II. Auf einen Augenblick ward die Lüge Wahrheit

Er beeilte sich, ins Hospital zu kommen, in dem Mitjä jetzt lag. Am zweiten Tage nach seiner Verurteilung hatte Mitjä so hohes Fieber gehabt – es war natürlich ein nervöses Fieber –, daß er aus dem Gefängnis ins Stadthospital, in die Abteilung der Arrestanten, verbracht worden war, doch hatte der junge Doktor Warwinskij auf Aljoschas und vieler anderer (Frau Chochlakoffs, Lisas usw.) Bitte den Kranken nicht bei den Gefangenen, sondern in einem abgesonderten Raume untergebracht, und zwar in derselben kleinen Kammer, in der auch Ssmerdjäkoff gelegen hatte. Außerdem stand ja am Ende des Korridors ein wachhabender Soldat, und auch das Fenster war dort vergittert; so wagte denn Warwinskij schließlich nicht viel mit seiner nicht ganz gesetzlichen Nachsicht. Der junge Mann hatte ein gutes, mitfühlendes Herz. Er konnte es nachempfinden, wie schwer es einem Menschen, wie Mitjä, sein mußte, so plötzlich unter Mörder und Räuber versetzt zu werden. Er verstand, daß man sich an diese Gesellschaft wenigstens erst gewöhnen mußte. Der Besuch von Verwandten und Bekannten war sowohl vom Arzt, als vom Inspektor und sogar von unserem Polizeichef erlaubt worden – unter der Hand, versteht sich. Doch hatten Mitjä in diesen Tagen nur Aljoscha und Gruschenka besucht. Zweimal hatte auch Rakitin unbedingt zu ihm gewollt, doch Mitjä hatte Warwinskij dringend gebeten, ihn nicht zu ihm zu lassen.

Als Aljoscha eintrat, saß Mitjä in den Hospitalkleidern auf seiner feldbettartigen Schlafstelle. Er schien noch Fieber zu haben. Um den Kopf und auf der Stirn hatte er ein Handtuch, das mit Wasser und Essig angefeuchtet war. Mit einem unbestimmten Blick sah er Aljoscha an, als dieser eintrat, doch flimmerte es in seinem Blick zuerst wie ein vorübergehender Schreck.

Mitjä war seit seiner Verurteilung auffallend nachdenklich geworden. Zuweilen schwieg er halbe Stunden lang, während er dem Anscheine nach mit Mühe etwas überdachte und darüber den Anwesenden ganz vergaß. Verließ ihn aber die Nachdenklichkeit, und fing er zu sprechen an, was gewöhnlich ganz unerwartet geschah, so sprach er unbedingt nicht davon, wovon er eigentlich sprechen wollte. Zuweilen sah er den Bruder mit flehendem Blick an, und Aljoscha fühlte dann mit jeder Fiber, wie schwer er litt. Wenn Gruschenka bei ihm war, schien es ihm leichter zu sein, als wenn Aljoscha allein bei ihm saß. Und wenn er auch mit ihr kaum etwas sprach, so verklärte sich doch sein ganzes Gesicht vor Freude, sobald sie nur eintrat. Aljoscha setzte sich schweigend neben ihn auf das Lager. Mitjä hatte ihn voll Unruhe erwartet. Nun wagte er nicht, ihn etwas zu fragen. Es schien ihm undenkbar, daß Katjä einwilligen könnte, zu ihm zu kommen, und doch fühlte er gleichzeitig, daß, wenn sie nicht käme, er diesen Zustand nicht lange ertragen würde. Aljoscha begriff seine Gefühle.

Plötzlich fuhr Mitjä auf und begann geschäftig:

„Trifon Borissytsch soll sein ganzes Haus auseinanderkratzen, sagt man, er soll alle Dachsparren untersuchen, alle Bretter abreißen, die ganze ‚Galerie‘ soll er abgetragen haben. Er sucht immer noch den Schatz, diese tausendfünfhundert Rubel, von denen der Staatsanwalt behauptet, ich hätte sie dort versteckt. Kaum daß er zurückgekehrt ist, soll er sofort angefangen haben zu suchen. Na, ich wünsche ihm viel Vergnügen, dem Spitzbuben! Das hat mir hier der Wärter gestern erzählt; er ist von dort.“

„Höre, Mitjä,“ sagte Aljoscha, „sie wird kommen, nur weiß ich nicht, wann. Vielleicht kommt sie heute, vielleicht erst in den nächsten Tagen, das weiß ich nicht, aber kommen wird sie bestimmt, das weiß ich genau.“

Mitjä fuhr zusammen, wollte schon etwas sagen – sagte dann aber doch nichts. Diese Nachricht war erschütternd für ihn. Man sah ihm an, daß er noch mehr von dem Gespräch Aljoschas mit Katjä erfahren wollte, daß er sich aber nicht zu fragen getraute, sich vor einer Antwort vielmehr bis zur Pein fürchtete: Etwas Hartherziges oder Verächtliches von Katjä zu erfahren – wäre für ihn in diesem Augenblick zu grausam gewesen.

„Und höre, was sie unter anderem noch gesagt hat: Ich solle dein Gewissen wegen der Flucht unbedingt beruhigen. Und wenn auch Iwan bis dahin nicht gesund werden sollte, so wird sie allein die ganze Sache in die Hand nehmen.“

„Das hast du mir schon gesagt,“ bemerkte Mitjä in Gedanken versunken.

„Und du hast es schon Gruscha mitgeteilt,“ bemerkte Aljoscha.

„Ja,“ gestand Mitjä. „Heute wird sie nicht am Morgen kommen,“ sagte er, indem er schüchtern den Bruder anblickte. „Sie wird mich erst am Abend besuchen. Als ich ihr gestern nur andeutend sagte, daß Katjä die Sache machen werde, verstummte sie, ihre Lippen verzogen sich. Sie murmelte nur: ‚Mag sie!‘ Sie begriff, daß es wichtig ist. Ich wagte nicht weiter zu fragen. Doch begreift sie jetzt bereits, denke ich, daß jene nicht mich liebt, sondern Iwan.“

„Meinst du?“ entfuhr es Aljoscha unwillkürlich.

„Du hast recht, vielleicht auch nicht. Nur wird sie heute vormittag nicht kommen, ich habe ihr einen Auftrag gegeben ... Weißt du, Iwan wird uns alle überragen. Er muß leben, nicht wir. Er wird gesund werden.“

„Stell dir vor, Katjä zittert natürlich für ihn, und doch zweifelt sie kaum, daß er gesund werden wird,“ sagte Aljoscha.

„Dann ist sie also überzeugt, daß er sterben wird. Nur aus Angst glaubt sie, daß er gesund werden wird.“

„Iwan ist kein Schwächling, er ist von starker Konstitution. Ich hoffe gleichfalls sehr, daß er gesund wird,“ bemerkte Aljoscha sichtlich erregt.

„Ja, er wird gesund werden. Sie aber ist überzeugt, daß er sterben wird. Großen Kummer hat sie ...“

Schweigen trat ein. Irgend etwas sehr Wichtiges schien Mitjä zu quälen.

„Aljoscha, ich liebe Gruscha wahnsinnig,“ sagte er plötzlich mit bebender, tränenerfüllter Stimme.

Dort wird man sie aber nicht zu dir lassen ...“ Aljoscha griff sofort das Thema auf.

„Und was ich dir noch sagen wollte, Alexei,“ fuhr Mitjä mit einer ganz eigentümlich klangvollen Stimme fort, „wenn man mich unterwegs oder dort schlagen will – das werde ich nicht dulden, nein, ich werde sie erschlagen, und dann wird man mich erschießen. Und das soll ich zwanzig Jahre lang ertragen! Hier fängt man schon an, du zu mir zu sagen. Alle Wärter sagen zu mir du. Ich habe heute die ganze Nacht wach im Bett gelegen und über mich Gericht gehalten: Nein, ich bin nicht bereit! Ich kann es nicht auf mich nehmen, meine Kräfte reichen nicht aus! Ich wollte dort eine Hymne singen, und da kann ich nun nicht einmal das Du der Wärter verwinden! Für Gruscha würde ich alles ertragen, alles ... übrigens ausgenommen Schläge ... Aber man wird sie ja dort nicht zu mir lassen ...“

Aljoscha lächelte still.

„Hör’ mich, Bruder, ein für allemal,“ sagte er, „ich will dir einmal alle meine Gedanken über deine Flucht sagen. Du weißt, daß ich dir nichts vorlügen werde. Also höre: Du bist nicht bereit für Sibirien, und dieses Kreuz ist auch nicht für dich geschaffen. Und ich werde dir noch etwas sagen: Solch einer wie du, der nicht bereit ist, soll auch lieber gar nicht ein solches Märtyrerkreuz auf sich nehmen. Wenn du den Vater erschlagen hättest, so würde es mir leid tun, daß du dein Kreuz nicht tragen willst. Aber du bist unschuldig, und so wäre ein solches Kreuz gar zu viel für dich. Du wolltest durch die Qual den neuen Menschen in dir auferstehen machen; ich aber glaube, wenn du nur fortwährend, dein ganzes Leben lang, wohin du auch entfliehen, oder wo du hernach leben solltest – wenn du dein ganzes Leben lang an diesen anderen Menschen in dir denkst: so wird auch das für dich genügen. Wenn du diese letzten und äußersten Qualen nicht auf dich nimmst, so wird dies nur dazu dienen, daß du das Bewußtsein einer noch größeren Schuld mit dir nimmst, und dieses Schuldbewußtsein, das nie ganz endet und dich stets geleitet, wird dir fernerhin zu deiner Wiedergeburt verhelfen, und vielleicht noch eher, als wenn du wirklich nach Sibirien gingest. Denn dort würdest du das Leben nicht ertragen und würdest nur wider Gott murren und vielleicht zu guter Letzt doch noch sagen: ‚Ich habe abgerechnet‘. Der Advokat hat darin ganz recht gehabt. Nicht alle können so große Bürden tragen. Für viele sind sie ganz unerträglich. Da habe ich dir nun meine Gedanken gesagt. Vielleicht ist es wichtig für dich, zu wissen, wie ich darüber denke. Wenn für deine Flucht andere die Verantwortung tragen müßten, Offiziere, Soldaten, so würde ich dir ‚nicht erlauben‘, zu entfliehen,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Aber man sagt und versichert sogar – der Etappenkommandant hat es Iwan ausdrücklich gesagt – daß, wenn man die Sache zu machen verstehe, auf niemanden besondere Verantwortung falle: man könne sich mit Leichtigkeit losmachen. Zwar ist das Bestechen auch in diesem Falle nicht in der Ordnung. Doch will ich darüber nicht richten oder auch nur urteilen – schon deshalb nicht, weil ich selbst, wenn Iwan und Katjä mich beauftragten, alles Nötige für deine Flucht zu tun, ohne weiteres die Bestechung auf mich nehmen würde. Das muß ich dir der Wahrheit gemäß gestehen. Wie gesagt, schon deshalb kann ich hier kein Richter sein, was du auch tun mögest. Ich will dir nur sagen, damit du dies ein für allemal weißt, daß ich dich nie verurteilen werde. Und sag doch selbst, wie könnte ich in diesem Falle wohl dein Richter sein? So, jetzt habe ich, glaub ich, alles gesagt.“

„Dafür aber verurteile ich mich selbst!“ sagte Mitjä erregt. „Ich werde natürlich entfliehen, unbedingt, das war auch ohne dich schon eine beschlossene Sache. Wie kann denn Mitjä Karamasoff nicht entfliehen? Trotzdem verurteile ich mich selbst dafür, und ich werde dort ewig zu Gott beten, er möge mir meine Sünden vergeben! So sprechen sonst wohl Jesuiten, nicht wahr? ... Sieh mal an, wie weit wir beide gekommen sind, was?“

„Ja, so reden Jesuiten,“ sagte Aljoscha lächelnd.

„Darum liebe ich dich auch so, Alexei, weil du immer die ganze Wahrheit sagst und nichts verheimlichst!“ rief Mitjä froh aus. „Sieh mal, jetzt habe ich meinen Aljoschka auf dem Jesuitenwege ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, aber kräftig, weißt du das, Junge? Nun, so höre denn auch das übrige. Ich will dir auch die andere Hälfte meiner Seele aufdecken. Höre jetzt, was ich mir ausgedacht habe, und worüber ich mir klar geworden bin: Wenn ich nun entfliehe, mit Geld und einem Paß versehen, und, sagen wir, meinetwegen sogar nach Amerika, so ermutigt und beruhigt mich doch nur der Gedanke, daß ich nicht in die Freude, nicht in das Glück entfliehe, sondern in Wahrheit zu einer anderen Zwangsarbeit, in eine andere Verbannung, die vielleicht nicht leichter sein wird als die in Sibirien! Nein, nicht leichter, Alexei, das kannst du mir glauben, sie wird mir wahrlich nicht leichter sein! Der Teufel hole dieses Amerika, ich hasse es schon jetzt. Ich weiß, Gruscha wird dort bei mir sein, aber sieh sie doch nur einmal an: ist sie denn etwa eine Amerikanerin? Russin ist sie, bis zur letzten Nervenspitze Russin! Sie wird sich nach der Mutter, nach ihrer Heimaterde zurücksehnen, und ich werde in jeder Stunde, in jeder Minute zusehen müssen, wie sie sich meinetwegen sehnt und grämt, wie sie für mich das Kreuz trägt! Wodurch hat sie das verdient? Was hat sie verbrochen? Und wie werde denn ich dort, im amerikanischen Leben, diese leibeigene Knechtschaft ertragen, wenn die Menschen auch tausendmal besser sind als ich? Ich hasse dieses Amerika schon jetzt! Und wenn sie auch alle bis auf den letzten weiß Gott was für spitzfindige Maschinisten sind, oder sonst was – der Teufel hole sie samt und sonders, meine Leute sind es nicht, sie haben doch eine andere Seele! Ich liebe Rußland, Alexei, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selbst ein Schuft bin! Dort werde ich ja umkommen!“ rief er aus, und seine Augen blitzten, während seine Stimme von verhaltenen Tränen bebte.

„Nun, jetzt höre, Alexei, wie ich bei mir beschlossen habe!“ begann er wieder, indem er seine Erregung niederrang. „Sobald wir beide dort angekommen sind, Gruscha und ich, fangen wir sofort an zu pflügen, zu arbeiten, mit wilden Bären, in der Einsamkeit, irgendwo abseits. Man wird doch auch bei ihnen einen Ort finden können, denke ich, der etwas weiter abliegt! Dort soll es ja auch noch Rothäute geben, sagt man, dort irgendwo bei ihnen ganz am Rande des Horizonts. Nun also, und zu denen werden wir dann hinziehen, zu den letzten Mohikanern. Und da machen wir uns denn sofort an die Grammatik, Gruscha und ich. Arbeit und Grammatik, und das so, sagen wir, drei Jahre lang. Und nach diesen drei Jahren werden wir besser Englisch sprechen als die echtesten eingeborenen Amerikaner. Und sobald wir die Sprache intus haben – dann ade Amerika! Wir kommen unverzüglich wieder her, nach Rußland, und zwar als amerikanische Bürger. Aber hab keine Angst, hierher in diese Stadt kommen wir natürlich nicht. Wir werden uns irgendwo weit, weit von hier verbergen, hoch oben im Norden oder vielleicht auch im Süden. Bis dahin werde ich mich schon genügend verändert haben, sie gleichfalls. Dort in Amerika kann mir ein Doktor noch irgend so eine Warze künstlich anbringen – wozu sind sie denn Mechaniker? Und kann er’s nicht, so steche ich mir ein Auge aus, lasse mir den Bart meterlang wachsen, einen grauen, versteht sich – vor Heimweh nach Rußland werde ich ja bald ergrauen. Sicherlich wird man mich dann nicht wiedererkennen, was meinst du? Wenn man mich aber erkennen und von neuem verschicken sollte, dann meinetwegen, dann will es das Schicksal so! Hier jedoch werden wir genau so wie in Amerika irgendwo in der Einöde Ackerbau treiben, und ich werde bis zum Schluß den Vollblutamerikaner spielen. Dafür werden wir dann im Vaterlande sterben können! Sieh, das ist mein Plan, und der ist unwandelbar. Billigst du ihn?“

„Ja, ich billige ihn,“ sagte Aljoscha, da er ihm nicht widersprechen wollte.

Mitjä schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich:

„Aber wie geschickt sie das bei der Verhandlung gedreht haben! Weiß der Teufel!“

„Und wenn sie es auch nicht entstellt hätten, du wärst doch verurteilt worden,“ sagte Aljoscha mit einem Seufzer.

„Ja, das hiesige Publikum war meiner – na, sagen wir, gar zu überdrüssig geworden. Nun, Gott mit ihnen! Aber es ist doch schwer!“ Mitjä stöhnte gequält.

Sie schwiegen wieder eine Weile.

„Aljoscha, töte mich sofort!“ rief er plötzlich leidenschaftlich aus. „Wird sie bald kommen oder überhaupt nicht – sprich! Was hat sie gesagt? Wie hat sie es gesagt?“

„Sie hat gesagt, daß sie kommen werde, nur weiß ich nicht, ob es gerade heute sein wird. Auch ihr fällt es doch schwer!“ Aljoscha blickte besorgt den Bruder an.

„Das weiß ich, das weiß ich, wie soll es ihr denn nicht schwer fallen! Ich verliere darüber den Verstand. Gruschenka sieht mich immer so an ... Sie begreift ... Gott, Herr, gib du mir Frieden! Nach wem verlange ich? Ach, nach Katjä verlangt mich! Weiß ich, nach wem mich eigentlich verlangt? Karamasoffsche Zügellosigkeit – nichts anderes! Nein, ich bin unfähig zum Leiden! Ein Schuft bin ich, und damit ist alles gesagt!“

„Da ist sie!“ rief Aljoscha aus.

In diesem Augenblick war Katjä auf der Türschwelle erschienen. Sie stand und rührte sich nicht, während ihr Blick wie verloren auf Mitjä lag. Der sprang sofort auf: man konnte ihm seinen Schreck ansehen – er wurde ganz bleich. Sofort aber erzitterte ein schüchternes, bittendes Lächeln auf seinen Lippen, und plötzlich konnte er nicht anders – er streckte ihr seine beiden Hände entgegen. Als sie das sah, stürzte sie ungestüm auf ihn zu. Sie ergriff seine Hände und setzte ihn fast mit Gewalt aufs Bett, indem sie sich selbst neben ihm niederließ; sie hielt immer noch seine Hände fest und drückte sie wie im Krampf. Zwei-, dreimal wollten sie beide etwas sagen, doch hielten sie wieder inne, und ihre Blicke hingen aneinander, schweigend, verzehrend, während auf ihren Lippen ein sonderbares Lächeln lag.

„Hast du mir verziehen, oder kannst du’s nicht?“ brachte Mitjä schließlich stockend hervor. Darauf wandte er sich zu Aljoscha und rief ihm mit freudeentstelltem Gesicht zu:

„Hörst du, was ich sie frage, hörst du!“

„Darum habe ich dich ja so geliebt, weil du von Herzen edelmütig bist!“ entfuhr es Katjä fast unfreiwillig. „Aber du bedarfst ja gar nicht meiner Verzeihung und ich auch nicht der deinigen. Ob du verzeihst oder nicht – du wirst doch mein Leben lang als offene Wunde in meinem Herzen zurückbleiben, und ich ebenso in deinem – und so muß es auch sein ...“

Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen.

„Wozu bin ich hergekommen?“ begann sie von neuem, sich überstürzend, als hätte sie die Besinnung verloren. „Um deine Füße zu umfassen, deine Hände zu drücken, sieh so, bis zum Schmerz, wie ich sie dir in Moskau gedrückt habe, weißt du noch? – um dir wieder zu sagen, daß du mein Gott bist, meine Freude, um dir zu sagen, daß ich dich unsinnig liebe!“ kam es halblaut wie unter Qualen über ihre bebenden Lippen. Und plötzlich beugte sie sich vor und küßte gierig seine Hand. Tränen stürzten aus ihren Augen.

Aljoscha stand ganz verwirrt da und sagte kein Wort. Alles hätte er eher erwartet, als das, was er jetzt sah.

„Die Liebe ist vergangen, Mitjä!“ fuhr Katjä fort, „aber teuer bis zum Schmerz ist mir das, was vergangen ist. Das sage ich dir jetzt, damit du es weißt und ewig behältst. Jetzt aber, in diesem Augenblick, mag es nur einmal sein, wie’s hätte sein können,“ sagte sie mit einem traurigen Lächeln, indem sie ihm zugleich fast freudig in die Augen blickte. „Du liebst jetzt eine andere, und auch ich liebe einen anderen, und doch werde ich dich ewig lieben, und du ebenso mich – wußtest du das schon? Hörst du, liebe mich, liebe mich dein ganzes Leben lang!“ sagte sie laut, und in ihrer Stimme lag ein drohendes Zittern.

„Ich werde dich lieben und ... weißt du, Katjä,“ – Mitjä holte nach jedem Wort tief Atem – „weißt du, vor fünf Tagen, an jenem Abend, da liebte ich dich ... Als du hinfielst und man dich forttrug, da liebte ich dich ... Mein ganzes Leben lang werde ich dich lieben! Ja, so wird es sein, so wird es ewig sein ...“

In der Weise sprachen sie miteinander: sinnlos, wie im Rausch – vielleicht sagten sie sich sogar Unwahres, aber in diesem Augenblick war alles wahr für sie, und sie glaubten selbst unverbrüchlich an ihre Worte.

„Katjä,“ rief plötzlich Mitjä, „glaubst du, daß ich ihn erschlagen habe? Ich weiß, daß du jetzt nicht daran glaubst, aber damals ... als du aussagtest ... Glaubtest du, sag, glaubtest du es damals wirklich?“

„Auch damals glaubte ich es nicht! Niemals habe ich es geglaubt! Ich haßte dich nur, und da redete ich es mir ein, gerade für diesen einen Augenblick ... Als ich die Aussage machte, redete ich es mir ein, und da glaubte ich denn ... Aber kaum daß ich meine Aussage beendet hatte, hörte ich sofort auf, zu glauben ... Das sollst du wissen! ... Ich vergaß, daß ich gekommen war, um mich zu demütigen!“ fügte sie plötzlich mit einem ganz anderen Ausdruck hinzu, der nichts mehr mit dem soeben gemachten Liebesgeständnis gemein hatte.

„Schwer hast du es, Weib!“ entfuhr es Mitjä fast unbewußt in seinem Mitleid.

„Laß mich,“ murmelte sie, „ich werde wiederkommen, jetzt ist es zu schwer! ...“

Sie erhob sich von ihrem Platze – da aber stieß sie einen Schrei aus und wankte zurück: – ins Zimmer trat ganz unvermutet mit ihrem leisen Gang Gruschenka. Niemand hatte sie erwartet. Katjä wandte sich sofort eilig zur Tür – als sie aber an Gruschenka vorübergehen wollte, blieb sie jäh stehen, erbleichte unheimlich und sagte leise, kaum hörbar, mit angehaltenem Atem:

„Vergeben Sie mir!“

Die andere blickte sie eine Zeitlang unbeweglich an und antwortete erst nach einer Weile mit haßerfüllter, mit einer wie von Haß gleichsam durchgifteten Stimme:

„Schlecht sind wir beide! Beide sind wir schlecht! Wie könnten wir vergeben, du sowohl wie ich? Rette ihn, und ich werde mein Leben lang für dich beten.“

„Wie, und vergeben willst du ihr nicht?“ rief Mitjä Gruschenka in bitterem Vorwurf fast außer sich zu.

„Sei ruhig, ich werde ihn dir retten!“ flüsterte ihr Katjä halblaut zu und eilte aus dem Zimmer.

„Und du konntest ihr nicht vergeben, nachdem sie selbst zu dir gesagt hatte: ‚vergib‘?“ rief Mitjä vorwurfsvoll aus.

„Mitjä, wage es nicht, ihr Vorwürfe zu machen! Dazu hast du kein Recht!“ rief Aljoscha heftig seinem Bruder zu.

„Ihre stolzen Lippen haben es gesagt, nicht ihr Herz,“ sagte Gruschenka wie mit einem Ekel. „Rettet sie dich, so werde ich ihr alles verzeihen ...“

Sie verstummte, als hätte sie in ihrer Seele etwas niederzuringen.

Sie konnte noch nicht recht zur Besinnung kommen. Wie sich später herausstellte, war sie ganz zufällig eingetreten; sie hatte nicht geahnt, daß sie hier irgendeinen fremden Menschen antreffen werde.

„Aljoscha, lauf ihr sofort nach!“ wandte sich Mitjä ungestüm an den Bruder. „Sag’ ihr ... ich weiß nicht was ... nur laß sie nicht so fortgehen!“

„Ich werde noch vor dem Abend zu dir kommen!“ rief Aljoscha ihm schnell zu und lief dann Katjä nach.

Er holte sie erst auf der Straße ein, als sie den Hospitalgarten bereits verließ. Sie ging sehr schnell, lief fast, beeilte sich sichtlich. Kaum aber hatte Aljoscha sie eingeholt, als sie sich sofort zu ihm wandte und hastig hervorstieß:

„Nein, vor der kann ich mich nicht demütigen! Ich habe sie um Verzeihung gebeten, weil ich mich bis zum äußersten demütigen wollte. Sie hat mir nicht verziehen ... Und ich – liebe sie dafür!“ fügte Katjä mit entstellter Stimme hinzu, und ihre Augen blitzten in wildem Haß.

„Mein Bruder glaubte, daß sie heute erst am Abend kommen würde, er hat sie durchaus nicht erwartet,“ brachte Aljoscha verwirrt hervor, „er war sogar überzeugt, daß sie nicht kommen würde ...“

„Zweifellos war er überzeugt davon. Aber lassen wir das,“ sagte sie kurz abbrechend. „Hören Sie mich an: Ich kann jetzt nicht mit Ihnen dorthin zur Beerdigung gehen. Ich habe Blumen für den kleinen Sarg hingeschickt. Geld haben sie noch, glaube ich. Sobald sie welches brauchen, werde ich wieder schicken. Sagen Sie ihnen, daß ich sie in Zukunft nie vergessen werde, sie können auf meine Hilfe rechnen. Jetzt aber verlassen Sie mich, verlassen Sie mich, ich bitte Sie darum. Sie werden sich verspäten, es wird schon zur Messe geläutet ... Verlassen Sie mich, ich bitte Sie darum!“

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