VI. Der Staatsanwalt

Es begann etwas, was Mitjä nie erwartet hätte, und was ihn nicht wenig in Erstaunen setzte. Nie im Leben hätte er gedacht, selbst im letzten Augenblick nicht, daß jemand so mit ihm umgehen könnte, mit Dmitrij Karamasoff! Vor allem lag darin etwas Erniedrigendes für ihn: etwas so „Anmaßendes und Nichtachtendes“ seiner Person. Es wäre weiter nicht schlimm gewesen, hätte er den Rock ausziehen müssen; man ersuchte ihn aber, sich noch weiter zu entkleiden. Und eigentlich ersuchte man ihn nicht einmal darum, sondern man befahl es ihm geradezu – was er nur zu gut fühlte. Aus Stolz und Verachtung unterwarf er sich wortlos. Außer dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt traten hinter den Vorhang, um der Durchsuchung beizuwohnen, auch noch einige Bauern, „natürlich zur Sicherheit,“ dachte Mitjä, „vielleicht aber auch zu einem anderen Zweck“.

„Was, soll ich etwa auch noch das Hemd ausziehen?“ fragte er scharf; doch der Untersuchungsrichter antwortete ihm nicht; er war mit dem Staatsanwalt in die Besichtigung des Rockes, der Beinkleider, der Weste und der Mütze vertieft, und man sah es ihnen an, daß die Untersuchung sie beide ungemein interessierte. „Die genieren sich wahrlich nicht ein bißchen,“ dachte Mitjä, „nicht einmal die nötige Höflichkeit beobachten sie.“

„Ich frage Sie zum zweitenmal: Soll ich das Hemd ausziehen oder nicht?“ fragte er noch schärfer und gereizter.

„Beunruhigen Sie sich nicht, wir werden es Ihnen sagen,“ antwortete der Untersuchungsrichter in etwas obrigkeitlichem Ton. Wenigstens schien dies Mitjä so.

Mittlerweile fand zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt eine eifrige halblaute Beratung statt. Auf dem linken Rockschoß hatten sie große Blutflecken entdeckt, die bereits ganz trocken und hart waren. Desgleichen fanden sie auch auf den Beinkleidern Blutflecke. Der Untersuchungsrichter befühlte eigenhändig in Gegenwart der Bauernzeugen den Rockkragen, die Aufschläge und alle Nähte der Kleidungsstücke, – offenbar suchte er nach etwas, und das konnte natürlich nur Geld sein. Doch das Kränkendste für Mitjä war, daß sie ihren Verdacht nicht einmal verbargen, den Verdacht, er hätte das Geld in seine Kleider einnähen können. „Sie gehen ja wirklich mit mir um, als hätten sie es mit einem Diebe und nicht mit einem Offizier zu tun,“ dachte er ingrimmig. Und ihre Gedanken teilten sie sich untereinander geradezu verblüffend offen und ungeniert mit. So lenkte zum Beispiel der Schriftführer, der gleichfalls hinter den Vorhang gekommen war, eifrig zuhörte und untersuchen half, die Aufmerksamkeit des Untersuchungsrichters auf die Mütze, die danach nicht minder sorgfältig befühlt wurde. „Wissen Sie noch, wie damals der Schreiber Gridjenka hereinfiel?“ fragte der Schriftführer. „Er fuhr im Sommer hin, um das Gehalt für die Kanzleibeamten in Empfang zu nehmen, und als er zurückkam, sagte er, er hätte das ganze Geld in betrunkenem Zustande unterwegs verloren, – und wo fand man es? Im Mützenrand: Die Hundertrubelscheine waren zu Spiralen zusammengerollt und gerade hier eingenäht.“ Beide Juristen erinnerten sich noch sehr gut des Falles Gridjenka, und so wurde denn beschlossen, Mitjäs Mütze und Kleider zur genaueren Untersuchung zurückzubehalten.

„Erlauben Sie!“ rief plötzlich Neljudoff, der Untersuchungsrichter, als er den dunklen Rand an Mitjäs rechter Manschette bemerkte. „Erlauben Sie, ist das, ist das etwa Blut?“

„Ja, Blut,“ sagte Mitjä kurz.

„Das heißt, was für ein Blut ist es? ... und warum ist der Manschettenrand so umgebogen?“

Mitjä erzählte, wie die Manschette blutig geworden war, als er Grigorij das Blut vom Gesicht abgewischt hatte, und wie er darauf beim Händewaschen bei Perchotin auf den Gedanken gekommen war, den blutigen Rand einfach umzubiegen, so gut es ging.

„Dann müssen wir auch Ihr Hemd nehmen, das ist sehr wichtig ... Es gehört zu den Beweisstücken.“

Mitjä errötete und wurde wild.

„Soll ich denn nackend bleiben?“ schrie er.

„Beunruhigen Sie sich nicht ... wir werden dem schon irgendwie abzuhelfen wissen, jetzt aber ziehen Sie bitte auch die Socken aus.“

„Sagen Sie das im Ernst?“ fragte Mitjä mit blitzenden Augen.

„Uns ist es nicht um Scherz zu tun!“ wies ihn der Untersuchungsrichter streng zurück.

„Nun, wenn es so sein muß ... werde ich ...“ brummte Mitjä, setzte sich aufs Bett und schickte sich an, seine Socken auszuziehen. Es war für ihn unerträglich: alle waren angekleidet, nur er allein war ausgekleidet und, sonderbar – entkleidet kam er sich vor ihnen fast schuldig vor, und vor allen Dingen fühlte er sich selbst mit einemmal viel niedriger als sie und gab in seinem Bewußtsein zu, daß sie nun das volle Recht hatten, ihn zu verachten. „Wenn alle entkleidet sind, so schämt man sich weiter nicht, ist man aber ganz allein entkleidet und wird man dann noch von allen besehen, so ist es – eine Schmach!“ ging es ihm immer wieder durch den Sinn. „Das ist ja ganz wie im Traum,“ dachte er, „nur im Traum habe ich zuweilen solche Schmach empfunden.“ Doch die Socken auszuziehen, war ihm eine ganz besondere Qual, denn sie waren nicht ganz rein, und auch die Unterbeinkleider waren es nicht, und jetzt konnten das alle sehen. Doch vor allen Dingen liebte er seine Füße nicht; er hatte die beiden großen Zehen aus irgendeinem Grunde sein ganzes Leben lang für mißgestaltet gehalten, besonders den einen häßlichen, platten und irgendwie dumm nach unten gebogenen Nagel der großen Zehe am rechten Fuß. Jetzt würden das alle sehen! Vor unerträglicher Scham wurde er noch gröber, und zwar absichtlich. Er riß sich selbst das Hemd vom Leibe.

„Wollen Sie nicht noch wo nachsuchen, wenn Sie sich nicht schämen?“

„Nein, vorläufig ist dies nicht nötig.“

„Wie, und ich soll hier so nackend bleiben?“ schrie er sie wild an.

„Ja, das ist vorläufig nicht zu ändern ... Setzen Sie sich solange, bitte, hierher. Sie können sich in die Bettdecke einhüllen, wenn Sie wollen, ich ... ich werde das jetzt fortbringen.“

Alle Sachen wurden den Zeugen gezeigt, man schrieb darauf das Ergebnis der Besichtigung auf, und schließlich ging der Untersuchungsrichter fort, und die Kleidungsstücke wurden ihm nachgetragen. Ihm folgte bald nachher auch der Staatsanwalt. So blieben mit Mitjä nur die Bauern zurück, die schweigsam ringsum standen und ihn nicht aus dem Auge ließen. Mitjä hüllte sich in die Decke, ihn fror. Seine nackten Füße baumelten über den Bettrand, und es wollte ihm in keiner Weise gelingen, die Decke so umzunehmen, daß sie auch die Füße bedeckte. Der Untersuchungsrichter blieb auffallend lange fort, „folternd lange“. „Der Kerl behandelt mich ja wie ein Hundejunges,“ dachte Mitjä knirschend. „Dieser Lump von Staatsanwalt ist gleichfalls hinausgegangen; bestimmt aus Verachtung: es wird ihm ekelhaft geworden sein, einen Nackten anzusehen.“ Mitjä war immer noch im Glauben, daß seine Kleider inzwischen besichtigt wurden und man sie ihm bald zurückbringen werde. Wie groß war daher sein Unwille, als Neljudoff plötzlich mit ganz anderen Kleidern, die ein Bauer ihm nachtrug, zurückkam.

„Da haben Sie jetzt auch die Kleider,“ sagte er gutgelaunt und augenscheinlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis seines Ganges. „Herr Kalganoff opfert in diesem interessanten Fall sowohl einen Anzug wie auch ein reines Hemd für Sie. Zum Glück hatte er das alles im Koffer bei sich. Ihre Unterkleider und die Socken können Sie behalten.“

Mitjä geriet außer sich, als er das hörte.

„Ich will keine fremden Kleider!“ schrie er wütend, „geben Sie mir meine eigenen!“

„Das ist unmöglich.“

„Geben Sie mir meine! – zum Teufel mit Kalganoff und seinen Kleidern, und er selbst voran!“

Man mußte ihm lange zureden. Schließlich beruhigte er sich ein wenig. Man erklärte ihm, daß seine Kleider, da sie mit Blut befleckt waren, als Beweisstücke zurückbehalten werden mußten, daß man also nicht einmal das Recht hätte, ihm seine Kleider wiederzugeben – „im Hinblick auf den möglichen Ausgang der Sache“, was Mitjä denn auch zu guter Letzt halbwegs einsah. Er verstummte finster und überwand sich allmählich so weit, daß er sich ankleidete. Er bemerkte nur beim Anziehn der Kleider, daß sie teurer waren als seine alten Kleider, und er sagte, daß er sich nicht wolle „gnädig beschenken lassen“. Außerdem seien sie „beleidigend eng“. „Soll ich etwa eine Vogelscheuche in ihnen spielen ... zu Ihrem Ergötzen?“

Ihm wurde wieder zugeredet, daß es durchaus nicht so schlimm sei, daß er auch hierin wieder übertreibe, daß Herr Kalganoff zwar von Wuchs ein wenig größer sei, aber, wie gesagt, eben nur ein wenig, und daß höchstens die Beinkleider vielleicht etwas zu lang wären. Der Rock aber war in den Schultern tatsächlich zu eng.

„Teufel, man kann ihn ja kaum zuknöpfen,“ brummte Mitjä wütend. „Haben Sie die Güte, und lassen Sie Herrn Kalganoff unverzüglich sagen, daß nicht ich ihn um seine Kleider gebeten habe ... daß ich gegen meinen Willen zur Vogelscheuche aufgeputzt werde.“

„Herr Kalganoff begreift das sehr gut und bedauert ... das heißt, nicht seine Kleider bedauert er, sondern diesen ganzen Vorfall,“ sagte Neljudoff, nachlässig die Worte brummend.

„Er kann sich selbst bedauern! – Nun, wohin jetzt? Oder soll ich immer noch hier sitzen?“

Man bat ihn, wieder „in jenes Zimmer“ zu kommen. Mitjä trat finster vor Ärger hinter dem Vorhange hervor und bemühte sich, niemanden anzusehen. In den fremden Kleidern fühlte er sich wie beschimpft, sogar vor diesen Bauern, vor dem Dorfschulzen und diesem Trifon Borissytsch, dessen Gesicht flüchtig an der Tür auftauchte und verschwand. „Der wollte mich wohl in den neuen Kleidern sehen,“ dachte Mitjä. Er setzte sich auf seinen früheren Platz. Es kam ihm alles wie ein Albdruck, wie etwas ganz Ungereimtes vor, und er glaubte einen Augenblick, den Verstand verloren zu haben.

„Nun, was kommt jetzt? – Rutenhiebe sind ja das einzige, was gerade noch fehlte ...,“ sagte er, innerlich wutknirschend, zum Staatsanwalt.

An den Untersuchungsrichter wollte er sich überhaupt nicht mehr wenden, und er tat absichtlich, als hielte er es unter seiner Würde, mit ihm noch zu sprechen. „Der Kerl hat meine Socken betrachtet, als wäre er blind, und der Schuft hat noch absichtlich befohlen, die Socken umzukehren, um allen zu zeigen, was für unsaubere Wäsche ich habe.“

„Jetzt werden wir wohl zum Verhör der Zeugen übergehen müssen,“ sagte der Untersuchungsrichter, gleichsam als Antwort auf Mitjäs Frage.

„Ja,“ sagte der Staatsanwalt nachdenklich, als ob er gleichfalls sich noch einiges überlegte.

„Wir haben alles getan, Dmitrij Fedorowitsch, was wir für Sie tun konnten,“ fuhr der Untersuchungsrichter fort, „nachdem wir aber bei Ihnen auf eine so bestimmte Weigerung gestoßen sind, die Herkunft der bei Ihnen befindlichen Summe zu erklären, so sehen wir uns in diesem Augenblick ...“

„Was ist das für ein Stein?“ unterbrach ihn plötzlich Mitjä, wie aus tiefen Gedanken auffahrend, und er wies auf einen der großen Ringe, die die rechte Hand Neljudoffs schmückten.

„Stein?“ fragte verwundert der Untersuchungsrichter.

„Ja, dieser dort ... der Ring am Mittelfinger, mit den Adern, was ist das für ein Stein?“ fragte Mitjä ganz absonderlich gereizt und eigensinnig wie ein kleines Kind.

„Das ist ein Rauchtopas,“ sagte Neljudoff lächelnd, „wenn Sie ihn besehen wollen, so werde ich ihn abnehmen ...“

„Nein, nein, nehmen Sie ihn nicht ab!“ schrie ihn Mitjä, der sich plötzlich besonnen hatte und über sich selbst in Wut geriet, wild an. „Nehmen Sie ihn nicht ab, es ist nicht nötig ... Teufel ... Meine Herren, Sie haben meine Seele besudelt! Glauben Sie wirklich, ich würde es vor Ihnen verheimlichen, wenn ich tatsächlich meinen Vater erschlagen hätte? Glauben Sie, ich würde dann lügen, Winkelzüge machen und mich verstecken? Nein, nie würde das Dmitrij Karamasoff tun, das würde er nie ertragen, und wenn ich schuldig wäre, so, das schwöre ich Ihnen, würde ich nicht bis zu Ihrer Ankunft und dem Sonnenaufgang gewartet haben, wie ich es mir vorgenommen hatte, sondern hätte mich schon früher vernichtet, ohne die Morgenröte zu erwarten! Das fühle ich. Oh, nicht in zwanzig Jahren Leben habe ich so viel gelernt, wie ich in dieser einen verfluchten Nacht gelernt habe! ... Und wäre ich denn so, so in dieser Nacht gewesen, in diesem Augenblick jetzt hier auf dieser Stelle vor Ihnen, – würde ich so sprechen, so mich bewegen, so Sie und die Welt ansehen, wenn ich ein Vatermörder wäre ... während sogar der aus Versehen begangene Todschlag Grigorijs mir diese ganze Nacht keine Ruhe gegeben hat, – nicht etwa aus Angst, oh! nicht weil ich eine Strafe gefürchtet hätte! Aber die Schmach! Und Sie verlangen, daß ich solchen Spöttern wie Sie, die nichts sehen und nichts glauben, solchen blinden Maulwürfen und Zynikern, auch noch diese neue Schändlichkeit, die ich begangen habe, aufdecken und erzählen soll, daß ich noch diese neue Schande aufdecken soll, selbst wenn mich das sofort von Ihrer Anschuldigung befreien könnte? ... Lieber als Zwangsarbeiter nach Sibirien! Wer die Tür zu meinem Vater geöffnet hat und durch diese Tür eingetreten ist, der hat ihn auch erschlagen, der hat ihn auch bestohlen! Wer das gewesen ist – ich weiß es nicht, und es quält mich, daß ich es nicht weiß, ich weiß nur eines: Dmitrij Karamasoff ist es nicht gewesen, das sage ich Ihnen! – Und das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, doch genug, genug, lassen Sie mich jetzt in Ruhe ... Verschicken Sie mich, köpfen Sie mich, aber nur reizen Sie mich nicht mehr. Ich habe mein letztes Wort gesprochen. Rufen Sie Ihre Häscher.“

Mitjä hatte gesprochen, als wäre er fest entschlossen, nichts mehr zu sagen. Der Staatsanwalt hatte ihn die ganze Zeit scharf beobachtet, und kaum war Mitjä verstummt, da sagte er mit der kältesten und ruhigsten Miene, als handelte es sich um die gleichgültigsten Dinge:

„Gerade in bezug auf diese offene Tür, an die Sie soeben erinnerten, können wir Ihnen sehr zur rechten Zeit, nämlich gerade jetzt, eine Aussage des alten Grigorij Wassiljewitsch mitteilen, die für uns wie für Sie von großer Bedeutung ist. Der alte Diener, den Sie verletzt haben, hat uns auf unsere Fragen hin mitgeteilt, und zwar auf das bestimmteste, daß bereits in dem Augenblick, als er auf das Geräusch hin, das er, auf der Treppe stehend, im Garten zu vernehmen geglaubt hatte, zum Pförtchen gegangen und durch dieses offenstehende Pförtchen in den Garten eingetreten war – daß ihm bereits damals, noch bevor er Sie in der Dunkelheit laufen gesehen hatte, auf den ersten Blick nach links das hellerleuchtete offene Fenster und zu gleicher Zeit die viel näher zu ihm liegende offene Tür aufgefallen sei, dieselbe Tür, von der Sie behaupten, daß sie während der ganzen Zeit Ihres Aufenthaltes im Garten geschlossen gewesen sei. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß Grigorij Wassiljewitsch auf das bestimmteste überzeugt ist, Sie seien aus dieser Tür herausgelaufen, obgleich er Sie natürlich nicht herauslaufen gesehen hat, da Sie erst in einiger Entfernung, inmitten des Gartens zum Zaun laufend, vor ihm aufgetaucht sind ...“

Mitjä war schon in der Mitte der Rede aufgesprungen.

„Unsinn!“ brüllte er plötzlich außer sich auf. „Das ist ein schändlicher Betrug! Er konnte keine offene Tür sehen, denn sie war damals geschlossen ... Er lügt!“

„Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß er diese Aussage nur infolge seiner festen Überzeugung gemacht hat. Er schwankt nicht, er besteht darauf. Wir haben ihm die Frage mehrmals aufs schärfste gestellt.“

„Ja, auch ich habe ihn mehreremal ausdrücklich danach gefragt,“ bestätigte eifrig der Untersuchungsrichter.

„Das ist nicht wahr, das ist aber doch nicht wahr! Das ist entweder eine Verleumdung oder die Halluzination eines Verrückten,“ schrie Mitjä, „es hat ihm einfach so geschienen, im Fieber von der Wunde, nach dem Blutverlust, als er erwachte ... und so phantasiert er noch jetzt.“

„Schön, aber er hat ja die offene Tür nicht nach der Verletzung am Zaun, als er später zu sich kam, sondern vorher, als er in den Garten trat, gesehen.“

„Aber das kann nicht sein, das ist unmöglich! Das sagt er aus Haß gegen mich, er will mich verleumden ... Er hat das nicht sehen können ... Ich bin nicht durch die Tür gegangen ...“ beteuerte Mitjä atemlos.

Da wandte sich der Staatsanwalt zum Untersuchungsrichter und sagte ihm bedeutsam:

„Zeigen Sie es.“

„Ist Ihnen dieser Gegenstand bekannt?“ fragte jener, indem er ein großes Kuvert von dickem Papier in Kanzleiformat auf den Tisch legte. Auf der anderen Seite desselben waren noch drei rote Siegel zu sehen. Das Kuvert aber war leer und an einer Seite aufgerissen.

Mitjä starrte es mit weit aufgerissenen Augen an.

„Das ... das wird wohl das Kuvert vom Vater sein,“ murmelte er, „– dasselbe, in dem diese Dreitausend lagen ... und wenn die Aufschrift, erlauben Sie: ‚und Küchelchen‘ ... da! – Dreitausend!“ schrie er auf, „Dreitausend, sehen Sie hier?“

„Natürlich sehen wir es, aber das Geld haben wir nicht mehr im Kuvert gefunden, es war leer und lag auf dem Fußboden, gleich vor dem Bett hinter dem Schirm.“

Einige Sekunden lang stand Mitjä wie vom Schlage gerührt.

„Meine Herren, das ist Ssmerdjäkoff!“ schrie er plötzlich laut. „Der hat ihn erschlagen, der hat ihn auch bestohlen! Nur er allein wußte es, wo das Kuvert beim Vater versteckt war ... Er ist es gewesen, das ist jetzt klar!“

„Aber auch Sie wußten doch um das Kuvert, und daß es unter dem Kopfkissen lag.“

„Niemals habe ich das gewußt! Ich habe es doch niemals gesehen, erst jetzt sehe ich es zum erstenmal. Ich hatte nur durch Ssmerdjäkoff davon gehört ... Er allein wußte, wo der Vater das Kuvert versteckt hatte, ich aber habe es überhaupt nicht gewußt ...“ rief Mitjä atemlos.

„Aber Sie haben es uns doch selbst vorhin gesagt, daß das Kuvert bei Ihrem verstorbenen Vater unter dem Kopfkissen gelegen habe. Sie sagten gerade unter dem Kopfkissen, folglich haben Sie doch gewußt, wo es gelegen hat.“

„So haben wir es auch niedergeschrieben!“ bestätigte der Untersuchungsrichter.

„Unsinn! Blödsinn! Ich habe durchaus nicht gewußt, daß es unter dem Kopfkissen lag. Ja, vielleicht hat es dort überhaupt nicht gelegen ... Ich habe es ganz aufs Geratewohl gesagt, daß es unter dem Kissen gewesen sei ... Aber was sagt Ssmerdjäkoff? Haben Sie ihn gefragt, wo es gelegen hat? Was sagt Ssmerdjäkoff? Das ist das Wichtigste ... Ich habe es mir einfach auf den Hals gelogen ... Ich habe es gelogen, ganz unüberlegt habe ich es gesagt, daß es unter dem Kissen gelegen habe, und Sie glauben jetzt ... Gott, Sie wissen doch, wie sich einem plötzlich etwas von der Zunge reißt, ohne zu wollen, spricht man es aus, ganz von selbst sagt es sich! Gewußt aber hat es nur Ssmerdjäkoff, nur Ssmerdjäkoff allein und sonst niemand! ... Er hat auch mir gesagt, wo es lag! Aber das ist er, er! Er hat es getan, ganz zweifellos hat er es getan; das ist mir jetzt so klar wie das Sonnenlicht!“ rief außer sich Mitjä, der verzweifelnd überzeugen wollte und zusammenhanglos sich wiederholte und überstürzte. „So begreifen Sie doch, und verhaften Sie ihn, nur schneller, schneller ... Er hat ihn erschlagen, als ich fortgelaufen war und Grigorij bewußtlos am Boden lag, das ist doch jetzt klar ... Er hat das Zeichen gegeben, und der Vater hat ihm die Tür aufgemacht ... Denn nur er allein kannte die Zeichen, wie mein Vater glaubte, und ohne Zeichen hätte mein Vater nie, nie die Tür aufgemacht ...“

„Sie vergessen aber wieder den einen Umstand,“ bemerkte mit derselben ruhigen Zurückhaltung, doch diesmal bereits wie mit dem Anflug eines Triumphgefühls der Staatsanwalt, „daß es überflüssig war, die Zeichen zu geben, wenn die Tür schon offen stand, als Sie noch im Garten waren ...“

„Die Tür, die Tür ...“ murmelte Mitjä und starrte wortlos den Staatsanwalt an; kraftlos sank er wieder auf den Stuhl.

Alle schwiegen.

„Ja, die Tür! ... Das ist ein Phantom! Gott ist gegen mich! Gott der Herr ist gegen mich!“ rief Mitjä aus, mit sinnlos gewordenem Blick vor sich hinstarrend.

„Nun sehen Sie,“ begann wichtig der Staatsanwalt, „Sie sehen doch jetzt selbst ein, Dmitrij Fedorowitsch: einerseits haben wir diese Aussage über die offene Tür, aus der Sie herausgelaufen sein müssen, – eine Aussage, die sowohl uns wie Sie stutzig macht; und anderseits – Ihr unbegreifliches, hartnäckiges und fast verzweifeltes Schweigen in betreff der Herkunft des Geldes, das sich plötzlich in Ihren Händen befindet, während Sie noch vor drei Stunden nach Ihrer eigenen Aussage Ihre Pistolen versetzt haben, um wenigstens zehn Rubel zu bekommen! Nun urteilen Sie im Hinblick auf diese Tatsache selbst: An was sollen wir glauben, und an was uns halten? Und werfen Sie uns nicht vor, daß wir ‚kalte Zyniker und Spötter‘ seien, die nicht imstande sind, den edlen Ausbrüchen Ihres Herzens zu glauben ... Versuchen Sie, sich in unsere Lage zu versetzen und die Dinge von unserem Standpunkte aus zu betrachten ...“

Mitjä befand sich in unbeschreiblicher Erregung, er war ganz bleich geworden.

„Gut!“ rief er plötzlich, „ich werde Ihnen mein Geheimnis aufdecken, ich werde Ihnen sagen, woher ich das Geld genommen habe! ... Ich werde meine Schmach aufdecken, um nachher weder Sie noch mich anklagen zu müssen.“

„Glauben Sie mir, Dmitrij Fedorowitsch,“ fiel sofort mit fast freudig gerührter Stimme Neljudoff ein, „daß jedes aufrichtige und volle Bekenntnis Ihrerseits, das Sie jetzt beim ersten Verhör ablegen, späterhin einen großen Einfluß auf Ihr Los und seine Wendung zum Guten haben kann und sogar ...“

Doch der Staatsanwalt stieß ihn unbemerkt unter dem Tisch an, und so konnte der andere noch rechtzeitig verstummen. Mitjä hatte übrigens gar nicht gehört, was jener sprach.

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