So saß Mitjä und sah mit wildem Blick die Anwesenden die rings um ihn standen, an, ohne zu verstehen, was man zu ihm sprach. Plötzlich stand er auf, hob die Arme empor und rief laut:
„Ich bin unschuldig! An diesem Blute trage ich keine Schuld! An dem Blute meines Vaters bin ich unschuldig ... Ich wollte ihn erschlagen, aber ich habe es nicht getan! Ich bin unschuldig!“
Doch kaum hatte er das ausgesprochen, als Gruschenka den Vorhang zur Seite riß und sich nach zwei Schritten wie gebrochen dem Polizeichef zu Füßen warf.
„Ich bin es, ich! Ich Sündige, ich trage die Schuld!“ rief sie mit einer Stimme, einer Verzweiflung, die die Seele zerriß. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt, und in verzweifelter Selbstanklage erhob sie flehend die Hände. „Meinetwegen hat er gemordet! Ich habe ihn so weit gebracht, ich bin es, die ihn so gemartert hat! Und auch den armen Alten habe ich gequält und so weit gebracht! Ich bin die Schuldige, die Hauptschuld trage ich allein, ich bin die erste Schuldige!“
„Ja, du bist die Schuldige! Du bist die Hauptverbrecherin! Du schamloses, verderbtes Weib, du bist die Hauptschuldige!“ schrie, mit der Faust drohend, der Polizeichef sie an.
Doch er wurde sofort und fast mit Gewalt besänftigt. Der Staatsanwalt umfaßte ihn sogar mit beiden Armen.
„Das geht denn doch nicht, Michail Makarowitsch ... auf diese Weise stören Sie nur die Untersuchung ... und schaden der Sache ...“ redete er ihm zu.
„Maßregeln ergreifen, Maßregeln ergreifen, unbedingt Maßregeln!“ brauste auch Nikolai Parfenowitsch Neljudoff nervös auf, „anders ist es ganz unmöglich, entschieden ganz unmöglich! ...“
„Richtet uns zusammen!“ fuhr Gruschenka außer sich fort, immer noch auf den Knien liegend, „richtet uns zusammen hin, ich gehe mit ihm selbst in den Tod!“
„Gruscha, du! mein Leben du, mein Blut, mein Heiligstes!“ Mitjä stürzte zu ihr nieder und preßte sie in der Umarmung wild und verzweifelt an sich. „Glauben Sie ihr nicht,“ rief er, „an nichts ist sie schuldig, an keinem Blute und an nichts, nichts, nicht die geringste Schuld kann sie treffen!“
Er erinnerte sich später noch dunkel, daß ihn mehrere Männer mit Gewalt von ihr fortrissen, daß sie plötzlich hinausgebracht wurde, und daß er schließlich, schon am Tisch auf einem Stuhl sitzend, wieder zur Besinnung gekommen war. Neben und hinter ihm standen die Leute mit den Blechschildern auf der Brust. An der anderen Seite des Tisches, ihm gegenüber auf dem Sofa, saß Neljudoff, der Untersuchungsrichter, und redete ihm immer wieder zu, aus dem Glase, das vor ihm stand, etwas Wasser zu trinken. „Das wird Sie erfrischen und beruhigen, fürchten Sie sich nicht, beunruhigen Sie sich nicht,“ fügte er immer wieder äußerst höflich hinzu. Später erinnerte sich Mitjä noch, daß die großen Ringe des Sprechers ihn plötzlich lebhaft interessiert hatten, der eine Ring mit einem Amethyst und der andere mit einem hellgelben, klaren Stein von wundervollem Feuer. Und lange noch nachher erinnerte er sich verwundert, wie diese Ringe seinen Blick unwiderstehlich während dieses ganzen schrecklichen Verhörs immer wieder angezogen, und wie er sich aus irgendeinem Grunde weder von ihnen hatte losreißen, noch sie, als für seine Lage doch völlig gleichgültige Gegenstände, hatte vergessen können. Links, seitlich von Mitjä, saß auf dem Platz, wo zu Anfang des Abends Maximoff gesessen hatte, der Staatsanwalt, und rechts von ihm –, auf dem Platz, den Gruschenka eingenommen hatte, saß ein rotwangiger junger Mann in einem abgetragenen Rock, der einer Jägerjoppe glich. Vor ihm befand sich bereits ein Tintenfaß und Papier. Das war der Schriftführer des Untersuchungsrichters, den dieser aus der Stadt mitgenommen hatte. Der Polizeichef stand aber jetzt am Fenster, am anderen Ende des Zimmers neben Kalganoff, der sich dort auf einen Stuhl niedergelassen hatte.
„Trinken Sie doch Wasser!“ wiederholte sanft, vielleicht schon zum zehntenmal der Untersuchungsrichter.
„Ich habe getrunken, meine Herren ... aber ... nun, was, meine Herren, erdrücken Sie mich, richten Sie mich hin, entscheiden Sie über mein Geschick!“ rief Mitjä der ihn mit unheimlich starrem Blick aus weit offenen Augen ansah.
„Also, Sie behaupten positiv, am Tode Ihres Vaters Fedor Pawlowitsch Karamasoff unschuldig zu sein?“ fragte freundlich, doch nachdrücklich der Untersuchungsrichter.
„Ja, ich bin unschuldig! Schuld bin ich an einem anderen Blute, am Blute eines anderen alten Mannes, doch nicht am Blute meines Vaters. Und ich bereue es! Ich habe den Alten erschlagen, erschlagen und niedergestreckt ... Doch schwer ist es, dieses Blutes wegen für ein anderes Blut einstehen zu müssen, für ein furchtbares Blut, an dem ich unschuldig bin ... Es ist eine furchtbare Anklage, meine Herren ... als hätte man mich mit einem Keulenschlag auf den Kopf getroffen! Aber wer hat denn den Vater erschlagen, wer hat ihn erschlagen? Wer anders hat ihn denn erschlagen können, wenn ich es nicht war? Da muß ein Wunder geschehen sein, etwas Ungereimtes, etwas Unmögliches, Undenkbares! ...“
„Ja, das ist es nun, wer anders hätte ihn erschlagen können? ...“ begann der Untersuchungsrichter, doch der Staatsanwalt (wir wollen ihn der Kürze wegen so nennen, obgleich er nur der Stellvertreter des Staatsanwalts war) wechselte mit ihm einen Blick und sagte dann zu Mitjä gewandt:
„Sie beunruhigen sich diesmal ganz unnötigerweise wegen des Dieners Grigorij Wassiljewitsch. Ich kann Ihnen mitteilen, daß er lebt; er ist bald darauf wieder zu sich gekommen und wird trotz der schweren Verletzung, die, nach seiner und jetzt auch nach Ihrer Aussage, Sie ihm zugefügt haben, wahrscheinlich am Leben bleiben, oder vielmehr bestimmt, wenigstens nach der Aussage des Arztes.“
„Er lebt? So ist er nicht erschlagen?“ schrie Mitjä wie wahnsinnig auf und hob die Hände empor. Sein ganzes Gesicht strahlte. „Mein Herr und mein Gott, ich danke Dir für das Wunder, das Du für mich, den Sünder und Missetäter hast geschehen lassen, daß Du mein Gebet erhört hast! ... Ja, ja, auf mein Gebet hin ist es geschehen – ich habe doch die ganze Nacht gebetet!“
Und er bekreuzte sich dreimal. Er war ganz atemlos vor Freude.
„Nun und von diesem Grigorij haben wir die so wichtigen Aussagen gegen Sie erhalten, daß ...“ wollte der Staatsanwalt fortfahren, doch Mitjä sprang plötzlich vom Stuhl auf und unterbrach ihn:
„Auf einen Augenblick, meine Herren, um Gottes willen, nur auf eine Minute; ich will nur schnell zu ihr laufen ...“
„Erlauben Sie! Das ist unmöglich! In diesem Augenblick ist das ganz ausgeschlossen!“ rief mit einer Stimme, die vor Erregung ganz schrill klang, der Untersuchungsrichter, der sofort gleichfalls aufgesprungen war. Mitjä wurde von den Männern mit den Blechschildern auf der Brust ergriffen, doch setzte er sich bereits von selbst wieder auf seinen Stuhl.
„Wie schade! Ich wollte ja nur auf einen Augenblick zu ihr ... um ihr zu sagen, daß es abgewaschen ist, daß es verschwunden ist, dieses Blut, das die ganze Nacht mein Herz gequält hat, daß ich jetzt nicht mehr ein Mörder bin, wie ich glaubte! Meine Herren, sie ist doch jetzt meine Braut!“ sagte er plötzlich begeistert, ganz verzückt und jubelnd, während seine seligen Blicke von dem einen zum anderen gingen. „Oh, ich danke Ihnen, meine Herren! Wenn Sie wüßten, was diese Mitteilung für mich ist! Sie haben mich von den Toten auferweckt! ... Dieser Greis – der hat mich doch auf den Armen getragen, mich als dreijähriges Kind im Waschtroge gebadet, als mich alle vergessen hatten, er war wie ein leiblicher Vater zu mir! ...“
„Also, Sie ...“ wollte wieder der Untersuchungsrichter beginnen.
„Gestatten Sie, meine Herren, nur noch eine Minute!“ unterbrach Mitjä von neuem; er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Nur einen Augenblick, um mich etwas zu sammeln, nur einmal aufzuatmen, meine Herren. So etwas erschüttert einen unglaublich, der Mensch ist doch kein – Trommelfell, meine Herren!“
„Würden Sie nicht etwas Wasser trinken ...“ forderte wieder der Untersuchungsrichter ein wenig zerstreut auf.
Da ließ aber Mitjä auch schon die Hände sinken, und lachend lehnte er sich zurück. Sein Blick war wieder munter, und der ganze Mensch schien sich in dieser einen Minute verändert zu haben. Auch sein ganzer Ton und seine ganze Haltung waren verändert: er saß wieder als Gleichgestellter unter ihnen, wie er vielleicht gestern, als noch nichts geschehen war, mit diesen seinen früheren Bekannten irgendwo in der Gesellschaft zusammengesessen hätte. Übrigens muß ich hier noch bemerken, daß er zu Anfang seines Aufenthaltes bei uns im Hause des Polizeichefs sehr herzlich empfangen worden war; doch später, besonders im letzten Monat, hatte Mitjä seine Besuche in diesem Hause fast ganz eingestellt; und so hatte denn Michail Makarowitsch bei Begegnungen, z. B. auf der Straße, stets eine wichtige Miene gemacht und seinen Gruß eigentlich nur aus Höflichkeit erwidert, was von Mitjä sehr wohl bemerkt worden war. Mit dem Staatsanwalt war er nur ganz oberflächlich bekannt, doch der Gemahlin desselben – es war eine nervöse und phantastische Dame –, hatte er zuweilen seine Aufwartung gemacht, wenn es auch immer nur höchst ehrerbietige und rein gesellschaftliche kurze Visiten gewesen waren. Eigentlich hatte er selbst nicht recht gewußt, warum er zu ihr ging, doch hatte sie ihn jedesmal sehr freundlich empfangen und für ihn ein Interesse gezeigt, das sich bis zur letzten Zeit nicht verringert hatte. Mit dem jungen Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudoff hatte er aus Mangel an einer Gelegenheit noch nicht Freundschaft geschlossen, doch war er auch mit ihm zusammengekommen und hatte sogar zweimal mit ihm gesprochen – beide Male über das weibliche Geschlecht.
„Sie, Nikolai Parfenowitsch, sind ja, wie ich sehe, ein famoser Untersuchungsrichter,“ begann Mitjä lachend, „aber ich werde Ihnen jetzt selbst bei der Sache behilflich sein. Oh, meine Herren, jetzt bin ich ja erlöst, – Grigorij lebt! ... Und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich mich so ohne Umstände und gerade heraus an Sie wende. Zudem bin ich noch ein wenig betrunken, das gestehe ich ganz offen ein. Ich glaube, ich hatte die Ehre, Nikolai Parfenowitsch ... die Ehre und das Vergnügen, bei meinem Verwandten Miussoff Ihre Bekanntschaft zu machen ... Das heißt, meine Herren, ich erhebe ja keinen Anspruch auf völlige Gleichstellung mit Ihnen ... Ich begreife doch, als was ich in diesem Augenblick vor Ihnen sitze. Auf mir ruht ... wenn Grigorij gegen mich ausgesagt hat ... so ruht, – nun, versteht sich, es lastet auf mir ein schrecklicher Verdacht! Entsetzlich, entsetzlich! – ich verstehe das doch vollkommen! Aber zur Sache, meine Herren, ich bin bereit, und wir werden das alles im Augenblick erledigen, denn, nicht wahr, wenn ich weiß und Ihnen sage, daß ich unschuldig bin, so kann doch alles sofort erledigt werden! Nicht wahr, meine Herren?“
Mitjä sprach rasch und viel, er sprach unruhig, doch von ganzem Herzen aufrichtig – als hielte er seine Zuhörer für seine besten Freunde.
„Also: wir können somit niederschreiben, daß Sie die gegen Sie erhobene Anklage radikal zurückweisen?“ fragte Neljudoff, der Untersuchungsrichter, eindringlich, und diktierte darauf, zum Schreiber gewandt, halblaut, was dieser zu notieren hatte.
„Niederschreiben? Sie wollen das niederschreiben? Nun, so schreiben Sie nieder, soviel Sie wollen ... ich habe nichts dagegen, Sie haben mein volles Einverständnis. Meine Herren ... Nur, sagen Sie ... Halt, nein, warten Sie, schreiben Sie so: Ihn trifft die Schuld an ... nun, an Gewalttätigkeiten, schweren Verletzungen, die er dem armen Alten zugefügt hat, darin bekennt er sich schuldig. Nun und dann noch für mich, in meinem Inneren, in der Tiefe des Herzens bin ich schuldig, – aber das ist nicht mehr nötig, aufzuschreiben“ (er wandte sich an den Schreiber), „das sind bereits meine privaten Angelegenheiten, das geht Sie, meine Herren, nichts mehr an, diese tiefsten Herzensgeheimnisse, das heißt ... ‚Was aber die Ermordung des alten Vaters betrifft‘ – schreiben Sie – ‚so ist er – unschuldig!‘ Das ist Wahnsinn, das ist vollkommener Wahnsinn! ... Ich werde es Ihnen beweisen, und Sie werden sich sofort überzeugen. Sie werden noch lachen, meine Herren, Sie werden noch über Ihren Verdacht lachen! ...“
„Beruhigen Sie sich, Dmitrij Fedorowitsch,“ – damit erinnerte ihn der Untersuchungsrichter an seine Aufführung und wollte offenbar durch die eigene Ruhe die Erregung des anderen besänftigen. „Bevor wir das Verhör fortsetzen, würde ich, vorausgesetzt, daß Sie einwilligen zu antworten, gerne nochmals von Ihnen die Bestätigung der Tatsache vernehmen wollen, daß Sie den verstorbenen Fedor Pawlowitsch, wie es scheint, nicht geliebt und mit ihm fortgesetzt Streit gehabt haben ... Wenigstens haben Sie hier vor ungefähr einer Viertelstunde, wenn ich mich nicht täusche, selbst etwas Derartiges geäußert: daß Sie sogar die Absicht gehabt hätten, ihn zu erschlagen. ‚Ich habe ihn nicht erschlagen, aber ich wollte ihn erschlagen!‘ riefen Sie aus, soviel ich mich dessen erinnere.“
„Ich soll das ausgerufen haben? Nun ja, das kann sehr wohl sein! Meine Herren, allerdings, zum Unglück wollte ich ihn erschlagen, sogar mehreremal habe ich es gewollt ... zum Unglück, leider!“
„Also, Sie wollten es. Würden Sie nicht auch bereit sein, uns zu erklären, welches die Ursachen Ihres Hasses auf Ihren Vater waren?“
„Was ist da zu erklären, meine Herren!“ sagte Mitjä mit finsterem Gesicht, zuckte mit der einen Schulter und senkte den Blick zu Boden. „Ich habe doch meine Gefühle wahrlich nicht verborgen, die ganze Stadt spricht ja davon, – alle Menschen im Gasthause haben es gehört. Noch vor ein paar Tagen habe ich es im Kloster, in der Zelle des Staretz Sossima erklärt ... Und am Abend desselben Tages habe ich den Vater noch verprügelt und beinahe totgeprügelt, und dann noch geschworen, wiederzukommen und ihn ganz zu erschlagen, und alles in Gegenwart von Zeugen ... Oh, Zeugen gibt es zu Tausenden! Habe ich doch den ganzen Monat zu allen davon gesprochen, alle sind Zeugen! ... Die Tatsache liegt ja auf der Hand, die Tatsache spricht, schreit, aber – die Gefühle, meine Herren, die Gefühle, um die es sich dabei handelt, die sind etwas anderes. Sehen Sie, meine Herren“ (Mitjäs Gesicht verfinsterte sich), „ich glaube, daß Sie nicht berechtigt sind, mich nach meinen Gefühlen zu fragen. Für Sie bin ich natürlich überführt, ich begreife das sehr gut, aber das – das geht nur mich etwas an, das ist meine Sache, meine innere, intime Angelegenheit, jedoch ... da ich auch früher schon meine Gefühle nicht verheimlicht habe ... im Gasthause zum Beispiel, und allen und jedem davon gesprochen habe, so ... so werde ich auch jetzt kein Geheimnis daraus machen ... Sehen Sie, meine Herren, ich begreife sehr gut, daß in diesem Falle schwere Beweise gegen mich vorliegen: ich habe allen gesagt, daß ich ihn totschlagen werde, und plötzlich ist er erschlagen: wer soll es nun getan haben, wenn nicht ich? Ha – ha! Ich entschuldige Sie, meine Herren, ich entschuldige Sie vollkommen. Bin ich doch selbst ganz betroffen, denn wer kann ihn schließlich in diesem Falle erschlagen haben, wenn nicht ich? So verhält es sich doch, nicht wahr? Wenn ich es nicht getan habe, wer dann, wer dann? Meine Herren,“ rief er plötzlich unruhig, „ich will es wissen, ich verlange von Ihnen, daß Sie mir sagen, meine Herren: Wo ist er erschlagen worden? Wie erschlagen, womit und wie? Sagen Sie es mir!“
Sein fragender Blick ging zwischen dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter hin und her.
„Wir fanden ihn auf dem Fußboden seines Schlafzimmers ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Die Schädeldecke war eingeschlagen,“ sagte der Staatsanwalt.
„Grauenvoll!“ Mitjä fuhr plötzlich zusammen und bedeckte das Gesicht, den Arm auf den Tisch stützend, mit der rechten Hand.
„Wir fahren also fort im Verhör,“ begann wieder der Untersuchungsrichter. „Also: Was war die Ursache Ihres Hasses auf Fedor Pawlowitsch? Ich glaube, Sie haben öffentlich gesagt, daß es Eifersucht gewesen sei?“
„Nun ja, Eifersucht, und nicht nur Eifersucht allein.“
„Und Streit wegen Geld?“
„Nun ja, auch wegen Geld.“
„Und, wenn ich mich nicht täusche, handelte es sich dabei um dreitausend Rubel, die angeblich als ihr Erbteil Ihnen nicht ausgezahlt worden seien?“
„Was für Dreitausend! Mehr, viel mehr!“ rief Mitjä auffahrend, „mehr als sechs, mehr als zehn vielleicht. Ich habe es allen gesagt, überall erzählt! Aber ich hatte schon beschlossen, nun, meinetwegen, mich mit Dreitausend zufrieden zu geben. Diese Dreitausend hatte ich dermaßen nötig, dermaßen ... so daß ich diese dreitausend Rubel, die er, das wußte ich, unter seinem Kopfkissen für Gruschenka bereit hielt, einfach als mein Geld betrachtete, das er von mir gestohlen hatte. Ja, meine Herren, ich hielt es für mein Eigentum, für mein gestohlenes Eigentum ...“
Der Staatsanwalt tauschte mit dem Untersuchungsrichter einen bedeutsamen Blick aus, und es gelang ihm noch, diesem einen kleinen Wink zu geben.
„Auf diesen Punkt werden wir noch später zurückkommen,“ bemerkte sofort der Untersuchungsrichter, „vorläufig erlauben Sie nur, gerade das zu notieren: daß Sie das Geld in jenem Kuvert gleichsam als Ihr Eigentum angesehen haben.“
„Schreiben Sie es nur auf, meine Herren, ich begreife ja sehr gut, daß das wiederum ein Verdachtsmoment gegen mich ist. Aber ich fürchte keine Verdachtsmomente und rede selbst wider mich. Hören Sie, ich selbst! Sehen Sie, meine Herren, Sie halten mich, scheint es, für einen ganz anderen Menschen, als ich bin,“ fügte er finster und traurig hinzu. „Mit Ihnen spricht ein Edelmann, ein Mensch, der wirklich edel ist, das ist das Wichtigste – das bitte ich nicht zu vergessen –, ein Mensch, der eine Unmenge von Schändlichkeiten begangen hat, dessen Gesinnung aber immer edel gewesen und geblieben ist. Ich meine, wenn man mich als Menschen nimmt ... im tiefsten Inneren, nun, mit einem Wort ... Nein, ich verstehe mich nicht auszudrücken ... gerade das hat mich mein ganzes Leben lang gequält, daß ich mich nach dem Edlen gesehnt habe, sozusagen ein Märtyrer des Edlen gewesen bin, ein Mensch, der das Edle mit der Laterne gesucht hat, mit der Laterne des Diogenes, und doch habe ich mein ganzes Leben lang nur Schändlichkeiten begangen, wie wir es ja alle tun, meine Herren ... das heißt, nein, wie ich allein, meine Herren, nicht wie wir alle, sondern wie ich allein, ich versprach mich, wie ich allein, ich allein, meine Herren! ... Mein Kopf tut mir weh,“ sagte er gequält, und seine Brauen zogen sich wie im Schmerz zusammen. „Sehen Sie, meine Herren, mir gefiel sein Äußeres nicht, das Ehrlose an ihm, seine Prahlereien, und daß er alles Heilige unter die Füße trat, sein verhöhnender Spott und seine Gottlosigkeit, – scheußlich, scheußlich! Aber jetzt, da er tot ist, denke ich anders.“
„Inwiefern anders?“
„Nicht anders, aber es tut mir leid, daß ich ihn so gehaßt habe.“
„Sie wollen wohl sagen, daß Sie Reue empfinden?“
„Nein, nicht gerade Reue, schreiben Sie das nicht auf. Ich bin selbst nicht gut, meine Herren, ja, ich bin auch nicht gerade sehr schön, und darum hatte ich gar kein Recht, ihn widerlich zu finden, das ist es! Das können Sie meinetwegen aufschreiben.“
Nachdem Mitjä das gesagt hatte, wurde er plötzlich auffallend traurig. Er war schon seit einiger Zeit immer finsterer geworden. Und da, gerade in diesem Augenblick, kam wieder etwas Unerwartetes dazwischen. Man hatte nämlich Gruschenka zwar aus dem Zimmer entfernt, doch nicht sehr weit fortgebracht: nur in das dritte Zimmer von dem blauen Zimmer, in dem das Verhör stattfand. Es war das ein kleiner einfenstriger Raum, der gleich neben dem großen Zimmer lag, in dem der Chor gesungen und die Mädchen getanzt hatten. Dort saß sie inzwischen, und nur Maximoff war bei ihr. Dieser war über die Maßen betroffen und hatte unglaubliche Angst, weswegen er sich denn auch an sie geradezu angeklammert hatte, als wäre sie seine einzige Rettung. Vor ihrer Tür stand nur ein Bauer mit einem runden Blechschild auf der Brust. Gruschenka weinte, doch plötzlich, als ihr Leid übergroß wurde, sprang sie auf und stürzte mit dem lauten Schrei: „Wehe mir, wehe mir!“ hinaus aus dem Zimmer zu ihrem Mitjä. Das geschah so unerwartet, daß niemand die Geistesgegenwart hatte, sie sofort aufzuhalten. Als Mitjä ihren Schrei hörte, erzitterte er zuerst, dann sprang er wie außer sich auf und stürzte ihr entgegen. Doch man ließ sie wieder nicht zusammen kommen, sie konnten sich nur einen Augenblick sehen. Drei oder vier Männer hielten ihn mit aller Gewalt zurück: er riß seine Arme los, stieß, schlug, aber vergeblich. Auch sie war ergriffen worden, und er sah nur noch, wie sie mit einem Schrei die Arme ihm entgegenstreckte, als sie hinausgebracht wurde. Nachdem dieser Zwischenfall vorüber war, fand er sich, als er zur Besinnung kam, wieder auf seinem Platz gegenüber dem Untersuchungsrichter und heftig auffahrend schrie er ihn an:
„Was hat sie Ihnen getan? Warum quälen Sie sie? Sie ist unschuldig, ganz unschuldig! ...“
Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter beruhigten ihn. So verging einige Zeit, etwa zehn Minuten. Da trat Michail Makarowitsch (der Polizeichef) wieder ein und sagte laut und sichtlich erregt zum Staatsanwalt:
„Sie ist entfernt, sie ist jetzt nach unten gebracht, – gestatten Sie mir, meine Herren, nur ein Wort zu diesem Unglücklichen zu sagen? In Ihrer Gegenwart, meine Herren, in Ihrer Gegenwart!“
„Bitte,“ entgegnete der Untersuchungsrichter, „in diesem Falle haben wir nichts dagegen einzuwenden.“
„Dmitrij Fedorowitsch, höre, mein Sohn,“ begann Michail Makarowitsch zu Mitjä gewandt, und sein Gesicht drückte aufrichtiges, fast väterliches Mitleid mit dem Unglücklichen aus. „Ich habe deine Agrafena Alexandrowna nach unten begleitet und sie dort den Wirtstöchtern übergeben, und außerdem ist noch dieses alte Männchen, der Maximoff, beständig bei ihr, und ich habe ihr zugeredet, hörst du? habe ihr zugeredet und sie beruhigt, ihr erklärt, daß du dich jetzt rechtfertigen mußt, daß sie dich darum nicht stören soll, da sie dich sonst aufregen würde und du dich verwirren und falsch gegen dich aussagen könntest, verstehst du? Na, mit einem Wort, ich habe ihr zugeredet, und sie hat es begriffen. Sie ist ein kluges Weib, sie ist gut, sie wollte sogar mir altem Manne die Hand küssen, und sie hat für dich gebeten. Sie selbst hat mich zu dir geschickt, um dir sagen zu lassen, daß du ihretwegen ruhig sein sollst, aber es ist auch nötig, nötig, daß ich jetzt zu ihr gehe und ihr sage, daß du ruhig bist und dich ihretwegen nicht mehr aufregst. Versteh mich recht und beruhige dich hübsch. Ich fühle, daß ich ihr gegenüber schuldig bin, ich habe mich vorhin fortreißen lassen, sie hat ein echt christliches Herz, jawohl, meine Herren, das ist eine fromme Seele, die keine Schuld kennt. Also, was soll ich ihr nun sagen, Dmitrij Fedorowitsch, wirst du ruhig sein oder nicht?“
Der alte gute Mann sprach viel überflüssiges Zeug, doch Gruschenkas Leid, das aufrichtige Menschenleid hatte sein gutes Herz dermaßen ergriffen, daß ihm Tränen in den Augen standen. Mitjä sprang ungestüm auf.
„Verzeihen Sie, meine Herren, erlauben Sie, oh, erlauben Sie!“ rief er. „Michail Makarowitsch, Sie prächtiger, herzensguter Mensch, ich danke Ihnen für alles, was Sie für sie getan haben! Ich werde, ich werde ruhig sein, werde fröhlich sein, überbringen Sie ihr das in Ihrer Herzensgüte! Sagen Sie ihr, daß ich ganz heiter bin, daß ich sogar lachen werde, da ich jetzt weiß, daß sie in Ihnen einen so guten Schutzgeist hat, Michail Makarowitsch. Ich werde sofort alles erledigen, und sobald ich hier frei bin, komme ich unverzüglich zu ihr, sie wird schon sehen, sie soll nur noch etwas warten! Meine Herren,“ wandte er sich plötzlich an den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt, „jetzt werde ich Ihnen meine ganze Seele ausschütten, ich werde alles aufdecken, und wir erledigen dann im Augenblick die ganze Geschichte. Zum Schluß werden wir noch lachen, nicht wahr, das werden wir doch? Aber, meine Herren, dieses Weib – das ist die Königin meiner Seele! Oh, erlauben Sie mir, das zu sagen, wenigstens das muß ich Ihnen offenbaren ... Ich sehe doch, daß ich es mit Ehrenmännern zu tun habe. Sie ist mein Licht, sie ist mein Heiligtum, und wenn Sie nur wüßten! Haben Sie ihren Schrei gehört? ‚Mit dir auch in den Tod!‘ – Und was habe ich ihr gegeben, ich Bettler, ich, der ich nichts habe, nichts bin, wofür schenkt sie mir diese Liebe, bin ich denn solcher Liebe wert, bin ich plumpe, schändliche Kreatur mit dem abscheulichen Gesichte solcher Liebe wert, daß sie zusammen mit mir sogar zur Zwangsarbeit verschickt werden will? Um für mich zu bitten, warf sie sich auf die Knie, sie, die Stolze, die unschuldig, ganz und gar unschuldig ist! Wie soll ich sie nun nicht vergöttern, wie soll ich nicht aufschreien, nicht ihr entgegenstürzen, wie vorhin? Oh, meine Herren, verzeihen Sie! Doch jetzt, jetzt bin ich beruhigt.“
Er fiel auf den Stuhl zurück, und das Gesicht mit den Händen bedeckend, schluchzte er plötzlich wie im Krampf auf. Doch das waren glückliche Tränen. Er faßte sich aber sofort. Der alte Polizeichef war sehr zufrieden, und auch die Juristen schienen es zu sein: sie fühlten, daß das Verhör jetzt eine andere Wendung nehmen werde. Mitjä wurde geradezu fröhlich.
„Nun, meine Herren, jetzt gehöre ich Ihnen, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Und ... wenn nur nicht alle diese nebensächlichen Kleinigkeiten wären, so würden wir sofort ins reine kommen. Dieser verdammte Kleinkram! – Ich gehöre Ihnen, meine Herren, aber, das schwöre ich Ihnen, die Hauptsache ist beiderseitiges Zutrauen, – Ihrerseits zu mir und meinerseits zu Ihnen, – anders kommen wir nie zu Ende. Ich sage es in Ihrem Interesse. Doch jetzt zur Sache, meine Herren, zur Sache! Die Hauptbedingung: wühlen Sie sich nicht so in meine Seele hinein, quälen Sie sie nicht mit Nebensächlichem, sondern fragen Sie nur, was zur Sache gehört, fragen Sie nach den Tatsachen, und ich werde Sie sofort zufrieden stellen. Mit den unbedeutenden Details aber zum Teufel!“
Das Verhör begann von neuem.