VII. Mitjäs großes Geheimnis

„Meine Herren,“ begann er immer noch in derselben Aufregung, „dieses Geld ... ich will alles eingestehen ... dieses Geld gehörte mir.“

Beim Staatsanwalt und Untersuchungsrichter wurden sogar die Gesichter länger: nicht das hatten sie erwartet.

„Wieso gehörte es Ihnen,“ stotterte Neljudoff, „da Sie doch noch um fünf Uhr desselben Tages nach Ihrer eigenen Aussage ...“

„Ach, zum Teufel mit fünf Uhr desselben Tages und eigene Aussage, nicht darum handelt es sich jetzt! Dieses Geld gehörte mir, mir, das heißt, es war von mir gestohlen ... das heißt also, es war nicht mein Geld, sondern gestohlenes, von mir gestohlenes Geld, und zwar waren es tausendfünfhundert Rubel, die ich die ganze Zeit bei mir hatte ...“

„Aber von wo hatten Sie das Geld denn hergenommen?“

„Vom Halse, meine Herren, hatte ich es hergenommen, hier von diesem Halse ... in ein Stück Zeug eingenäht, hing es an meinem Halse, schon lange, einen Monat lang, ja, so lange habe ich es in Schmach und Schande mit mir herumgetragen.“

„Aber von wem haben Sie es denn ... sich angeeignet?“

„Sie wollten wohl sagen: gestohlen? Sprechen Sie nur das Wort deutlich aus. Denn für mich ist es ebensogut, als hätte ich es gestohlen. Wenn Sie aber wollen, so habe ich es mir – angeeignet. Meiner Meinung nach habe ich es gestohlen. Und gestern abend, da stahl ich es denn auch in der Tat.“

„Gestern abend? Aber Sie sagten doch soeben, Sie hätten das Geld schon vor einem Monat ... erhalten!“

„Ja, aber nicht vom Vater, nicht von meinem Vater, beunruhigen Sie sich nicht, nicht von meinem Vater habe ich es gestohlen, sondern von ihr. Lassen Sie mich alles ruhig erzählen. Unterbrechen Sie mich nicht. Das ist doch schwer ... Sehen Sie: ungefähr vor einem Monat rief, mich Katerina Iwanowna Werchoffzewa zu sich, meine gewesene Braut ... Kennen Sie sie?“

„Wie sollten wir nicht, natürlich.“

„Ich weiß, daß Sie sie kennen. Sie hat die edelste Seele, die edelste aller edlen, doch haßt sie mich schon lange, lange ... und ich habe es verdient, oh, und wie noch, wie verdient!“

„Katerina Iwanowna?“ fragte verwundert der Untersuchungsrichter.

Auch der Staatsanwalt starrte ihn verwundert an.

„Oh, sprechen Sie ihren Namen nicht unnütz aus! Ich bin ein Schuft, daß ich sie nenne. Ja, ich habe wohl gesehen, wie sehr sie mich haßt ... schon lange, schon seit jenem ersten Tage, seit jener ersten Begegnung dort in meiner Wohnung ... Doch genug, genug davon, Sie sind nicht würdig, davon auch nur etwas zu wissen, und das ist auch gar nicht nötig ... Zur Sache gehört nur, daß sie mich vor ungefähr einem Monat zu sich rief, mir dreitausend Rubel einhändigte, damit ich sie ihrer Schwester und noch einer Verwandten nach Moskau schickte – als ob sie es nicht selbst tun konnte! ... und ich ... das war gerade in jener Schicksalsstunde meines Lebens, als ich ... nun, mit einem Wort, als ich mich gerade in eine andere verliebt hatte, in sie, in sie, die jetzt dort unten sitzt, Gruschenka ... Ich brachte sie damals hierher, nach Mokroje, und brachte hier in zwei Tagen die Hälfte dieser verfluchten Dreitausend durch, das heißt also tausendfünfhundert Rubel, und die andere Hälfte behielt ich zurück. Nun, und diese anderen Tausendfünfhundert, die ich zurückbehalten hatte, trug ich an meinem Halse, als Amulett ... Gestern abend aber habe ich das Geld vom Halse abgerissen und habe es durchgebracht. Der Rest von achthundert Rubeln, den Sie, Nikolai Parfenowitsch, jetzt an sich genommen haben, ist alles, was von den Tausendfünfhundert noch übriggeblieben ist.“

„Erlauben Sie, wie denn das? Sie haben doch damals hier vor einem Monat Dreitausend und nicht Tausendfünfhundert durchgebracht! Das wissen doch alle!“

„So, wer weiß es denn? Wer hat das Geld gezählt? Wem habe ich es zu zählen gegeben?“

„Aber hören Sie mal, Sie haben doch selbst allen gesagt, daß Sie runde Dreitausend durchgebracht haben.“

„Das ist wahr, daß ich es allen gesagt habe, ich habe es sogar der ganzen Stadt gesagt, und die ganze Stadt hat es nachgesprochen, und alle glaubten es, und auch hier in Mokroje glaubt man, daß es Dreitausend gewesen sind. Nur habe ich trotzdem nicht mehr als anderthalb Tausend hier verpraßt und die anderen anderthalb Tausend in das Zeugstück eingenäht. Sehen Sie, meine Herren, wie es war, woher ich dieses Geld ...“

„Das ... das ist ganz wunderbar ...“ stotterte Neljudoff.

„Gestatten Sie zu fragen,“ sagte schließlich der Staatsanwalt, „haben Sie wenigstens irgend jemandem von diesem Umstande früher Mitteilung gemacht ... das heißt, daß Sie die anderen anderthalb Tausend damals vor einem Monat zurückbehalten hatten?“

„Nein, ich habe niemandem etwas davon gesagt.“

„Das ist sonderbar. Und Sie wissen genau, daß Sie es wirklich keinem einzigen Menschen gesagt haben?“

„Keinem einzigen Menschen. Niemandem, niemandem.“

„Aber warum denn dieses Schweigen darüber? Was veranlaßte Sie, das so geheimzuhalten? Ich werde mich deutlicher aussprechen: Sie haben uns also Ihr Geheimnis aufgedeckt, das nach Ihren Worten so schmachvoll sein soll, obgleich im Grunde – natürlich nur relativ gesprochen – diese Handlung, das heißt, die Aneignung fremden Geldes, und dazu noch selbstverständlich nur eine zeitweilige Aneignung, obgleich diese Handlung – wenigstens meines Erachtens – nur eine äußerst leichtsinnige Handlung ist und längst nicht so schmachvoll – wenn man außerdem noch Ihren Charakter in Betracht zieht ... Oder nennen wir sie sogar im höchsten Grade tadelnswert und so weiter, – so ist es deswegen noch nicht eine weiß Gott wie schmachvolle Tat ... Sehen Sie, ich meine das so: Daß diese dreitausend Rubel Fräulein Werchoffzeff gehörten, das hatten in diesem Monat schon viele ohne Ihr Eingeständnis erraten, und auch ich habe schon früher von diesem Gerücht gehört ... Michail Makarowitsch hat es gleichfalls gehört. Kurz, dieses Gerücht war in der letzten Zeit ein bereits allbekannter Stadtklatsch. Und zudem sollen auch Sie, wenn ich mich nicht täusche, einem Herrn eingestanden haben, daß Sie dieses Geld von Fräulein Werchoffzeff erhalten hätten ... Darum nun wundert es mich, daß Sie bis jetzt, das heißt bis zum gegenwärtigen Augenblick, aus dieser – nach Ihren Worten – zurückgelegten Summe von tausendfünfhundert Rubeln ein so großes Geheimnis gemacht haben, und daß Sie die Aufdeckung dieses Geheimnisses vorhin für eine so große Schmach hielten ... Es ist unwahrscheinlich, daß das Eingeständnis dieses Geheimnisses Ihnen so viel Qual bereitet hätte ... Sie sagten doch noch vor einer Minute, daß Sie eher als Zwangsarbeiter nach Sibirien gehen als das Geheimnis aufdecken würden ...“

Der Staatsanwalt verstummte. Er war in Hitze geraten und hatte seinen Ärger, wenn nicht seine Wut zu verbergen vergessen. Es hatte sich zuviel davon in ihm angesammelt, und so hatte er denn auch nicht mehr an schöne Redewendungen gedacht, sondern fast verwirrt gesprochen.

„Nicht in den Anderthalbtausend lag die Schmach, sondern darin, daß ich diese Anderthalbtausend von jenen Dreitausend abgeteilt hatte,“ sagte Mitjä mit fester Überzeugung.

„Aber wie denn,“ fragte der Staatsanwalt gereizt auflachend, „was ist denn dabei so schmachvoll, wenn Sie von bereits tadelnswert oder, wenn Sie wollen, meinetwegen auch schmachvoll angeeigneten Dreitausend die Hälfte nach Ihrem Ermessen abgeteilt haben? Viel wichtiger ist doch, daß Sie sich diese Dreitausend angeeignet haben, als das, was Sie mit ihnen nachher getan haben. Übrigens, warum haben Sie denn diese Hälfte abgeteilt? Wozu, zu welchem Zweck haben Sie das getan – können Sie es uns sagen?“

„Oh, meine Herren, in dem Zweck liegt ja doch die ganze Schmach!“ rief Mitjä. „Aus Berechnung habe ich die Anderthalbtausend abgeteilt, und diese Berechnung ist ja die ganze Gemeinheit ... Und diese Gemeinheit habe ich einen ganzen Monat mit mir herumgetragen!“

„Das begreife ich nicht.“

„Dann wundere ich mich über Sie. Aber es ist wahr, ich werde mich deutlicher erklären müssen; es ist vielleicht wirklich nicht ganz klar. Hören Sie und passen Sie auf: Ich eigne mir dreitausend Rubel an, die mir, die meiner Ehre anvertraut waren, und ich bringe das ganze Geld in einer Nacht durch und komme am nächsten Morgen zu ihr und sage: ‚Katjä, ich bin schuldig, ich habe deine Dreitausend durchgebracht.‘ Nun, was, ist das schön? Nein, das ist nicht schön, – es ist unehrlich und schlecht, ich bin ein Tier oder ein Mensch, der sich sowenig bezwingen kann, daß er tierisch wird, nicht wahr? Aber ich bin doch deswegen noch kein Dieb? Doch kein bewußter Dieb, doch kein Dieb, der aus Berechnung stiehlt, das müssen Sie mir doch zugeben! Ich habe das Geld durchgebracht, aber ich habe es nicht gestohlen! Jetzt nehmen wir den zweiten noch vorteilhafteren Fall. Geben Sie gut acht auf mich, ich könnte womöglich wieder aus dem Konzept kommen. – Der Kopf geht mir irgendwie ganz absonderlich rund. – Also der zweite Fall: ich verprasse hier nur Anderthalbtausend, also die Hälfte. Am folgenden Tage gehe ich zu ihr und bringe ihr die zweite Hälfte zurück: ‚Katjä, nimm diese Hälfte von mir, dem Scheusal und leichtsinnigen Schufte, wieder zurück und schicke sie selbst nach Moskau, denn die eine Hälfte habe ich in dieser Nacht durchgebracht, also würde ich wahrscheinlich auch mit der zweiten Hälfte dasselbe tun; nimm es, um mich davor zu bewahren.‘ Nun, was wäre ich in diesem Falle? Natürlich alles mögliche, ein Tier und ein leichtsinniger Mensch, aber immerhin doch kein Dieb, kein ausgesprochener Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, so würde ich bestimmt nicht den Rest zurückgebracht, sondern auch ihn mir angeeignet haben. So müßte sie sich doch sagen, daß ich, wenn ich den Rest so bald zurückgebracht habe, dann auch das andere Geld, das durchgebrachte, zurückbringen würde, daß ich mein Leben lang nur darauf bedacht sein würde, dafür arbeiten würde – jedenfalls aber das Geld mir verschaffen und ihr abgeben würde. So bin ich dann wohl ein Schuft, aber kein Dieb, kein Dieb, sagen Sie, was Sie wollen, aber kein Dieb!“

„Nun ja, zugegeben, daß das ein gewisser Unterschied ist,“ sagte mit kaltem Lächeln der Staatsanwalt, „so ist doch sonderbar, daß Sie darin einen dermaßen verhängnisvollen Unterschied sehen.“

„Ja, ich sehe darin einen dermaßen verhängnisvollen Unterschied! Ein Schuft kann jeder sein, und das ist auch, genau genommen, ein jeder. Ein Dieb aber kann nicht jeder sein, sondern nur ein Erzschuft. Ach, nun, ich verstehe nicht, mich da, wie es sich gehört, mit allen Feinheiten auszudrücken ... Ich meine, ein Dieb ist gemeiner als ein Schuft, ja, das ist meine Überzeugung. So hören Sie denn: Ich trage das Geld einen ganzen Monat mit mir herum, morgen aber kann ich mich entschließen, es abzugeben, und dann bin ich kein Schuft mehr ... und da kann ich mich nun nicht dazu entschließen, obwohl ich mir jeden Tag sage: ‚Entschließe dich, entschließe dich, Schuft‘, und so kann ich mich einen ganzen Monat lang nicht entschließen! Ist das nun schön, ist das, Ihrer Meinung nach, nun etwa schön?“

„Nun ja, das ist allerdings nicht gerade schön, das begreife ich sehr wohl, aber darüber streite ich auch nicht,“ sagte der Staatsanwalt, diesmal wieder zurückhaltend. „Und überhaupt wollen wir jede Erörterung über diese Feinheiten und Unterschiede vorläufig beiseite lassen, und, wenn es Ihnen gefällig ist, zum Sachlichen übergehen. Das aber wäre, wenn Sie uns jetzt erklären wollten, was Sie noch nicht getan haben, obgleich von uns die Frage schon gestellt worden ist: Warum teilten Sie zuerst das Geld, das heißt, warum wollten Sie die eine Hälfte der ganzen Summe aufbewahren, wenn Sie die andere hier verzettelten? Wozu, speziell zu welchem Zweck gedachten Sie diese anderen Anderthalbtausend zu verwenden? Ich bestehe ganz besonders auf dieser Frage, Dmitrij Fedorowitsch.“

„Ach, ja, in der Tat!“ rief Mitjä und schlug sich vor die Stirn. „Verzeihen Sie, ich erschwere Ihnen nur das Verständnis und vergesse ganz das Hauptsächliche zu erklären, sonst hätten Sie ja auch sofort begriffen, denn in diesem Zweck, in diesem Zweck liegt ja gerade die Schmach! Sehen Sie, hier kam immer der Alte dazwischen, der Verstorbene, und belästigte immer Agrafena Alexandrowna, und ich war eifersüchtig, da ich glaubte, daß sie zwischen mir und ihm schwankte. Und so dachte ich denn jeden Tag: Was aber dann, wenn sie sich plötzlich entscheidet, wenn sie müde wird, mich zu quälen und mir plötzlich sagt: ‚Dich liebe ich und nicht ihn, bring mich sofort ans Ende der Welt,‘ und ich habe dann nur zwei Zwanziger in der Tasche, was soll ich dann tun, womit sie fortbringen? – Dann wäre ich doch verloren gewesen! Ich kannte sie doch damals noch nicht und verstand sie auch nicht, ich glaubte, daß sie nur Geld haben wollte, und daß sie mir meine Armut nicht verzeihen würde. Und da zähle ich denn tückisch die Hälfte von den Dreitausend ab und nähe sie kaltblütig mit der Nadel ein, nähe sie mit Berechnung ein, nähe sie bei völliger Nüchternheit ein, und erst darauf, nachdem ich sie eingenäht habe, fahre ich hinaus, um nun die andere Hälfte zu verprassen! Das, meine Herren, das ist eine Gemeinheit! Haben Sie es jetzt begriffen?“

Der Staatsanwalt lachte schallend auf und der Untersuchungsrichter gleichfalls.

„Meiner Meinung nach ist das sogar sehr vernünftig und sittlich, daß Sie sich gemäßigt und nicht alles durchgebracht haben,“ meinte immer noch lachend der Untersuchungsrichter, „denn was ist denn schließlich dabei?“

„Das ist dabei, daß ich gestohlen habe, begreifen Sie das doch endlich! O Gott, Sie entsetzen mich durch Ihren Mangel an Verständnis! Die ganze Zeit, während der ich diese Tausendfünfhundert auf meiner Brust eingenäht trug, sagte ich mir an jedem Tage und in jeder Stunde: ‚Du bist ein Dieb, du bist ein Dieb!‘ Deswegen wütete ich doch den ganzen Monat, deswegen suchte ich doch Händel im Gasthaus, deswegen verprügelte ich doch meinen Vater, weil ich mich als Dieb fühlte! Selbst dem Aljoscha, meinem jüngsten Bruder, konnte ich mich nicht entschließen, von diesen Tausendfünfhundert etwas zu sagen: dermaßen fühlte ich, daß ich ein Schuft und ein Taschendieb war! Aber wissen Sie, meine Herren, daß ich trotzdem die ganze Zeit, während der ich das Geld auf meiner Brust trug, an jedem Tage und in jeder Stunde mir noch sagen konnte: ‚Nein, Dmitrij Karamasoff, du bist vielleicht doch kein Dieb.‘ Und warum nicht? – ‚Weil du morgen hingehen und Katjä die Tausendfünfhundert zurückgeben kannst!‘ Und erst gestern entschloß ich mich, dieses eingenähte Geld von meinem Halse zu reißen, als ich von Fenjä zu Perchotin ging, bis dahin hatte ich es nicht fertig gebracht. In demselben Augenblick erst, in dem ich das tat, wurde ich endgültig ein unbestreitbarer Dieb, fürs ganze Leben ein Dieb und ein ehrloser Mensch. Warum? Weil ich zusammen mit diesem Zeuge, in dem das Geld eingenäht war, auch meinen Vorsatz zerriß, zu Katjä zu gehen und ihr zu sagen: ‚Ich bin ein leichtsinniger Schuft, aber kein Dieb!‘ Begreifen Sie es jetzt, begreifen Sie es?“

„Warum entschlossen Sie sich denn gerade gestern abend dazu?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Warum? Lächerlich, das noch zu fragen! – Weil ich mich zum Tode verurteilt hatte, weil ich beschlossen hatte, mich um fünf Uhr morgens hier in Mokroje bei Sonnenaufgang zu erschießen. ‚Es ist doch einerlei,‘ dachte ich, ‚ob ich als Schuft oder als Ehrenmann sterbe!‘ Aber nein, das ist doch nicht einerlei, wie sich erwiesen hat! Werden Sie mir glauben, meine Herren, nicht das quälte mich heute nacht am meisten, daß ich den alten Diener erschlagen hatte und mir Sibirien drohte – und noch dazu wann? in demselben Augenblick, nachdem sie mir gesagt hatte, daß sie mich liebe, nachdem sich der Himmel wieder über mir aufgetan! Oh, das quälte wohl auch, aber doch nicht so ... doch nicht so, wie dieses verfluchte Bewußtsein, daß ich von meinem Halse doch dieses verfluchte Geld abgerissen und verschleudert hatte, daß ich – endgültig ein Dieb war! Oh, meine Herren, ich sage es Ihnen nochmals mit meinem Herzblut: Viel habe ich in dieser Nacht erkannt! Ich erkannte, daß als Schuft nicht nur zu leben unmöglich ist, sondern daß man als Schuft nicht einmal sterben kann ... Nein, meine Herren, sterben muß man ehrenhaft! ...“

Mitjä war sehr bleich. Er sah erschöpft und gemartert aus, obschon er aufs äußerste erregt war.

„Ich fange an, Sie zu begreifen, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte langsam, mit weicher, fast mitleidiger Stimme der Staatsanwalt. „Aber alles das, verzeihen Sie, sind meiner Meinung nach nur Nerven ... sind Ihre angegriffenen Nerven und weiter nichts. Warum sind Sie denn, um sich von diesen Qualen zu befreien, und anstatt sich einen ganzen Monat damit weiterzuquälen, mit den tausendfünfhundert Rubeln nicht zu jener Dame gegangen, die sie Ihnen zuerst eingehändigt hatte? um ihr das Geld zurückzugeben und dann, nachdem Sie sich mit ihr ausgesprochen hätten, ihr alles zu erklären? und um schließlich, angesichts Ihrer damaligen Lage, die Sie uns doch so verzweifelt geschildert haben, ein anderes Arrangement zu versuchen, eines, das sich einem ganz von selbst aufdrängt ... nämlich – nach dem edelmütigen Bekenntnis aller Ihrer Fehler ... kurz, warum hätten Sie nicht die Summe, die Sie für Ihre Ausgaben nötig hatten, von ihr erbitten sollen? – eine Summe, die sie angesichts Ihrer Verzweiflung in ihrer großen Herzensgüte Ihnen bestimmt nicht verweigert haben würde, besonders wenn Sie dafür ein Dokument ausgestellt hätten oder sagen wir, selbst wenn Sie jene Rechte auf Ihr Eigentum, die Sie dem Kaufmann Ssamssonoff und Frau Chochlakoff angeboten haben, auf sie übertragen hätten? Sie halten doch diese Rechte noch bis auf den heutigen Tag für so viel wert?“

Mitjä schoß das Blut ins Gesicht.

„Ist das möglich, daß Sie mich wirklich für einen solchen Schuft halten? Sie haben das doch nicht im Ernst gesagt, das kann doch nicht sein!“ rief er empört aus, und er blickte dem Staatsanwalt in die Augen, als könnte er nicht an das glauben, was er von ihm gehört hatte.

„Ich versichere Sie, daß ich es im Ernst gesagt habe ... Warum glauben Sie, daß es nicht im Ernst gemeint sein könnte?“ fragte der Staatsanwalt seinerseits verwundert.

„Oh, wie gemein das gewesen wäre! Meine Herren, wissen Sie auch, wie Sie mich quälen! Aber, es sei drum, ich werde Ihnen alles sagen, ich werde Ihnen meine ganze Gemeinheit eingestehen ... ich tue es, um gerade Sie dadurch zu beschämen, und Sie werden sich selbst wundern, bis zu welch einer Niedrigkeit die menschlichen Gefühle in Ihren Kombinationen sinken können. So hören Sie denn, daß auch ich daran gedacht habe, an genau dasselbe, was Sie soeben aussprachen, Herr Staatsanwalt! Ja, meine Herren, auch ich habe diesen Gedanken gehabt in diesem letzten Monat, so daß ich mich fast schon entschloß, zu Katjä zu gehen, ja, dermaßen gemein war ich! Doch zu ihr zu gehen, ihr meine Untreue einzugestehen und auf Grund dieses Verrates, zur Ausführung dieses Verrates, für die bevorstehenden Ausgaben dieses Verrates, von ihr, ihr selbst, von Katjä, das Geld zu bitten – zu bitten, hören Sie, zu bitten! – und dann sie sofort zu verlassen und mit der anderen fortzufahren, mit ihrer Gegnerin, die sie haßt, und durch die sie beleidigt worden ist, und wie noch beleidigt, – Sie sind verrückt geworden, Herr Staatsanwalt!“

„Verrückt oder nicht verrückt, aber, es ist wahr, ich bedachte im Augenblick nicht ... daß hierbei die weibliche Eifersucht in Frage kam ... wenn wirklich von Eifersucht die Rede sein konnte, wie Sie behaupten ... das heißt, es konnte sich hierbei allerdings um etwas Derartiges handeln,“ meinte der Staatsanwalt lächelnd.

„Das aber wäre doch eine solche Gemeinheit gewesen!“ – Mitjä schlug fast rasend vor Zorn mit der Faust krachend auf den Tisch – „das hätte denn doch dermaßen gestunken, daß, daß ... ich weiß nicht, wie ich das nennen soll! Und wissen Sie auch, daß sie imstande gewesen wäre, mir dieses Geld tatsächlich zu geben, sie hätte es getan, hätte es sogar bestimmt getan, aus Rache hätte sie es gegeben, zur Stillung ihres Rachedurstes, aus Verachtung zu mir hätte sie es gegeben. Denn auch sie ist eine infernale Seele, ein Weib, das mächtigen Zornes fähig ist! Ich aber würde das Geld angenommen haben, oh, ich würde es genommen haben, und dann würde ich mein ganzes Leben lang ... o Gott! Verzeihen Sie, meine Herren, ich schreie ja nur deswegen so, weil ich diesen Gedanken noch vor kurzem tatsächlich gehabt habe, vor drei Tagen noch, als ich mich mit dem Ljägawyj herumplagte, und dann noch gestern, ja, noch gestern, den ganzen Tag gestern, ich weiß noch ganz genau, die ganze Zeit gestern bis zu jenem Vorfall ...“

„Bis zu welchem Vorfall?“ griff der Untersuchungsrichter sofort auf, doch Mitjä überhörte die Frage.

„Ich habe Ihnen ein furchtbares Bekenntnis abgelegt,“ sagte er finster. „So schätzen Sie es doch, meine Herren. Nein, das wäre zu wenig, zu wenig, zu wenig ist es, das nur zu schätzen, – heilig halten sollen Sie es! ... Wenn Sie es aber nicht tun, wenn auch das an Ihren Seelen vorübergeht, ohne sie zu berühren, dann ... dann achten Sie mich ja überhaupt nicht, meine Herren, das sage ich Ihnen, und ich ... ich werde vergehen vor Schande, daß ich es solchen Menschen bekannt habe, wie Sie sind! Oh, ich werde mich erschießen! Ja, ich sehe ja schon, daß Sie mir nicht glauben, ich sehe es, ich sehe es! Wie, auch das wollen Sie niederschreiben?“ rief er plötzlich angstvoll.

„Ja, das, was Sie soeben geäußert haben,“ sagte der Untersuchungsrichter, der ihn verwundert betrachtete, „daß Sie bis zum letzten Augenblick noch daran gedacht haben, zu Fräulein Werchoffzeff zu gehen, um sie um diese Summe zu bitten ... Glauben Sie mir, das ist eine Aussage von großer Wichtigkeit für uns, Dmitrij Fedorowitsch, über diesen ganzen Vorfall ... und besonders für Sie, besonders für Sie.“

„Haben Sie Erbarmen, meine Herren!“ rief Mitjä, der in der Verzweiflung die Hände erhob, „schreiben Sie doch wenigstens das nicht auf, so schämen Sie sich doch wenigstens diesmal! Ich habe mein Herz vor Ihnen in zwei Hälften gerissen, und Sie benutzen das, um mit ihren Fingern an der Rißstelle in beiden Hälften herumzubohren ... O Gott!“

In der Verzweiflung senkte er seinen Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen.

„Regen Sie sich nicht so auf, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte der Staatsanwalt, „es wird Ihnen alles, was niedergeschrieben ist, vorgelesen werden, und das, womit Sie nicht einverstanden sind, können Sie dann nach ihrem Wunsch ändern. Jetzt aber will ich noch einmal meine Frage wiederholen, zum drittenmal: Haben Sie denn wirklich niemandem, keiner einzigen lebenden Seele etwas von diesem eingenähten Gelde gesagt? Ich muß Ihnen gestehen, daß es kaum möglich ist, sich das vorzustellen.“

„Niemandem, niemandem! Ich habe es Ihnen doch schon gesagt! Wenn Sie mir nicht glauben, so haben Sie ja nichts begriffen! Dann – lassen Sie mich aber auch in Ruhe.“

„Wie Sie wünschen. Aber dieser Punkt muß sich noch aufklären, und wir haben ja schließlich auch noch viel Zeit vor uns, um ihn aufzuklären. Nur bedenken Sie selbst: Wir haben vielleicht zehn, zwanzig, dreißig Zeugen, die aussagen, daß Sie, Sie selbst gesagt und sogar ausgeschrien haben, Sie hätten Dreitausend und nicht anderthalb Tausend verschleudert, und auch gestern, als Sie plötzlich im Besitze des vielen Geldes waren, haben Sie gleichfalls gesagt, daß Sie wiederum dreitausend Rubel mitgebracht hätten ...“

„Ach, nicht zehn, sondern hundert, Hunderte von Zeugen haben Sie, zweihundert, dreihundert Menschen haben das gehört, tausend Menschen!“ rief Mitjä.

„Nun sehen Sie, alle, alle sagen dasselbe. Und dieses Wort ‚alle‘ hat doch etwas zu bedeuten.“

„Nichts hat es zu bedeuten, denn ich habe nur so geschwatzt, und mir haben es die anderen einfach nachgeschwatzt.“

„Aber wozu hatten Sie denn nötig, so zu schwatzen, wie Sie sagen?“

„Das mag der Teufel wissen, wozu. Um zu prahlen, vielleicht ... so ... ‚Seht, wieviel Geld ich verschwendet habe‘ ... Vielleicht auch, um dieses eingenähte Geld zu vergessen ... ja, ja, gerade das war es, deshalb! ... Teufel ... zum wievielten Male fragen Sie mich das? Nun, ich habe Unsinn geschwatzt und damit abgemacht, hatte einmal gesagt dreitausend, und dann wollte ich nicht mehr was anderes sagen. Weshalb schwatzt denn der Mensch zuweilen Unsinn?“

„Das ist sehr schwer zu entscheiden, Dmitrij Fedorowitsch, weshalb der Mensch zuweilen Unsinn schwatzt,“ sagte der Staatsanwalt eindringlich. „Aber sagen Sie, war dieses Amulett, wie Sie es nennen, das Sie am Halse trugen, groß?“

„Nein, nicht groß.“

„Wie groß etwa?“

„Wenn Sie einen Hundertrubelschein einmal zusammenfalten, so haben Sie die Größe.“

„Wäre es nicht besser, Sie zeigten mir dieses zerrissene Zeug? Sie müssen es doch noch irgendwo bei sich haben.“

„Äh, Teufel ... welche Dummheiten ... ich weiß nicht, wo es ist.“

„Aber erlauben Sie, einstweilen: Wo und wann haben Sie es denn von Ihrem Halse abgenommen? Sie sind doch, wie Sie selbst aussagen, nicht nach Hause gegangen?“

„Als ich von Fenjä fortging, auf dem Wege zu Perchotin, unterwegs riß ich es ab und nahm das Geld heraus.“

„In der Dunkelheit?“

„Wozu braucht man denn dabei ein Licht? Ich habe das mit dem Finger in einem Augenblick getan.“

„Ohne Schere, auf der Straße?“

„Auf dem Großen Platz, glaube ich; wozu eine Schere? Es war ein altes Stück Zeug, das sofort durchriß.“

„Und wohin legten Sie es dann?“

„Dort, wo ich es durchriß, warf ich es auch fort.“

„Auf welcher Stelle?“

„Auf dem Großen Platz, habe ich Ihnen doch schon gesagt, Herrgott, auf dem Großen Platz! Der Teufel weiß, wo es gerade war. Was haben Sie nur davon?“

„Das ist sehr wichtig, Dmitrij Fedorowitsch: es handelt sich um Sachbeweise zu Ihren Gunsten, wie können Sie das nur nicht einsehen? Wer hat Ihnen denn vor einem Monat geholfen, die Sache einzunähen?“

„Niemand hat mir geholfen, ich habe selbst genäht.“

„Verstehen Sie denn zu nähen?“

„Jeder Soldat muß zu nähen verstehen – was ist denn dabei zu verstehen!“

„Wo haben Sie denn das Material hergenommen, ich meine das Zeug, in das Sie es eingenäht haben?“

„Sie wollen sich wohl lustig machen?“

„Durchaus nicht, wir sind zu nichts weniger als zum Lachen aufgelegt, Dmitrij Fedorowitsch.“

„Ich weiß nicht mehr, wo ich den Lappen hernahm, irgendwoher habe ich ihn jedenfalls genommen.“

„Wie sonderbar, daß Sie sich gerade dessen nicht entsinnen.“

„Aber bei Gott, ich weiß es nicht mehr, es ist möglich, daß ich irgend etwas von der Wäsche zerrissen habe.“

„Das ist sehr interessant: dann könnte man in Ihrer Wohnung dieses Wäschestück finden, von dem Sie das Stück abgerissen haben. Was war es denn für ein Zeug, Leinwand oder Baumwolle?“

„Der Teufel weiß, was es war. Warten Sie ... Ich, ich glaube ... ich habe es von nichts abgerissen. Es war Kattun ... Ich hatte es, glaube ich, in die Haube meiner Hauswirtin eingenäht.“

„In die Hau–be der Hauswirtin?“

„Ja, ich hatte mir diese Haube eingesackt.“

„Wie das – eingesackt?“

„Sehen Sie, ich habe tatsächlich, jetzt fällt es mir wieder ein, einmal irgendwie diese Haube genommen, um irgend was abzuwischen, vielleicht war es nur irgendein Staub, den ich abwischen wollte. Ich nahm das Ding eben an mich, denn es war doch ein Ding, das zu nichts taugte, und dann trieb sich der Fetzen dort bei mir herum, und da waren nun plötzlich diese Tausendfünfhundert, und ich wußte nicht, in was ich sie einnähen sollte ... Nun glaube ich, daß ich gerade diesen Lappen dazu nahm. Ein altes weißes Leinenstück, oder wie diese Zeuge da heißen, eines, das schon tausendmal gewaschen war.“

„Und Sie erinnern sich dessen ganz genau, Sie wissen es bestimmt?“

„Ich weiß nicht, wie bestimmt. Ich glaube, daß es dieselbe Haube war. Ach, nun, zum Teufel damit.“

„In dem Falle könnte sich Ihre Hauswirtin vielleicht erinnern, daß ihr diese Sache damals abhanden gekommen ist?“

„Ach wo, sie hat es überhaupt nicht bemerkt. Ein alter Fetzen, sage ich Ihnen doch, ein ganz altes Ding, das keine halbe Kopeke wert war.“

„Und woher nahmen Sie die Nadel und den Faden?“

„Ich breche ab, ich will nicht mehr. Genug darüber!“ sagte Mitjä, dem die Geduld riß.

„Und gleichfalls sonderbar ist, daß Sie sich so gar nicht mehr erinnern können, auf welcher Stelle des Großen Platzes Sie dieses Futteral fortgeworfen haben.“

„So lassen Sie doch heute den ganzen Platz fegen, vielleicht finden Sie es dann,“ sagte Mitjä, kurz auflachend. „Genug, meine Herren, genug,“ sagte er mit müdgequälter Stimme. „Ich sehe es doch klar: Sie glauben mir nicht! Nichts glauben Sie mir, nicht für eine Kopeke. Aber es ist das meine Schuld und nicht Ihre, ich hätte nicht so dumm von Vertrauen reden sollen. Warum, warum habe ich mich mit der Aufdeckung meines Geheimnisses beschmutzt! Und Sie, meine Herren, Sie lachen doch nur darüber, das sehe ich ja an Ihren Augen. Sie sind es, Staatsanwalt, der mich dazu gebracht hat! Singen Sie sich jetzt einen Siegeshymnus, wenn Sie es können ... Oh, seid verflucht, ihr Folterknechte!“

Sein Kopf sank herab, und er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter schwiegen beide. Nach einer Minute erhob er wieder den Kopf und blickte sie wie sinnlos an. Sein Gesicht drückte jetzt unabwendbare, unfaßbare, erdrückende Verzweiflung aus, und es war, als wäre er gleichsam in sich selbst verstummt, während er auf dem Stuhle saß und sich nicht mehr fühlte. Indessen mußte die Sache beendet werden: man mußte unverzüglich zum Verhör der Zeugen übergehen. Es war bereits acht Uhr morgens. Die Lichter hatte man schon längst ausgelöscht. Michail Makarowitsch und Kalganoff, die während der ganzen Zeit des Verhörs ein- und ausgegangen waren, verließen diesmal wieder das Zimmer. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sahen gleichfalls sehr abgespannt aus. Der Morgen war trübe; es regnete wie aus Eimern, und der ganze Himmel war gleichmäßig grau. Mitjä blickte gedankenlos zu den Fenstern.

„Darf ich einmal zum Fenster hinaussehen?“ fragte er plötzlich den Untersuchungsrichter.

„Oh, gewiß, soviel Sie wollen,“ antwortete jener.

Mitjä erhob sich und trat ans Fenster. Der Regen peitschte gegen die kleinen grünlichen Fensterscheiben. Gerade vor dem Hause lag die schmutzige Fahrstraße, in deren Radspuren sich schmutziges, braungraues Regenwasser angesammelt hatte, und dort weiterhin im Regennebel sah man die dunklen, armen, unansehnlichen Bauernhütten, die, wie es schien, durch den Regen noch dunkler und noch trauriger und ärmer geworden waren. Mitjä erinnerte sich des „goldlockigen Phöbus“, und wie er sich bei seinem ersten Morgenstrahl hatte erschießen wollen. „Nun was, an einem solchen Morgen wäre es ja schließlich noch besser gewesen,“ dachte er mit einem bitteren Lächeln. Und plötzlich, mit einem wuchtigen Fausthieb von oben nach unten durch die Luft, wandte er sich vom Fenster zu den „Folterknechten“ zurück:

„Meine Herren!“ rief er, „ich sehe ja, daß ich verloren bin. Aber sie? Sagen Sie mir, meine Herren, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was mit ihr geschehen wird? Es ist doch nicht möglich, daß auch sie meinetwegen ins Unglück gestürzt wird? Sie ist doch unschuldig, sie war doch gestern nicht bei voller Besinnung, als sie schrie, daß sie an allem die Schuld trage. An nichts, an nichts trägt sie eine Schuld! Es hat mich diese ganze Nacht gequält, als ich hier vor Ihnen saß ... Geht es nicht an, können Sie mir nicht sagen, was Sie jetzt mit ihr tun werden?“

„In der Beziehung können Sie vollkommen ruhig sein, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte sofort mit sichtlicher Eilfertigkeit der Staatsanwalt, „wir haben bis jetzt keinerlei Ursache, die Dame, von der Sie reden, auch nur im geringsten sonderlich zu beunruhigen. Im weiteren Verlaufe der Sache wird sich, hoffe ich, gleichfalls erweisen ... Im Gegenteil, wir werden in der Beziehung alles tun, was in unserer Macht steht. Sie können vollkommen ruhig sein.“

„Ich danke Ihnen, meine Herren, ich wußte es, wußte, daß Sie ehrenhafte und gerechte Menschen sind, abgesehen von allem ... Sie haben mir eine Last vom Herzen genommen ... Nun, was werden wir denn jetzt machen? Ich bin bereit.“

„Ja, man wird sich beeilen müssen. Wir müssen sofort zum Verhör der Zeugen übergehen. Das muß natürlich in Ihrer Gegenwart geschehen, und darum ...“

„Sollte man nicht vorher etwas genießen, eine Tasse Tee zum Beispiel?“ unterbrach ihn Neljudoff, „wir dürften sie uns doch wohl verdient haben?“

Man beschloß, falls unten der Tee bereit wäre – was man sicher annehmen konnte, da Michail Makarowitsch hinausgegangen war – vorläufig nur ein Glas zu trinken und im Verhör fortzufahren, „unbedingt fortzufahren“, das „Frühstück“ jedoch noch hinauszuschieben, bis zu einer freieren Stunde. Der Tee war fertig und wurde ihnen im Augenblick gebracht. Mitjä dankte zuerst für den Tee, den ihm der Untersuchungsrichter freundlich anbot, dann aber bat er selbst darum und trank das Glas gierig aus. Er sah seltsam übermüdet aus. Was konnte ihm, hätte man meinen sollen, diesem Recken mit seiner bekannten Körperkraft, ein Trinkgelage und eine durchschwärmte Nacht, selbst eine wie diese, unter den stärksten seelischen Erschütterungen, ausmachen? Er selbst aber fühlte, daß er sich kaum auf dem Stuhle halten konnte, und daß von Zeit zu Zeit sich alle Gegenstände vor seinen Augen drehten. „Es fehlt nur noch ein wenig, und ich fange an zu phantasieren,“ dachte er bei sich.

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