Mein Gott, wer kann sagen, daß es im Volke keine Sünde gäbe! Die Flamme der Vernichtung und des Verderbens vergrößert sich sichtbar und stündlich. Auch ins Volk dringt die Isolierung: Wucherer und Freischlucker treten auf, der Händler und Kaufmann will immer mehr geehrt sein, bemüht sich, den Gebildeten zu spielen, ohne Bildung zu besitzen, und vernachlässigt darum mit Absicht die alten Volksbräuche und schämt sich des Glaubens seiner Väter. Er fährt zu Fürsten zum Besuch und ist dabei doch nichts anderes als ein verdorbener Bauer. Das Volk hat sich der Trunksucht ergeben: es ist durch sie wie angefault und kann sich nicht mehr davon losreißen. Wieviel Grausamkeit sehen wir oftmals im Verhalten des Mannes zu seiner Familie, seiner Frau und sogar den Kindern gegenüber: alles das kommt von der Trunksucht. In den Fabriken habe ich neunjährige Kinder gesehen, schwächlich, abgezehrt, gekrümmt und schon verdorben. Stickige Räume, das Getöse der Maschinen und den ganzen Gottestag über Arbeit, häßliche, unanständige Reden und Branntwein, Branntwein! Ist es denn das, was die Seele eines so kleinen Kindes bedarf? Es hat Sonne nötig und Spiele und in allem ein gutes Beispiel und Liebe, wenn auch nur ein Tröpfchen Liebe zu ihm. Auf daß es geschehe, Mönche, auf daß die Quälerei der Kinder aufhöre, erhebt euch schneller und predigt dagegen. Gott wird Rußland retten, denn wenn das Volk auch verdorben ist und sich von der Schande und Sünde nicht losmachen kann, so weiß der Einfache doch, daß Gott seine Sünde verflucht, und daß er schlecht handelt, wenn er sündigt. So daß unser Volk trotz allem unerschütterlich an die Wahrheit glaubt, Gott anbetet und über seine Sünden weint. Nicht so aber ist es bei den Höheren. Die wollen sich nach der Wissenschaft und nach ihrem eigenen Verstande, doch vor allem ohne Christus, hier auf Erden einrichten und behaupten daher, es gäbe kein Verbrechen, es gäbe keine Sünde. Und in ihrer Art haben sie auch recht: wenn es keinen Gott gibt, wie kann es dann ein Verbrechen geben? In Europa erhebt sich schon das Volk gegen die Reichen, und ihre Rädelsführer predigen die Gewalt und das Blutvergießen und behaupten, daß ihr Zorn ein gerechter sei. Doch verflucht sei ihr Zorn, denn er ist grausam, d. h. ohne Barmherzigkeit. Rußland aber wird Gott der Herr erretten, wie er es schon oft errettet hat. Aus dem Volk wird die Rettung kommen, aus seinem Glauben und seiner Demut. Meine Väter und Lehrer, bewahret den Glauben des Volkes, denn er ist kein leerer Traum: mein ganzes Leben lang bin ich von seiner Größe, von seiner herrlichen und aufrichtigen Würde ergriffen gewesen. Ich habe es selbst gesehen und habe gestaunt, ich kann es bezeugen trotz der Finsternis und des ärmlichen und unansehnlichen Aussehens unseres Volkes. Es ist nicht kriechend trotz seiner zwei Jahrhunderte langen Sklaverei, die es unter den Tataren durchgemacht hat. Frei ist sein Äußeres und sein Betragen, frei ist es, ohne einen dabei zu beleidigen. Und nie ist unser Volk rachsüchtig und nie neidisch. „Du bist bedeutend, bist reich, bist klug und talentvoll – möge Gott dich segnen. Ich achte dich, doch wisse, daß auch ich ein Mensch bin. Darin, daß ich dich neidlos achte, darin besteht meine eigene Menschenwürde vor dir.“ In Wahrheit ist es so, denn wenn sie sich auch nicht so auszudrücken verstehen, so handeln sie doch danach, ich selbst habe es gesehen, ich selbst habe es erfahren, und glaubet mir: je ärmer und niedriger unser russischer Mann ist, um so eher ist in ihm diese herrliche Wahrhaftigkeit zu finden. Die Reichen von ihnen, die Wucherer und Schmarotzer, sind auch schon verdorben, und vieles, vieles ist von unserer Unachtsamkeit und Nachlässigkeit gekommen. Aber Gott wird seine Kinder erretten, denn groß ist Rußland in seiner Demut. Ich träume von unserer Zukunft, und schon sehe ich sie emporsteigen. Und es wird so sein, daß unser verderbtester Reicher sich seines Reichtums vor dem Armen schämen wird, und der Arme wird seine Demut verstehen und wird ihm mit Freuden den Vorrang lassen, der ihm zukommt, und seine edle Scham mit Wohlwollen vergelten. Glaubet mir, so wird es enden; darauf geht es hinaus. Die Gleichheit besteht in der menschlichen, geistigen Würde, und das wird man nur bei uns verstehen. Wenn es Brüder gibt, dann wird es auch eine Brüderschaft geben, früher aber werden sie nie miteinander teilen. Das Vorbild Christi bewahren wir, und es wird wieder wie ein kostbares Juwel der ganzen Welt leuchten ... Und also geschehe es!
Meine Väter und Lehrer, ich erlebte einmal etwas sehr Rührendes. Auf meiner Wanderschaft traf ich in der Gouvernementsstadt K. meinen früheren Burschen Afanassij, den ich seit der Zeit, ungefähr seit acht Jahren, als wir auseinander gegangen waren, nicht wieder gesehen hatte. Er sah mich zufällig in einem Kaufhause, erkannte mich und stürzte auf mich zu. Mein Gott, wie lief er herbei, und wie freute er sich: „Väterchen, Herr sind Sie denn das wirklich? Täuschen mich nicht meine Augen?“ Er führte mich zu sich. Er hatte schon den Dienst verlassen, war verheiratet und hatte zwei Kinderchen. Er lebte mit seiner Frau von einem kleinen Kramladen, den sie im Kaufhause besaßen. Das Zimmerchen, in das er mich führte, war ärmlich, aber sauber und hell. Er nötigte mich, Platz zu nehmen, stellte den Ssamowar auf, schickte nach seiner Frau, ganz als ob es für ihn ein Feiertag wäre, daß ich zu ihm gekommen war. Er führte mir seine Kinder zu: „Segne sie, Väterchen,“ bat er. – „Kommt es mir einfachem demütigem Menschen denn zu, andere zu segnen,“ antwortete ich ihm, „ich werde zu Gott für sie beten. Auch für dich, Afanassij Pawlowitsch, bete ich; seit jenem Tage bete ich täglich für dich zu Gott, denn durch dich ist alles so gekommen, wie es jetzt ist.“ Und ich erklärte ihm das, so gut ich konnte. Wie war dem Menschen wohl zumute: er konnte immer noch nicht fassen, daß ich, der ich jetzt vor ihm in solch einer Gestalt und Kleidung stand, sein früherer Herr und sein junger Leutnant war. – Er fing sogar zu weinen an. „Warum weinst du,“ fragte ich ihn, „du unvergeßlicher Mensch, freuen sollte sich deine Seele über mich, mein Lieber, denn freudig und hell ist mein Weg.“ Viel sprach er nicht, aber er seufzte und schüttelte wehmütig den Kopf. „Wo ist denn Ihr Reichtum geblieben?“ Ich antwortete ihm: „Habe ihn dem Kloster gegeben, wir leben dort alle in Gemeinschaft.“ Nach dem Tee verabschiedete ich mich von ihnen, und plötzlich brachte er mir fünfzig Kopeken fürs Kloster, und was sehe ich, andere fünfzig Kopeken steckte er mir noch heimlich in die Hand und beeilte sich dabei zu sagen: „Das ist für Sie, den sonderbaren Wanderer, es kommt Ihnen vielleicht zustatten, Väterchen.“ Ich nahm das Geld, verbeugte mich vor ihm und vor seiner Frau und ging erfreut davon. Auf dem Wege dachte ich noch: „Jetzt werden wir beide, er bei sich und ich unterwegs, seufzen und lächeln, in der Freude des Herzens den Kopf wiegen, daran denkend, wie Gott uns zusammengeführt hat.“ Seit der Zeit habe ich ihn nicht wieder gesehen. Ich war sein Herr, er war mein Diener gewesen, nun aber, nachdem wir uns fromm und in Liebe geküßt hatten, hatte sich in uns die große Menschenvereinigung vollzogen. Ich habe viel darüber nachgedacht und jetzt frage ich mich: Ist es denn wirklich so undenkbar, daß diese große Einigung voll Herzenseinfalt sich einmal überall in unserem Rußland vollziehen könnte? Ich glaube daran, daß sie sich vollziehen wird, und daß die Zeit schon vor der Tür steht.
Über die Diener füge ich aber noch folgendes hinzu: Früher in meiner Jugend ärgerte ich mich viel über sie: die Köchin hatte zu heiß angerichtet oder der Bursche die Kleider nicht genügend rein gebürstet. Aber plötzlich leuchtete der Gedanke meines lieben Bruders in mir auf, den ich in meiner Kindheit oftmals von ihm aussprechen gehört hatte: „Bin ich wert, daß ein anderer mich bedient, und habe ich das Recht, ihn wegen seiner Armut und Unwissenheit schlecht zu behandeln?“ Ich war erstaunt damals, wie die allereinfachsten und klarsten Gedanken uns so spät in den Sinn kommen. Ohne Diener kann die Welt nicht auskommen, aber du sollst so handeln, daß dein Diener freier im Geiste ist, als er wäre, wenn er nicht dein Diener sein würde. Und warum soll ich nicht meinem Diener ein Diener sein, und zwar so, daß er fühlt, daß ich es ohne jeglichen Stolz oder Hochmut meinerseits bin – und ohne in ihm Mißtrauen zu erwecken? Warum soll ich zu meinem Diener nicht sein wie zu einem Verwandten, und warum soll ich ihn nicht ganz in meine Familie aufnehmen und mich dessen freuen? Das ist auch jetzt schon ausführbar und würde zur Grundlage der großen zukünftigen Einigung der Menschen dienen, in der der Mensch sich keine Diener suchen und nicht mehr wünschen wird, seinesgleichen sich dienstbar zu machen, wie er jetzt tut, sondern im Gegenteil, aus allen Kräften wünschen wird, allen ein Diener nach dem Evangelium zu werden. Und ist das wirklich nur ein Traum, daß der Mensch schließlich seine Freude in Fortschritten der Erleuchtung und Mildtätigkeit finden wird und nicht an den grausamen Freuden der Üppigkeit, Unzucht, Hoffart, Prahlerei und in der Überhebung des einen über den anderen? Ich glaube fest daran, daß diese Zeit nicht mehr fern ist. Man wird wohl lachend fragen: wann wird denn diese Zeit kommen, und wird sie dann auch diesem Traume ähnlich sein? Ich aber denke, daß wir mit dem Vorbild Christi diese große Tat vollführen werden. Wieviel Ideen gibt es doch auf der Erde und in der Geschichte der Menschheit, die noch vor zehn Jahren undenkbar waren, und die doch plötzlich auftauchten, als für sie die geheimnisvolle Stunde geschlagen hatte, und die sich dann über die ganze Erde verbreiteten. So wird es auch bei uns sein, unser Volk wird die Welt erleuchten, und die ganze Welt wird sagen: „Der Stein, den die Baumeister verwarfen, ist zum Eckstein geworden.“ Und die Spötter sollte man fragen: Wenn das bei uns nur Träume sein sollen, wie werdet ihr dann euer Gebäude nur mit eurem Verstande und ohne Christus aufbauen? An ihre Versicherung, daß auch sie auf ihrem Wege schließlich zur Einigung der Menschheit gelangen werden, glauben in Wahrheit nur die Einfältigsten unter ihnen, und über diese Einfältigkeit kann man sich wirklich nur wundern, denn wahrlich ihre phantastischen Träume bauen sich auf keiner einzigen Tatsache auf. Sie denken alles ohne Christum gerecht aufzubauen, aber sie werden damit enden, daß sie die Welt mit Blut überschwemmen, denn Blut schreit nach Blut, und das Schwert wird nur durch das Schwert vergehen. Und wenn die Verheißung Christi nicht wäre, so würden sie sich auf Erden gegenseitig bis auf die zwei letzten Menschen vertilgen. Auch diese letzten Zwei würden nicht verstehen, sich in ihrem Stolze zu bändigen, so daß der Letzte den Vorletzten vernichten würde und zuletzt sich selbst. So würde es geschehen, wenn die Welt nicht durch die Verheißung Christi um der Frommen und Demütigen willen erhalten bliebe. Damals nach dem Duell, sprach ich, noch in der Offiziersuniform, in der Gesellschaft einmal über diese Frage, und ich erinnere mich, alle waren sie erstaunt über mich: „Was, sollen wir unsere Dienstboten auf das Sofa setzen und ihnen den Tee reichen?“ Ich gab ihnen aber zur Antwort: „Warum denn nicht, und wenn es auch nur ein einziges Mal geschieht?“ Sie lachten darüber. Ihre Frage war leichtsinnig, und meine Antwort war unklar, aber ich denke, etwas Wahres war doch in ihr enthalten.