Es war schon halb eins, doch Dmitrij Fedorowitsch war noch immer nicht gekommen, obgleich sich alle nur seinetwegen versammelt hatten. Trotzdem schien man ihn fast ganz vergessen zu haben, und als der Staretz wieder in die Zelle trat, fand er seine Gäste in lebhaftem Gespräch vor. An diesem Gespräch beteiligten sich vor allen anderen Iwan Fedorowitsch und die beiden Priestermönche. Auch Miussoff mischte sich in das Gespräch ein, dem Anscheine nach sogar sehr hitzig, doch hatte er wieder kein Glück: er blieb ersichtlich zweitrangig, und man antwortete ihm nur wenig, so daß dieser neue Umstand seine ganze sich anstauende Reizbarkeit nur noch verstärkte. Es gab aber noch einen anderen Grund, warum er so reizbar war; er hatte nämlich auch früher schon Iwan Fedorowitsch im Wissen zu überbieten gesucht; doch da es ihm immer mißlungen war, konnte er dessen gewisse Nachlässigkeit ihm gegenüber um so weniger kaltblütig ertragen:
„Bis jetzt wenigstens bin ich auf der Höhe alles dessen gewesen, was in Europa das Fortgeschrittenste war; diese neue Generation aber will uns einfach ignorieren,“ dachte er empört bei sich. Fedor Pawlowitsch, der doch freiwillig sein Wort gegeben hatte, sich auf den Stuhl zu setzen und hinfort zu schweigen, schwieg tatsächlich eine gewisse Zeitlang, beobachtete aber mit einem kleinen, maliziös-spöttischen Lächeln seinen Nachbar Miussoff, dessen Reizbarkeit ihn augenscheinlich freute. Er hatte sich schon längst vorgenommen, diesem gewisse Dinge heimzuzahlen, und wollte jetzt die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, beugte sich zum Ohr seines Stuhlnachbars und neckte ihn, halblaut flüsternd, geflissentlich noch einmal:
„Warum gingen Sie denn vorhin nach dem ‚küßte es liebend‘ nicht fort, und warum ließen Sie sich dazu herab, in so unanständiger Gesellschaft zu bleiben? Ich werd’s Ihnen sagen, warum: Weil Sie sich erniedrigt und beleidigt fühlten, und so blieben Sie denn, um zur Rache Ihren Verstand leuchten zu lassen. Und jetzt werden Sie für keinen Preis früher fortgehen, als bis Sie Ihren Verstand gezeigt haben.“
„So fangen Sie schon wieder an? Ich gehe sofort!“
„Als letzter, als letzter werden Sie fortgehen, Pjotr Alexandrowitsch!“ neckte noch einmal Fedor Pawlowitsch. Das war fast im selben Augenblick, als der Staretz wieder eintrat.
Das Gespräch verstummte sofort; doch der Staretz, der wieder seinen alten Platz einnahm, blickte alle so freundlich an, als wolle er sie mit dem Blick auffordern, doch fortzufahren. Aljoscha aber, der jeden Ausdruck seines Gesichtes kannte, sah deutlich, daß er furchtbar müde und überanstrengt war. In der letzten Zeit seiner Krankheit war er schon mehrere Male vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen. Sein Gesicht war fast ebenso bleich wie vor einer Ohnmacht, und seine Lippen wurden ganz blaß. Doch augenscheinlich wollte er die Versammelten nicht fortschicken, und zwar schien er dabei noch ein besonderes Ziel zu haben – welch eines nur? Aljoscha beobachtete ihn gespannt.
„Wir sprechen über seinen ungemein interessanten Artikel,“ sagte der Priestermönch Pater Jossiff, der Bibliothekar, zum Staretz, und wies dabei auf Iwan Fedorowitsch. „Er bringt in diesem Artikel viel Neues vor, doch kommt es, glaube ich, auf dasselbe hinaus. Bei Gelegenheit der Erörterung der kirchlich-zivilen Justizfrage, und des Umfanges ihrer Berechtigung, hat er mit einem kleinen Zeitungsartikel dem Geistlichen geantwortet, der über diese Frage ein ganzes Buch geschrieben hat.“
„Leider habe ich Ihren Artikel nicht gelesen, aber ich habe von ihm gehört,“ sagte der Staretz, der Iwan Fedorowitsch aufmerksam anblickte.
„Er nimmt einen interessanten Standpunkt ein,“ fuhr der Pater-Bibliothekar fort. „Wie es scheint, verneint er in der Frage der kirchlichen Ziviljustiz die Trennung von Kirche und Staat.“
„Das ist sehr interessant; aber in welchem Sinne meinen Sie das?“ fragte der Staretz Iwan Fedorowitsch.
Der antwortete ihm; doch tat er es nicht etwa mit einer herablassenden Höflichkeit, wie Aljoscha noch vor kurzem befürchtet hatte, sondern bescheiden und zurückhaltend, mit augenscheinlicher Zuvorkommenheit und offenbar ohne jeden Hintergedanken:
„Ich gehe von der Überzeugung aus, daß diese Verwechselung der Elemente, d. h. des Wesens der Kirche mit dem Wesen des Staates, beide als einzelne Begriffe genommen, natürlich ewig sein wird, obgleich sie überhaupt nicht sein dürfte, und man die beiden niemals nicht nur in ein normales, sondern selbst nicht einmal in ein einigermaßen befriedigendes Verhältnis wird bringen können, da die ganze Sache sich auf einer Lüge aufbaut. Ein Kompromiß zwischen dem Staate und der Kirche in Fragen, wie zum Beispiel der des Gerichts, ist meines Erachtens schon allein ihrem Wesen nach unmöglich. Der Geistliche, dem ich in meinem Artikel entgegnet habe, behauptet, daß die Kirche im Staat eine ganz genaue und bestimmte Stellung einnehme. Ich aber antwortete ihm, daß die Kirche im Gegenteil den ganzen Staat in sich einschließen müßte, nicht aber in ihm nur eine bestimmte Ecke einnehmen sollte, und daß dies, wenn es jetzt aus bestimmten Gründen unmöglich ist, dem Wesen der Dinge nach doch unbedingt das feste und erste Ziel der ganzen Weiterentwicklung des Christentums sein müßte.“
„Das ist vollkommen richtig,“ sagte fest, doch nervös, Pater Paissij, der schweigsame und gelehrte Priestermönch.
„Der reinste Ultramontanismus!“ rief Miussoff aus, der vor Ungeduld ein Bein über das andere schlug.
„Ach, wir haben ja nicht einmal Berge!“ meinte Pater Jossiff, worauf er, zum Staretz gewandt, fortfuhr: „Er antwortet unter anderem auch auf folgende, grundlegende und wesentliche Behauptungen seines Gegners, des Geistlichen – beachten Sie es wohl. Erstens, sagt der Geistliche: ‚Es kann und darf sich kein einziger gesellschaftlicher Verband die Macht, über die bürgerlichen und politischen Rechte seiner Mitglieder zu verfügen, aneignen.‘ Zweitens: ‚Die Macht des Kriminal- und Zivilgerichts darf nicht der Kirche gehören, denn die ist mit ihrem Wesen als göttliche Einrichtung und als Verband der Menschen zu religiösen Zwecken unvereinbar,‘ und schließlich drittens: ‚Daß die Kirche kein Reich von dieser Welt sei‘ ...“
„Das allerunwürdigste Wortspiel für einen Geistlichen!“ unterbrach wieder ungeduldig Pater Paissij. „Ich habe dieses Buch gelesen, auf das Sie geantwortet haben,“ sagte er zu Iwan Fedorowitsch, „und ich war nicht wenig erstaunt über die Worte des Geistlichen, daß die Kirche ‚kein Reich von dieser Welt‘ sei. Wenn sie nicht von dieser Welt wäre, so könnte sie folglich überhaupt nicht auf der Welt existieren. Im heiligen Evangelium sind die Worte: ‚nicht von dieser Welt‘ nicht in diesem Sinne gebraucht. Mit solchen Worten aber zu spielen, geht nicht an. Unser Herr Jesus Christus ist doch nur deswegen gekommen, um die Kirche gerade hier auf Erden zu gründen. Das Himmelreich ist natürlich nicht von dieser Welt, sondern im Himmel, doch kann man in dasselbe nicht anders eingehen als durch die Kirche, die auf der Erde gegründet und errichtet ist. Und darum sind alle Wortspiele in diesem Sinne unmöglich und unwürdig. Die Kirche aber ist in Wahrheit Herrschaft hier auf Erden und ihr ist bestimmt, zu herrschen, und ihr Ziel kann zweifellos nur eines sein: Ihre Herrschaft über die ganze Welt auszudehnen, – wie es uns auch die Verheißung sagt ...“
Er verstummte plötzlich, als ob er sich bezwingen wollte. Iwan Fedorowitsch, der ihm höflich und aufmerksam zugehört hatte, fuhr mit ungewöhnlicher Ruhe wie vorher bereitwillig und offenherzig, zum Staretz gewandt, in seiner Erklärung fort:
„Der ganze Gedanke, den ich in meinem Artikel entwickelt habe, besteht darin, daß das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten auf der Erde bloß in Gestalt einer Kirche erschien und auch nur Kirche war. Als aber das heidnische römische Imperium christlich werden sollte, war es ja nur natürlich, daß es, indem es christlich wurde, die Kirche bloß in sich aufnahm, selbst aber fortfuhr, in äußerst vielen Dingen wie früher ein heidnischer Staat zu bleiben. Und im Grunde genommen, hätte es zweifellos anders überhaupt nicht geschehen können. Es blieb in Rom, als Imperium genommen, gar zu viel von der alten Zivilisation und der heidnischen Weisheit übrig, wie zum Beispiel die Ziele und Grundsätze des Imperiums selbst. Die Kirche Christi jedoch konnte, als sie in den Staat eintrat, natürlich nichts von ihrem Grundgedanken, diesem Stein, auf dem sie stand, aufgeben oder abtreten und konnte also nur ihre Ziele verfolgen, die ihr einmal vom Herrn selbst gesetzt und angewiesen waren, wie unter anderem: Die ganze Welt und damit folglich auch das ganze frühere heidnische Imperium in Kirche zu verwandeln. So muß denn also – versteht sich, vom zukünftigen Ziel der Kirche gesprochen – nicht die Kirche sich einen bestimmten Platz im Staate suchen, wie ‚jeder andere gesellschaftliche Verband‘ oder wie ‚ein Verband der Menschen zu religiösen Zwecken‘ – so drückt sich der geistliche Autor, dem ich entgegnete, über die Kirche aus –, sondern im Gegenteil, jeder Erdenstaat müßte sich zum Schluß vollkommen in Kirche verwandeln und nichts anderes werden als bloß Kirche, und sich dann natürlich von allen seinen Zielen, die mit den Zielen der Kirche nicht übereinstimmen, einfach abwenden. Das alles würde den Staat als solchen in nichts erniedrigen, ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm als Großmacht nehmen, noch würde es den Ruhm seiner Herrscher schmälern, sondern würde den Staat nur von dem falschen, noch heidnischen und irreführenden Weg auf den richtigen und wahren Weg stellen, auf den einzigen, der zu ewigen Zielen führt. Darum hätte der Autor des Buches über die Grundlagen des kirchlich-zivilen Gerichts ganz richtig geurteilt, wenn er bei seiner Untersuchung und Feststellung dieser Grundlagen dieselben als einen zeitlichen, in unserer sündigen, noch unvollendeten Zeit notwendigen Kompromiß und sonst nichts weiter behandelt hätte. Sobald aber der Autor dieser ‚Grundlagen‘ sich erdreistet, zu erklären, daß seine Grundlagen, die er jetzt aufstellt, und die teilweise Pater Jossiff soeben aufzählte, unerschütterliche, elementarische und ewige seien, geht er direkt gegen die Kirche vor und gegen ihre heilige, ewige und unerschütterliche Bestimmung. Das ist der ganze Standpunkt meines Artikels.“
„Das heißt also, kurz gesagt,“ begann wieder Pater Paissij, jedes Wort betonend, „nach gewissen Theorien, die sich in unserem neunzehnten Jahrhundert nur zu deutlich ausgeprägt haben, soll sich die Kirche in Staat verwandeln – gleichsam aus einer niedrigeren Form in eine höhere –, um darauf ganz in ihm zu verschwinden, indem sie vor der Wissenschaft, dem Zeitgeist und der Zivilisation zurücktritt, ihnen also einfach Platz macht. Wenn sie das aber nicht will und sich dem widersetzt, so wird ihr im Staat gleichsam nur eine gewisse Ecke eingeräumt, und selbst die nur unter Aufsicht. Und das geschieht jetzt überall in den gegenwärtigen europäischen Ländern. Nach der russischen Auffassung und Zuversicht dagegen soll sich nicht die Kirche in Staat verwandeln, wie aus einem niedrigeren in einen höheren Typ, sondern der Staat soll sich vorbereiten, einzig und allein Kirche und nichts weiter als das zu werden. Dieses sei sein Endziel. Und also geschehe es, Amen!“
„Nun, ich muß gestehen, Sie haben mich jetzt wieder etwas ermutigt,“ sagte Miussoff und schlug ein Bein übers andere. „Soweit ich es verstehe, handelt es sich also um die Verwirklichung irgendeines Ideals, eines unendlich fernen, bei der Wiederkunft des Herrn. Nun, dagegen habe ich nichts. Ein wunderschöner utopischer Traum von der Abschaffung der Kriege, Diplomaten, Banken usw. Etwas, was sogar wie Sozialismus aussieht. Ich aber dachte schon, daß das alles Ernst sei, und die Kirche jetzt bereits über Kriminalfragen richten, zu Ruten und Zwangsarbeit und vielleicht sogar zur Todesstrafe verurteilen solle.“
„Wenn es nur ein einziges kirchlich-ziviles Gericht gäbe, so würde die Kirche auch jetzt nicht zur Zwangsarbeit oder zur Todesstrafe verurteilen. Das Verbrechen und seine Auffassung müßten sich dann selbstverständlich ganz verändern, natürlich allmählich, nicht plötzlich und nicht sofort, immerhin ziemlich bald ...“ sagte ruhig, und ohne mit der Wimper zu zucken, Iwan Fedorowitsch.
„Meinen Sie das etwa im Ernst?“ Miussoff blickte ihn aufmerksam an.
„Wenn alles Kirche wäre, so würde die Kirche den Verbrecher oder den Ungehorsamen ausschließen, nicht aber Köpfe fällen,“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort. „Nun frage ich Sie aber, wohin würde dann der Exkommunizierte gehen? Dann müßte er ja nicht nur von den Menschen, wie jetzt, sondern auch von Christus fortgehen. Dann würde er sich mit seinem Verbrechen nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen die Kirche Christi vergangen haben. Das ist natürlich im strengsten Sinne auch jetzt so, doch ist es immerhin nicht offiziell erklärt, und so findet sich denn heute der Verbrecher sehr häufig mit seinem Gewissen auf diese Weise ab, indem er sich sagt: ‚Habe wohl gestohlen, greife aber nicht die Kirche an, bin Christus kein Feind.‘ Das sagt sich heutzutage fast ausnahmslos jeder Verbrecher. Wenn aber die Kirche an Stelle des Staates getreten ist, dann könnte er es sich schwerlich sagen, es sei denn, daß er die ganze Kirche auf der ganzen Welt verneinte: ‚Alle irren sich, alle sind vom richtigen Wege abgekommen, alle sind Pseudokirche, nur ich allein, der Mörder und Dieb – bin die wahre christliche Kirche.‘ Das aber sich zu sagen, ist doch sehr schwer und verlangt ungeheure Bedingungen, setzt Umstände voraus, die es nicht häufig gibt. Jetzt nehmen Sie andererseits jene Auffassung des Verbrechens, wie sie die Kirche hat: Wird sich dann die allgemeine Auffassung des Verbrechens nicht ändern müssen, im Vergleich zur gegenwärtigen, fast heidnischen Auffassung, wird sie sich dann nicht vielmehr aus der Idee, das kranke Glied mechanisch abtrennen zu müssen, wie es jetzt zum Schutze der Gesellschaft getan wird, wahrhaft und nicht nur scheinbar in die Idee der Wiedergeburt des Menschen, seiner Auferstehung und Rettung verwandeln ...“
„Was soll denn das jetzt wieder bedeuten? Ich höre wieder auf, zu verstehen,“ unterbrach Miussoff, „wieder irgendeine Phantasie! etwas Formloses, aus dem man überhaupt nicht klug werden kann. Wie meinen Sie das – ‚ausschließen‘ und was soll das für eine Exkommunikation sein? Ich vermute stark, daß Sie einfach nur zu scherzen belieben, Iwan Fedorowitsch.“
„Aber genau genommen ist es ja auch jetzt ganz dasselbe,“ sagte plötzlich der Staretz, und sofort wandten sich aller Blicke ihm zu, „denn wenn es jetzt keine Kirche Christi gäbe, so hätte der Verbrecher keinen einzigen Halt nach dem Verbrechen und nicht einmal die Möglichkeit einer Buße, das heißt, einer wirklichen und nicht, wie Sie sagten, mechanischen Buße, die in der Mehrzahl der Fälle nur das Herz erbittert – sondern die wirkliche Buße, die einzige abschreckende und die einzige friedenbringende Buße, die in der Erkenntnis des eigenen Gewissens liegt.“
„Erlauben Sie, wie meinen Sie das?“ erkundigte sich mit dem lebhaftesten Interesse Miussoff.
„Ich meine das so,“ begann der Staretz. „Alle diese Verschickungen, die Zwangsarbeit und früher noch die Körperstrafe verbessern niemanden, und vor allem schrecken sie keinen einzigen Verbrecher ab; die Zahl der Verbrechen verringert sich nicht etwa, sondern vergrößert sich noch immer. Das müssen Sie mir doch vollkommen zugeben. Und so ergibt sich, daß die Gesellschaft auf diese Weise keineswegs beschützt ist, denn wenn auch das schädliche Mitglied mechanisch abgetrennt und weit fortgeschickt wird, aus den Augen, aus dem Sinn, so wird es doch sofort durch einen anderen Verbrecher, vielleicht sogar durch zwei Verbrecher, ersetzt. Wenn es etwas gibt, das die Gesellschaft in unserer Zeit beschützt und sogar den Verbrecher selbst bessert und in einen anderen Menschen verwandelt, so ist das wiederum nur das Gebot Christi, das sich in der Erkenntnis des eigenen Gewissens kundtut. Nur wenn er sich seine Schuld als Sohn der Gemeinschaft Christi, das heißt, der Kirche, eingesteht, sieht er auch seine Schuld vor der Gemeinschaft selbst, das heißt, vor der Kirche, ein. Somit ist denn der gegenwärtige Verbrecher einzig vor der Kirche fähig, seine Schuld anzuerkennen, nicht aber vor dem Staat. Und darum, wenn nun das Gericht der Gemeinschaft als Kirche gehören würde, dann würde dieselbe wissen, wen sie aus der Verbannung zurückführen und wieder aufnehmen könnte. Jetzt jedoch entfernt sich die Kirche, da sie wohl die Möglichkeit allein des sittlichen Verurteilens, nicht aber ein aktives Gericht hat, von der aktiven Buße des Verbrechers ganz von selbst. Sie schließt ihn nicht aus und verläßt ihn nie mit ihrem väterlichen Trost. Ja, sie bemüht sich sogar, mit dem Verbrecher die ganze christliche, kirchliche Gemeinschaft zu erhalten: Sie läßt ihn zum Gottesdienst, zum Abendmahl zu, sie gibt ihm Almosen und verhält sich zu ihm mehr wie zu einem Verführten, als wie zu einem Schuldigen. Und was würde mit dem Verbrecher geschehen, o Gott! wenn auch die christliche Gemeinschaft, das heißt die Kirche, ihn ebenso verstoßen würde, wie ihn das bürgerliche Gesetz verstößt und ausschließt? Was würde mit ihm geschehen, wenn jedesmal und sofort nach der Strafe des staatlichen Gesetzes auch die Kirche ihn mit der Ausschließung strafte? Eine größere Verzweiflung kann es ja gar nicht geben, wenigstens nicht für den russischen Verbrecher, denn die russischen Verbrecher sind noch gläubig. Doch übrigens, wer kann es wissen: vielleicht würde dann etwas ganz Furchtbares geschehen: das verzweifelte Herz des Verbrechers würde vielleicht völlig den Glauben verlieren, und was dann? Doch die Kirche zieht sich als zärtliche und liebende Mutter freiwillig von einer aktiven Bestrafung zurück, da der Schuldige auch ohne ihre Strafe durch das staatliche Gericht sowieso schon gar zu grausam bestraft ist, ihn aber wenigstens irgend jemand bemitleiden muß. Vor allem deswegen, weil das Gericht der Kirche das einzige ist, welches nichts als die Wahrheit enthält und sich infolgedessen wesentlich und sittlich mit keinem einzigen anderen Gericht, nicht einmal zu einem provisorischen Kompromiß, vereinigen kann. Hierbei kann man sich nicht auf Vergleiche einlassen. Der ausländische Verbrecher, sagt man, bereue selten, denn sogar die jetzt sich verbreitenden Lehren bestärken ihn in dem Gedanken, daß sein Verbrechen kein Verbrechen sei, sondern nur eine Auflehnung gegen die ungerecht unterdrückende Macht. Die Gesellschaft scheidet ihn vollkommen mechanisch durch die über ihn triumphierende Macht aus und begleitet diese Ausscheidung noch mit Haß – wenigstens sagen sie in Europa selbst so von sich –, mit Haß und vollster Gleichgültigkeit für ihres Bruders weiteres Schicksal. So geschieht denn dort alles ohne das geringste kirchliche Mitleid, denn in vielen Fällen gibt es dort überhaupt keine Kirchen mehr, es gibt dort nur noch Kleriker, Kirchendiener und prachtvolle Kirchengebäude; die Kirchen selbst jedoch streben dort schon längst nach dem Übergang aus der niedrigeren Form der Kirche in die höhere Form des Staates, um in ihm ganz zu verschwinden. So ist es, glaube ich, wenigstens in den lutherischen Ländern. In Rom aber wird ja schon seit tausend Jahren an Stelle der Kirche der Staat verkündet. Darum also hält sich der Verbrecher selbst nicht mehr für ein Glied der Kirche und verbleibt als Ausgestoßener in der Verzweiflung. Wenn er aber in die Gesellschaft zurückkehrt, so geschieht dies nicht selten mit solch einem Haß, daß die Gesellschaft ihn ganz von selbst wieder ausstößt. Womit das endet, können Sie sich selbst sagen. In vielen Fällen könnte es scheinen, daß es auch bei uns dasselbe sei: Doch das ist es ja gerade, daß es bei uns außer dem staatlichen Gericht noch die Kirche gibt, die niemals die Verbindung mit dem Verbrecher, als mit ihrem lieben und immer noch teuren Sohne, aufgibt. Und überdies gibt es bei uns noch – und wenn auch meinetwegen nur geistig – das Gericht der Kirche, das jetzt allerdings noch nicht in Tätigkeit ist, doch immerhin für die Zukunft lebt; und wenn es sich auch nur im Geiste erhält, so wird es doch vom Verbrecher selbst fraglos durch den Instinkt seiner Seele schon jetzt anerkannt. Und auch das ist ganz richtig, was hier vorhin gesagt wurde: Wenn das Gericht der Kirche wirklich und in seiner ganzen Macht eingeführt werden würde, das heißt, wenn die ganze Gesellschaft sich ausschließlich in Kirche verwandeln sollte, so würde nicht nur das Gericht der Kirche selbst auf die Besserung des Verbrechers in einer Weise einwirken, wie es jetzt ganz undenkbar ist, sondern es würden sich vielleicht auch die Verbrechen in unglaublichem Maße verringern, im Verhältnis zu früher gesprochen. Und auch darüber kann kein Zweifel bestehen, daß die Kirche den zukünftigen Verbrecher und das zukünftige Verbrechen in vielen Fällen ganz anders auffassen würde, als man es jetzt auffaßt, und daß sie es verstehen würde, den Ausgestoßenen zurückzuführen, den Böses Sinnenden zu warnen und den Gefallenen wieder aufzurichten. Allerdings,“ fuhr der Staretz lächelnd fort, „vorläufig ist ja die christliche Gesellschaft noch selbst nicht fertig und steht nur auf den sieben Gerechten; da aber diese nicht aussterben werden, so bleibt sie immerhin unerschütterlich in der Erwartung ihrer vollständigen Verwandlung aus der Gesellschaft, als einer fast noch heidnischen Verbindung, in die einzige ökumenische und herrschende Kirche. Und also geschehe es, und wenn auch zu Ende der Zeiten, denn nur diesem allein ist vorherbestimmt, in Erfüllung zu gehen! Und wozu sich durch die lange Zeit verwirren lassen, das Geheimnis der Zeiten und des Endzieles liegt in der Allwissenheit Gottes, in seiner Vorsehung und seiner Liebe. Und was nach menschlichem Ermessen sehr weit entfernt ist, das kann nach der Vorherbestimmung Gottes vielleicht schon vor der Tür stehen. Hoffen wir, daß dieses also ist! Amen!“
„Amen, Amen!“ wiederholte andächtig und streng Pater Paissij.
„Sonderbar, höchst sonderbar!“ meinte Miussoff nicht etwa heftig, wohl aber wie mit einem heimlichen, sagen wir – Unwillen.
„Was scheint Ihnen denn so sonderbar?“ erkundigte sich vorsichtig Pater Jossiff.
„Ja, was bedeutet denn das eigentlich?“ fuhr Miussoff sofort auf, als ob er sich plötzlich nicht mehr zurückhalten wollte. „Der Staat wird auf der Erde beseitigt, die Kirche aber wird zum Staate erhoben! Das ist ja nicht mehr Ultramontanismus, das ist einfach Erz-Ultramontanismus! Das hat sich selbst Papst Gregor der Siebente nicht einmal träumen lassen!“
„Verzeihung, Sie haben es gerade umgekehrt aufgefaßt!“ sagte streng Pater Paissij. „Nicht die Kirche verwandelt sich in Staat, beachten Sie das wohl. Das ist Rom und sein Ideal. Das ist die dritte Versuchung des Teufels! Sondern im Gegenteil: Der Staat verwandelt sich in Kirche, erhebt sich bis zur Kirche und wird Kirche auf der ganzen Erde, – was dem Ultramontanismus Roms und Ihrer Auffassung vollkommen entgegengesetzt und nur die große Bestimmung der Rechtgläubigkeit auf Erden ist. Von Osten her kommt das Licht.“
Miussoff schwieg bedeutsam. Seine ganze Gestalt drückte ungewöhnliche persönliche Würde aus. Ein ungemein herablassendes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Aljoscha hatte alles mit stark klopfendem Herzen verfolgt. Dieses ganze Gespräch regte ihn bis in die Grundtiefen auf; zufällig blickte er zu Rakitin hinüber: der stand unbeweglich auf seinem alten Platz an der Tür und beobachtete und hörte aufmerksam zu, obgleich er den Blick gesenkt hielt. Doch an der lebhaften Farbe seines Gesichts erriet Aljoscha, daß auch Rakitin vielleicht nicht weniger als er selbst erregt war; Aljoscha wußte, was ihn erregte.
„Gestatten Sie mir, meine Herren, Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen,“ sagte plötzlich eindringlich und mit gewissermaßen besonders würdevoller Miene Miussoff. „Es war vor etlichen Jahren in Paris, kurz nach der Dezemberrevolution, da traf ich einmal, als ich im Hause eines sehr hochstehenden Mannes – er war damals einer von der Regierung – meine Aufwartung machte, da traf ich, wie gesagt, dort in seinen Empfangsräumen einen ungemein interessanten Herrn. Dieses Individuum war nicht gerade Detektiv, aber doch so etwas in der Art eines Direktors, sagen wir, eines ganzen Kommandos politischer Detektivs – in seiner Art ein ganz einflußreicher Mann. Nun, ich knüpfte mit ihm ein Gespräch an, da er mich ungemein interessierte, und da er nicht als Bekannter, sondern als untergebener Beamter mit einer gewissen Art von Rapporten gekommen war, so teilte er mir, da er sah, wie ich bei seinem Vorgesetzten empfangen wurde, seinerseits einige Amtsgeheimnisse mit – nun, versteht sich, nur bis zu einem gewissen Grade, das heißt, er war eher nur höflich als gerade aufrichtig, so wie die Franzosen höflich zu sein verstehen, um so mehr, als er in mir einen Ausländer erkannte. Doch ich begriff ihn sehr gut. Das Gespräch drehte sich um die sozialistischen Revolutionäre, die damals verfolgt wurden. Ich übergehe die Hauptpunkte des Gesprächs; ich will nur eine sehr interessante Bemerkung, die er plötzlich fallen ließ, wiedergeben: ‚Diese Sozialisten, Anarchisten, Atheisten und Revolutionäre fürchten wir nicht sonderlich,‘ sagte er, ‚wir beobachten sie nur, und im übrigen sind uns alle ihre Schachzüge bekannt. Unter ihnen aber gibt es, wenn auch nicht viele, so doch einige besondere Leute: das sind Christen, die an Gott glauben, zu gleicher Zeit aber auch Sozialisten sind. Sehen Sie, die sind es, die wir am meisten fürchten; das ist ein gefährliches Volk! Der christliche Sozialist ist viel gefährlicher als der atheistische Sozialist.‘ Diese Worte frappierten mich auch damals schon; jetzt aber, hier bei Ihnen, meine Herren, sind sie mir wieder eingefallen ...“
„Das heißt, daß Sie sie auf uns anwenden und auch in uns Sozialisten sehen?“ fragte gerade heraus, ohne alle Umschweife Pater Paissij.
Doch bevor noch Miussoff an eine Antwort denken konnte, öffnete sich die Tür, und Dmitrij Fedorowitsch, der sich so unverzeihlich verspätet hatte, trat ein. Man hatte ihn, wie es schien, ganz vergessen, und sein plötzliches Erscheinen rief im ersten Augenblick sogar ein gewisses Erstaunen hervor.