Dmitrij Fedorowitsch, mittelgroß, mit einem sympathischen Gesicht, war erst achtundzwanzig Jahre alt, sah jedoch weit älter aus. Er war muskulös, und man konnte ihm eine bedeutende körperliche Kraft ansehen, doch drückte sich in seinem Gesicht zugleich etwas Krankhaftes aus. Er war mager, die Wangen waren eingefallen, und er hatte eine sonderbare, ungesunde, bleiche Farbe. Seine ziemlich großen, dunklen, etwas hervorstehenden Augen blickten scheinbar in fester Beharrlichkeit und doch gewissermaßen unbestimmt. Selbst wenn er erregt war oder gereizt sprach, gehorchte sein Blick, wie es schien, nicht seiner inneren Stimmung und drückte etwas anderes aus, zuweilen sogar etwas, was seinen Worten oder der Situation gar nicht entsprach. „Es ist schwer zu sagen, woran er eigentlich denkt,“ äußerten sich zuweilen Menschen, die mit ihm gesprochen hatten. Andere wiederum, die in seinen Augen etwas Nachdenkliches, Trauriges sahen, waren erstaunt, ihn ganz plötzlich lachen zu hören, was von seinen heiteren, spielerischen Gedanken in dem Moment zeugte, als seine Augen noch so düster und trübe geblickt hatten. Übrigens war sein etwas krankhaftes Aussehen noch aus einem besonderen Grunde begreiflich: man sprach ja allgemein von dem ungewöhnlich unruhigen und flotten Leben, dem er sich gerade in der letzten Zeit bei uns ergeben hatte. Man sprach auch von den unglaublichen Zornausbrüchen, zu denen er sich in den Streitigkeiten mit seinem Vater wegen des ihm vorenthaltenen Geldes hatte hinreißen lassen; in der Stadt liefen darüber sogar mehrere Anekdoten um. Es ist wahr, daß er auch schon von Natur reizbar war, „von unregelmäßigem, veränderlichem Gemüt,“ wie sich unser Friedensrichter Ssemjon Iwanowitsch Katschaljnikoff in einer Gesellschaft einmal charakteristisch über ihn äußerte. Er war tadellos und elegant gekleidet: in einem zugeknöpften Gehrock, mit schwarzen Handschuhen, den Zylinder in der Hand, trat er ein. Als Offizier, der erst vor kurzem seinen Abschied genommen hatte, trug er einen Schnurrbart und ein glattrasiertes Kinn. Sein dunkelblondes Haar war kurzgeschoren und an den Schläfen etwas nach vorn gekämmt; er hatte einen energischen Gang, schritt weit aus wie eben ein Frontoffizier. Er blieb auf der Schwelle stehen und, nachdem sein Blick alle Anwesenden überflogen hatte, schritt er entschlossen auf den Staretz zu, in dem er sofort die Hauptperson erraten hatte. Er verneigte sich tief vor ihm und bat ihn um seinen Segen. Der Staretz erhob sich und segnete ihn. Dmitrij Fedorowitsch küßte ihm ehrerbietig die Hand und sagte darauf ungewöhnlich erregt, fast gereizt:
„Verzeihen Sie, bitte, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Der Diener Ssmerdjäkoff, den mein Vater zu mir geschickt hatte, sagte mir auf meine wiederholte Frage nach der Zeit des Besuches zweimal in der bestimmtesten Weise, daß er zu 1 Uhr angesagt worden sei, und jetzt erfahre ich plötzlich ...“
„Beunruhigen Sie sich nicht,“ unterbrach ihn der Staretz, „Sie haben sich etwas verspätet; aber das hat ja nichts zu sagen ...“
„Ich bin Ihnen sehr dankbar und habe auch von Ihrer Güte nicht weniger erwartet.“
Nachdem er dies hervorgestoßen, verbeugte sich Dmitrij Fedorowitsch noch einmal vor ihm, darauf aber wandte er sich zu seinem Vater und machte vor ihm plötzlich eine ehrerbietige und tiefe Verbeugung. Man sah ihm an, daß er sich diese Höflichkeit vorgenommen hatte und sie wirklich aufrichtig meinte, da er es für seine Pflicht hielt, wenigstens auf diese Weise seine Ehrerbietung sowie seine guten Absichten auszudrücken. Fedor Pawlowitsch aber, der zuerst vor Überraschung nicht recht wußte, wie ihm geschah, fand sich nach einem Augenblick doch wieder auf seine Art: Er sprang hastig von seinem Stuhl auf und antwortete seinem Sohne auf die Höflichkeit mit ganz genau solch einer Verbeugung. Sein Gesicht wurde plötzlich wichtig und bedeutsam, was ihm einstweilen ein entschieden böses Aussehen verlieh. Dmitrij Fedorowitsch begrüßte schweigend mit einem kurzen Gruß die übrigen Anwesenden und ging dann mit seinen großen, gleichmäßigen Schritten zum Fenster, wo er sich auf den einzigen freien Stuhl setzte, nicht weit vom Pater Paissij, und sitzend vorgeneigt, sofort dem unterbrochenen Gespräch zuhören zu wollen schien.
Die ganze Unterbrechung hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert, und so war es nur selbstverständlich, daß das Gespräch wieder aufgenommen wurde. Diesmal hielt es Miussoff nicht für nötig, auf die bestimmte und fast gereizte Frage des Paters zu antworten.
„Gestatten Sie, dieses Thema abzubrechen,“ sagte er mit einer gewissen gesellschaftlichen Nachlässigkeit. „Zudem ist dieses Thema doch etwas schwierig; sehen Sie, Iwan Fedorowitsch lächelt über uns: er muß wahrscheinlich etwas besonders Interessantes auf diese Frage zu antworten haben. Fragen Sie daher, bitte, ihn.“
„O, nichts Besonderes, außer der kleinen Bemerkung,“ entgegnete sofort Iwan Fedorowitsch, „daß der europäische Liberalismus, im allgemeinen, und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus schon längst und nicht etwa selten die Endresultate des Sozialismus mit denen des Christentums verwechseln. Diese unsinnige Folgerung ist natürlich ein charakteristischer Zug; übrigens verwechseln den Sozialismus mit dem Christentum, wie man sieht, nicht nur die Liberalen und Dilettanten, sondern mit ihnen in vielen Fällen auch noch die Gendarmen, versteht sich, nur die ausländischen. Ihre Pariser Geschichte ist wirklich recht charakteristisch, Pjotr Alexandrowitsch!“
„Im übrigen bitte ich nochmals um die Erlaubnis, dieses Thema abzubrechen,“ wiederholte Miussoff, „dafür aber werde ich Ihnen eine äußerst interessante und charakteristische Geschichte von Iwan Fedorowitsch erzählen. Vor nicht länger als fünf Tagen erklärte er in einer hiesigen vornehmlich aus Damen bestehenden Gesellschaft während eines Disputs feierlichst, daß es auf der ganzen Erde entschieden nichts gäbe, was den Menschen veranlassen könnte, Seinesgleichen zu lieben, daß solch ein Naturgesetz: der Mensch muß die Menschheit lieben – überhaupt nicht vorhanden und, wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, dieses nicht nach dem Naturgesetz, sondern einzig darum so sei, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fedorowitsch fügte bei der Gelegenheit noch en parenthèse hinzu, daß darin gerade das ganze Naturgesetz bestünde, so daß, wenn man im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens versiegen würde, und nicht nur das: es würde dann nichts Unsittliches mehr geben, sagte er, alles würde dann erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Und auch damit war’s noch nicht genug: er schloß mit der Behauptung, daß sich für jede Privatperson, wie hier zum Beispiel ich, die weder an Gott noch an ihre Unsterblichkeit glaubt, das sittliche Gesetz der Natur in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln müsse, und daß ein Egoismus sogar bis zum Verbrechen dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich gar edelster Ausweg in seiner Lage anerkannt werden müsse. Nach diesem Paradoxon, meine Herren, können Sie auf das übrige schließen, was unser lieber paradoxer Exzentriker, Iwan Fedorowitsch, proklamiert und vielleicht auch noch zu proklamieren beabsichtigt.“
„Erlauben Sie,“ rief plötzlich ganz unerwartet Dmitrij Fedorowitsch dazwischen, „habe ich recht gehört: ‚Das Verbrechen muß nicht nur erlaubt sein, sondern sogar als unvermeidlicher und vernünftigster Ausweg aus der Lage eines jeden Gottlosen anerkannt werden!‘ War es so oder nicht?“
„Genau so,“ sagte Pater Paissij.
„Das werde ich mir merken!“
Und Dmitrij Fedorowitsch verstummte ebenso plötzlich, wie er sich in das Gespräch hineingemischt hatte. Alle blickten ihn neugierig an.
„Ist das von den Folgen, die der Verlust des Glaubens der Menschen an die Unsterblichkeit ihrer Seele haben würde, wirklich Ihre Überzeugung?“ fragte plötzlich der Staretz Iwan Fedorowitsch.
„Ich habe das einmal behauptet. Es gäbe keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.“
„Selig sind Sie, wenn das Ihr Glaube ist, oder aber maßlos unglücklich!“
„Warum denn unglücklich?“ fragte Iwan Fedorowitsch lächelnd.
„Weil Sie selbst aller Wahrscheinlichkeit nach weder an die Unsterblichkeit Ihrer Seele glauben, noch daran, was Sie von der Kirche und über die Kirchenfrage geschrieben haben.“
„Vielleicht haben Sie recht ... Aber immerhin habe ich doch nicht nur gescherzt ...“ gestand plötzlich sonderbarerweise Iwan Fedorowitsch, wobei er übrigens flüchtig errötete.
„Nicht nur gescherzt, das ist wahr; diese Idee hat sich in Ihrem Herzen noch nicht entschieden, und so quält sie das Herz. Doch auch der Märtyrer liebt es zuweilen, mit seiner Verzweiflung zu spielen, gewissermaßen gleichfalls aus Verzweiflung. Vorläufig spielen auch Sie aus Verzweiflung, wenn Sie Zeitungsartikel schreiben und in Gesellschaften disputieren, ohne dabei selbst an Ihre Dialektik zu glauben, über die sie bei sich mit wehem Herzen lachen ... Dieses Problem ist in Ihnen nicht gelöst, und darin besteht Ihr großes Leid, denn es heischt unerbittlich eine Lösung ...“
„Aber kann es denn in mir überhaupt gelöst werden? Gelöst im positiven Sinne?“ fuhr Iwan Fedorowitsch fort, sonderbar zu fragen, wobei er immer noch mit einem unerklärlichen Lächeln auf den Staretz blickte.
„Wenn es sich nicht im positiven Sinne lösen kann, so wird es sich auch niemals im negativen Sinne lösen, Sie kennen doch selbst diese Eigenschaft Ihres Herzens, darin besteht seine ganze Qual. Danken Sie dem Schöpfer, daß er Ihnen ein höheres Herz gegeben hat, das fähig ist, sich mit dieser furchtbaren Frage zu quälen, ‚trachtend nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist, denn unser Leben ist im Himmelreich‘. Gebe Gott, daß Ihr Herz noch auf Erden seine Lösung finde, und möge Gott Ihre Wege segnen!“
Der Staretz erhob die Hand und wollte schon von seinem Platz aus das Zeichen des Kreuzes über Iwan Fedorowitsch machen. Doch der erhob sich plötzlich, trat zu ihm und empfing den Segen; darauf küßte er ihm die Hand und kehrte stumm zu seinem Platz zurück. Der Ausdruck seines Gesichts war entschlossen und ernst. Diese Handlung, sowie das ganze vorhergegangene sonderbare Gespräch mit dem Staretz, das man von Iwan Fedorowitsch niemals erwartet hätte, schienen alle durch ihre Rätselhaftigkeit und fast Feierlichkeit stutzig zu machen, so daß das Schweigen eine ganze Minute andauerte. Auf Aljoschas Gesicht drückte sich beinahe Schrecken aus. Da aber zuckte Miussoff plötzlich mit den Achseln, und sofort sprang auch der alte Karamasoff auf.
„Göttlicher, heiligster Staretz!“ rief er pathetisch aus, auf Iwan Fedorowitsch weisend. „Das ist mein Sohn, Leib von meinem Leib, mein liebster Leib! Das ist mein ehrerbietigster, sozusagen Karl Moor, jener dort aber, mein Sohn Dmitrij Fedorowitsch, der jetzt erst eingetreten ist und gegen den ich bei Ihnen mein Recht suche – das ist der unehrerbietigste Franz Moor – beide aus Schillers ‚Räubern‘ –, ich selbst aber, ich selbst bin in diesem Falle natürlich der regierende Graf von Moor! Jetzt urteilen Sie! Und retten Sie! Wir bedürfen nicht nur Ihrer Gebete, sondern auch Ihrer Weissagungen.“
„Reden Sie, ohne dabei den Narren zu spielen, und beginnen Sie nicht mit Beleidigungen Ihrer Angehörigen,“ sagte der Staretz mit schwacher, erschöpfter Stimme. Ersichtlich wurde er immer müder, und seine Kräfte verließen ihn fast wahrnehmbar.
„Diese unwürdige Komödie habe ich schon vorausgeahnt!“ rief unmutig Dmitrij Fedorowitsch, der gleichfalls aufsprang. „Verzeihen Sie, ehrwürdiger Vater,“ wandte er sich an den Staretz, „ich bin nur ein ungebildeter Mensch und weiß sogar nicht einmal, wie man Sie anreden muß, man hat Sie aber betrogen, und es war von Ihnen eine viel zu große Güte, uns hier zu empfangen. Mein Vater will es nur zu einem Skandal bringen, wozu er den nötig hat – das weiß ich nicht; doch wird er dabei schon auf seine Rechnung kommen. Er hat bei allem, was er tut, seine besondere Rechnung; übrigens glaube ich zu wissen, wozu ...“
„Natürlich beschuldigen sie mich alle, alle beschuldigen sie mich!“ rief seinerseits der alte Karamasoff; „auch Pjotr Alexandrowitsch beschuldigt mich! Das haben Sie getan, Pjotr Alexandrowitsch, das haben Sie ...!“ rief er plötzlich, sich zu Miussoff umdrehend, heftig, obgleich es diesem gar nicht eingefallen war, ihm zu widersprechen. „Man beschuldigt mich, ich soll das Geld meiner Kinder in meine Stiefel gesteckt haben und allen das Fell über die Ohren ziehen. Aber erlauben Sie, gibt es denn etwa kein Gericht? Dort würde man Ihnen, Dmitrij Fedorowitsch, nach Ihren eigenen Quittungen, Briefen und Kontrakten sofort verrechnen, wieviel Sie besaßen, wieviel Sie durchgebracht haben und wieviel Ihnen übrigbleibt! Warum vermeidet es Pjotr Alexandrowitsch, die Sache vors Gericht zu bringen? Dmitrij Fedorowitsch ist ihm doch kein Fremder! Er tut’s aber nicht, weil alle auf mich loshacken; Dmitrij Fedorowitsch jedoch ist mir in Summa noch schuldig, und nicht etwas, sondern viele Tausende, was ich mit allen Dokumenten beweisen kann! Die ganze Stadt schnattert ja von seinen überall bekannten Trinkgelagen! Dort aber, wo er in Garnison stand, dort hat er tausend oder zweitausend Rubel hinausgeworfen, um ehrsame Mädchen zu verführen; ja ja, das wissen wir, Dmitrij Fedorowitsch, samt allen sekreten Ausführlichkeiten, – das kann ich gleichfalls beweisen ... Heiligster Vater, werden Sie’s glauben: hat das edelste aller Mädchen bestrickt, eine Tochter aus gutem Hause, mit einem Kapital, die Tochter seines früheren Kommandeurs, eines tapferen, verdienten Obersten, der schon Orden und sogar die Anna mit den Schwertern am Halse trug, hat das Mädchen mit einem Heiratsantrag kompromittiert; jetzt ist sie hier, ist Waise, seine Braut; er aber geht vor ihren Augen mit einer hiesigen Kurtisane. Und wenn auch diese Dame mit einem ehrenwerten Menschen in sozusagen bürgerlicher Ehe gelebt hat, so ist sie doch, was den Charakter anbetrifft, sehr unabhängig, ist für alle eine uneinnehmbare Festung, als ob sie eine rechtmäßige Frau wäre; denn sie ist tugendhaft – ja! meine heiligen Väter, sie ist tugendhaft! Und Dmitrij Fedorowitsch will nun diese Festung mit goldenem Schlüssel öffnen, weswegen er sich denn jetzt auf das Geld, das ich ihm schulden soll, versteift, es herauspressen will; inzwischen aber hat er schon Tausende ihretwegen verzettelt. Ihretwegen borgt er ununterbrochen Geld, und unter anderem auch bei wem, was glauben Sie wohl? Soll ich’s sagen oder nicht, Mitjä!“
„Schweigen Sie!“ schrie Dmitrij Fedorowitsch. „Warten Sie, bis ich hinausgegangen bin; aber in meiner Gegenwart dürfen Sie sich nicht unterstehen, das edelste Mädchen, die Tochter meines Kommandeurs, zu beschimpfen ..., allein schon, daß Sie überhaupt nur ein Wort von ihr gesagt haben, ist eine Schmach für sie ... Das erlaube ich nicht!“
Er war atemlos.
„Mitjä! Mitjä!“ rief schwachnervig der Alte und preßte sich Tränen aus den Augen. „Wozu gibt es denn einen Vatersegen? Was aber dann, wenn ich dich verfluche?“
„Unverschämter Heuchler!“ schrie ihn Dmitrij Fedorowitsch wütend an.
„Das sagt er dem Vater, dem Vater! Was wird er dann noch den anderen sagen? Meine Herren, stellen Sie sich vor: Hier ist ein armer, doch ehrenwerter Mensch, ein verabschiedeter Hauptmann; er hat Unglück gehabt und den Abschied bekommen, doch nicht durch ein Urteil, sondern ohne seiner Ehre verlustig zu gehen; wohnt hier mit seiner zahlreichen Familie. Vor drei Wochen aber hat ihn unser Dmitrij Fedorowitsch im Restaurant am Bart gepackt und ihn an diesem selben Bart hinaus auf die Straße gezogen, wo er ihn dann öffentlich durchgeprügelt hat, und das nur darum, weil jener in einer gewissen Angelegenheit mein heimlicher Bevollmächtigter ist.“
„Nichts als Lüge! Von außen sieht es wie Wahrheit aus, doch inwendig ist nichts als Lüge!“ rief Dmitrij Fedorowitsch zitternd vor Wut. „Ich will meine Handlungen nicht rechtfertigen; ja, ich gestehe selbst vor allen Menschen: Ich habe wie ein Tier an diesem Hauptmann gehandelt, und meine tierische Wut tut mir jetzt leid, ich schäme mich deswegen; aber dieser Hauptmann, Ihr Bevollmächtigter, war zu dieser selben Dame gegangen, von der Sie äußerten, daß sie eine Kurtisane sei, und hatte ihr in Ihrem Namen vorgeschlagen, sie solle alle meine Wechsel, die sich in Ihren Händen befinden, nehmen und sie einklagen, um mich auf diese Weise, wenn ich mit meiner Vermögensabrechnung Ihnen zu sehr auf den Hals rücke, einfach ins Gefängnis zu bringen. Und Sie machen mir jetzt meine Gefühle für diese Dame zum Vorwurf, während Sie sie doch selbst gelehrt haben, mich zu fangen! Sie erzählte es ja Allen ganz offen; sie hat es mir selbst erzählt und sich dabei über Sie lustig gemacht! Ins Gefängnis aber wollen Sie mich nur darum bringen, weil Sie ihretwegen auf mich eifersüchtig sind, weil Sie selbst begonnen haben, sich mit Ihrer gemeinen Liebe dieser Dame zu nähern, und das weiß ich wiederum durch sie selbst, und sie hat es mir wiederum lachend – hören Sie! – über Sie lachend erzählt. Da sehen Sie jetzt, meine heiligen Väter, wie dieser Mensch ist, dieser dem ausschweifenden Sohne Vorwürfe machende Vater! Meine Herren, verzeihen Sie mir meinen Zorn; aber ich ahnte ja schon, daß dieser verschlagene, hinterlistige Greis Sie alle hier zusammengerufen hat, um es zu einem Skandal zu bringen. Ich kam her, um zu verzeihen, wenn er mir seine Hand entgegengestreckt hätte, und selbst um Verzeihung zu bitten! Da er aber hier nicht nur mich beleidigt hat, sondern auch das edelste Mädchen, deren Namen ich aus Hochachtung nicht unnütz aussprechen will, so entschloß ich mich, sein ganzes Spiel aufzudecken, obgleich er doch mein Vater ist ...“
Er konnte nicht weitersprechen. Seine Augen blitzten, und er atmete schwer. Doch auch die anderen in der Zelle Anwesenden waren erregt. Außer dem Staretz erhoben sie sich alle von ihren Plätzen; die beiden Priestermönche blickten streng drein, warteten aber ab, was der Staretz sagen werde. Der war ungewöhnlich bleich, doch nicht vor Aufregung, sondern infolge seiner krankhaften Schwäche.
Ein flehendes Lächeln lag auf seinen Lippen; zuweilen erhob er die Hand, wie um die Tobenden aufzuhalten, und natürlich hätte eine Bewegung von ihm genügt, um den ganzen Auftritt zu beenden; aber er schien es selbst nicht zu wollen, schien noch irgend etwas abzuwarten und beobachtete nur aufmerksam, als ob er noch etwas begreifen wollte, als ob er sich über irgend etwas noch nicht klar geworden sei. Endlich unterbrach Miussoff, der sich endgültig erniedrigt und beschimpft fühlte, das Schweigen.
„An diesem Skandal sind wir alle schuld!“ sagte er erregt, „doch immerhin habe ich mir so etwas nicht träumen lassen, als ich herkam, obgleich ich wußte, mit wem ich es zu tun hatte ... Dem muß sofort ein Ende gemacht werden! Ehrwürden, glauben Sie mir, daß mir alle hier zutage gekommenen Einzelheiten nicht bekannt waren; ich hätte sie nicht für möglich gehalten, erst jetzt erfahre ich zum erstenmal ... Der Vater ist auf den Sohn eifersüchtig wegen eines Weibes, das ein unanständiges Leben führt, und verabredet sich selbst mit diesem gemeinen Geschöpf, den Sohn ins Gefängnis zu bringen! ... Und in solch einer Gesellschaft hat man mich herzukommen gezwungen ... Ich bin betrogen worden! Und ich erkläre hiermit, daß ich nicht weniger als alle anderen betrogen worden bin ...“
„Dmitrij Fedorowitsch!“ rief plötzlich mit einer ganz sonderbaren, ihm ganz fremden Stimme Fedor Pawlowitsch: „Wenn Sie nicht mein Sohn wären, so würde ich Sie unverzüglich fordern ... auf Pistolen, auf drei Schritt Distanz ... übers Schnupftuch, übers Schnupftuch!“ schrie er, mit den Beinen stampfend.
Es kommt zuweilen vor, daß alte Lügner, die sich ihr ganzes Leben lang verstellt haben, plötzlich vor Erregung tatsächlich zittern und weinen – wenn sie sich in ihrer Verstellung schon gar zu sehr verrannt haben –, ungeachtet dessen, daß sie sich selbst noch im selben Augenblick – oder noch vor einer Sekunde – haben zuflüstern können: „Du bist ja doch ein Lügner, alter schamloser Narr; bist ja auch jetzt ein Komödiant trotz deines ganzen ‚heiligen‘ Zornes.“
Dmitrij Fedorowitschs Gesicht verfinsterte sich unheimlich, und mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er auf seinen Vater.
„Ich glaubte ... ich glaubte,“ sagte er sonderbar leise und zurückhaltend, „ich würde mit meinem Schutzengel, mit meiner Braut, in die Heimat zurückkehren, um ihn hier im Alter zu pflegen, und jetzt sehe ich vor mir nur einen ausschweifenden Lüstling und den gemeinsten Komödianten!“
„Auf Pistolen!“ schrie wieder der Alte atemlos, und Speichel spritzte bei jedem Wort von seinen Lippen. „Sie aber, Pjotr Alexandrowitsch Miussoff, merken Sie sich, mein Verehrtester, daß es vielleicht in Ihrer ganzen Sippe – weder jetzt noch früher – kein höheres und ehrenwerteres – hören Sie, ehrenwerteres – Weib jemals gegeben hat als dieses ‚gemeine Geschöpf‘, wie Sie jene Dame vorhin zu nennen wagten! Sie aber, Dmitrij Fedorowitsch, haben gegen dieses ‚gemeine Geschöpf‘ Ihre Braut eingetauscht, somit also selbst gefunden, daß Ihre Braut nicht einmal deren Schuhsohlen wert ist, derart ist also dieses Geschöpf!“
„Welch eine Schmach!“ entrang es sich dem Pater Jossiff.
„Ja, eine Schmach und eine Schande ist es!“ rief plötzlich Kalganoff, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, mit seiner brechenden und vor Erregung zitternden Stimme und wurde über und über rot.
„Wozu lebt solch ein Mensch!“ stieß fast außer sich vor Wut, fast brüllend, Dmitrij Fedorowitsch hervor, wobei er ganz absonderlich die Schultern hob, so daß er beinahe gekrümmt aussah. „Nein, sagt mir doch, kann man es noch länger zulassen, daß er mit seiner Person die Erde schändet?“ Er blickte sich, auf seinen Vater weisend, im Kreise um. Er sprach langsam und gemessen.
„Hört ihr, hört ihr, Mönche, den Vatermörder!“ damit stürzte sich Fedor Pawlowitsch auf den Pater Jossiff. „Das ist die Antwort auf Ihr ‚welch eine Schmach!‘ Was ist eine Schmach? Dieses ‚gemeine Geschöpf‘, dieses Weib, das ein ‚unanständiges Leben führt‘, ist vielleicht heiliger als ihr selber, meine Herren Hieromonachen, die ihr hier euer Seelenheil sucht! Sie ist vielleicht in ihrer Jugend gefallen, als Opfer ihrer Umgebung; sie hat eben ‚viel geliebt‘; jenem Weibe aber, das ‚viel geliebt‘ hatte, wurde von Christus alles vergeben ...“
„Christus hat ihr nicht für diese Liebe vergeben ...“ stieß ungeduldig der sonst so sanfte Pater Jossiff hervor.
„Nein, für diese, für diese selbe, hört ihr, Mönche, gerade für diese! Ihr sucht hier in Sauerkraut euer Seelenheil und glaubt, daß ihr Gerechte seid! Ihr eßt bloß Gründlinge, pro Tag ’nen einzigen Gründling, und glaubt mit Fischfleisch Gott zu kaufen!“
„Unmöglich, unmöglich!“ hörte man in der Zelle von allen Seiten.
Doch diese ganze, bis zur Unanständigkeit getriebene Szene sollte in der unvorhergesehensten Weise enden. Plötzlich erhob sich der Staretz von seinem Platz. Aljoscha gelang es noch, obgleich er vor Angst um ihn und um die anderen seine Geistesgegenwart ganz verloren hatte, ihn beim Aufstehen mit der Hand zu stützen. Der Staretz schritt der Richtung nach auf Dmitrij Fedorowitsch zu, und als er bei ihm angelangt war, dicht vor ihm stand – fiel er plötzlich vor ihm auf die Knie nieder. Aljoscha glaubte zuerst, er sei vor Schwäche zu Boden gefallen, doch das war es nicht. Nachdem der Staretz niedergekniet war, verneigte er sich vor Dmitrij Fedorowitsch in einer vollen, deutlichen, bewußten Verbeugung und berührte sogar mit der Stirn den Boden. Aljoscha war so verwundert, daß er ihm nicht einmal half, aufzustehen. Ein schwaches Lächeln schimmerte kaum merklich auf seinen Lippen.
„Verzeihen Sie, verzeihen Sie alle!“ sagte er, sich nach allen Seiten hin vor seinen Gästen verneigend.
Dmitrij Fedorowitsch stand eine Weile wie vom Schlag gerührt: vor ihm eine Verbeugung bis zur Erde – was war das? ... „O Gott!“ stammelte er endlich und stürzte, das Gesicht mit den Händen bedeckend, aus dem Zimmer hinaus. Ihm folgten hastig alle anderen Gäste, die in der Verwirrung ganz vergaßen, sich noch vom Staretz zu verabschieden. Nur die beiden Priestermönche baten ihn wieder um seinen Segen.
„Was war denn das für eine Verbeugung bis zur Erde, wohl wieder mal was Symbolisches?“ versuchte der plötzlich aus irgendeinem Grunde ganz zahm gewordene Fedor Pawlowitsch ein Gespräch zu beginnen; übrigens wagte er nicht, seine Frage an jemanden persönlich zu stellen. In diesem Augenblick verließen sie gerade die Einsiedelei.
„Für eine Irrenanstalt und Verrückte bin ich nicht verantwortlich,“ entgegnete sofort Miussoff bissig, „dafür aber verzichte ich auf Ihre Gesellschaft, Fedor Pawlowitsch, und das, glauben Sie mir, ein für allemal! Wo ist denn dieser Mönch ...?“
„Dieser Mönch“, d. h. jener, der sie zum Prior zu Tisch gebeten hatte, ließ nicht auf sich warten. Als sie hinaustraten, sahen sie ihn an der Treppe stehen, als ob er sie die ganze Zeit erwartet hätte.
„Haben Sie die Güte, verehrter Pater,“ sagte Miussoff gereizt zu ihm, „mich gehorsamst Seiner Hochwürden zu empfehlen, mich selbst aber, Miussoff, zu entschuldigen, da ich infolge plötzlich eingetretener und unvorhergesehener Umstände unmöglich die Ehre haben kann, trotz meines aufrichtigen Wunsches, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.“
„Aber dieser unvorhergesehene Umstand – das bin ja ich!“ griff sofort Fedor Pawlowitsch auf. „Hören Sie, Pater, Pjotr Alexandrowitsch will ja bloß nicht mit mir zusammen hingehen, sonst aber würde er mit Handkuß hingehen! Und Sie werden’s auch, Pjotr Alexandrowitsch; haben Sie die Güte, zum Pater Prior zu gehen, und – ich wünsche Ihnen vorzüglichen Appetit! Denn ich bin es, der sich zurückzieht, nicht Sie. Zu Hause, zu Hause werde ich essen, hier aber fühle ich mich unfähig dazu, Pjotr Alexandrowitsch, mein allerliebster Anverwandter!“
„Ich bin nicht Ihr Anverwandter und bin es nie gewesen, Sie niedriger Mensch!“
„Das habe ich ja absichtlich gesagt, um Sie so ein wenig zu necken, da Sie sich so gern von der Verwandtschaft lossagen wollen, obgleich Sie doch immer mein lieber Verwandter bleiben, da helfen Ihnen keine Finten, kann’s Ihnen in den Kirchenbüchern nachweisen. Dir, Iwan, werde ich schon zur rechten Zeit die Pferde herschicken; bleib also hier, wenn du willst. Ihnen aber, Pjotr Alexandrowitsch, gebietet sogar der Anstand, jetzt zu seiner Hochehrwürden zu gehen; man muß doch seine Entschuldigung machen für das, was wir dort beide losgeschossen haben ...“
„Ja, ist es denn auch wahr, daß Sie zurückfahren wollen? Lügen Sie nicht wieder einmal?“
„Pjotr Alexandrowitsch, wie sollte ich das, nach allem, was geschehen ist! Habe mich hinreißen lassen! Bin aber erschüttert! Und man schämt sich doch, weiß Gott. Meine Herrschaften, der eine hat ein Herz wie Alexander der Große, der andere aber – wie ein Schoßhündchen Fidelka. Nun, ich habe letzteres. Habe Angst bekommen! Wie soll ich denn noch nach solch einer Eskapade zu einem Mittagsmahle gehen und Klostersaucen schlecken? Schäme mich, kann nicht, entschuldigen Sie mich!“
„Weiß der Teufel, wie aber, wenn er mich wieder betrügt!“ dachte nachdenklich Miussoff, der stehen geblieben war und mit fragend mißtrauischem Blick der Gestalt des sich entfernenden alten Narren folgte. Da wandte sich jener noch einmal um, und da er Miussoffs beobachtenden Blick bemerkte, warf er ihm eine Kußhand zu.
„Und Sie? Werden Sie zum Prior gehen?“ fragte Miussoff schroff Iwan Fedorowitsch.
„Warum denn nicht? Und zudem hat mich der Prior gestern noch besonders eingeladen.“
„Zum Unglück fühle ich mich wirklich fast verpflichtet, zu diesem verfluchten Mittagsmahl zu gehen,“ fuhr Miussoff mit derselben Gereiztheit bitter fort, ohne weiter zu beachten, daß der kleine Mönch dabei war und alles hörte. „Man muß dort wenigstens seine Entschuldigung machen wegen der Geschichten, die wir hier angerichtet haben, und erklären, daß nicht wir es gewesen sind ... Was meinen Sie?“
„Ja, man muß erklären, daß nicht wir es gewesen sind. Und mein Vater wird ja nicht dabei sein,“ meinte Iwan Fedorowitsch.
„Das fehlte noch! Mit Ihrem Vater! Dieses verfluchte Mittagsmahl!“
Einstweilen gingen sie doch alle drei. Der kleine Mönch schwieg und spitzte die Ohren. Unterwegs, als sie durch das Wäldchen gingen, bemerkte er nur einmal, daß Seine Hochwürden schon lange warteten und sie sich um eine ganze halbe Stunde verspätet hätten. Er erhielt aber keine Antwort. Miussoff blickte haßerfüllt Iwan Fedorowitsch von der Seite an:
„Und er geht auch wirklich hin, als wäre überhaupt nichts vorgefallen!“ dachte er bei sich. „Eherne Stirn und Karamasoffsches Gewissen!“