Er verspätete sich in der Tat. Man hatte schon lange auf ihn gewartet und sich fast schon entschlossen, den kleinen, mit Blumen bedeckten Sarg ohne ihn in die Kirche zu tragen. Es war der Sarg Iljuschetschkas, des armen kleinen Knaben. Er war am zweiten Tage nach der Verurteilung Mitjäs gestorben. Schon an der Hofpforte wurde Aljoscha von den Knaben, Iljuschas Kameraden, empfangen. Sie hatten ihn mit Ungeduld erwartet, und sie freuten sich, daß er jetzt endlich kam. Es hatten sich ihrer zwölf versammelt, und alle waren sie mit ihren Ränzlein und Büchertaschen auf der Schulter gekommen. „Papa wird weinen, verlaßt nicht Papa!“ hatte ihnen Iljuschetschka sterbend gesagt, und die Knaben erfüllten gern seine Bitte. Ihr Anführer war natürlich Koljä Krassotkin.
„Wie es mich freut, daß Sie gekommen sind, Karamasoff!“ rief er aus und streckte Aljoscha die Hand entgegen. „Hier ist es einfach furchtbar! Wirklich, es wird einem schwer, das mit anzusehen. Ssnegireff ist nicht betrunken, wir wissen es ganz genau, daß er heute nichts getrunken hat, aber trotzdem ist er wie betrunken ... Ich kann schon etwas aushalten, aber das ist doch zu entsetzlich! Karamasoff – wenn ich Sie nicht aufhalte – erlauben Sie mir noch eine Frage, bevor Sie hineingehen?“
„Was ist es denn, Koljä?“ fragte Aljoscha und blieb stehen.
„Ist Ihr Bruder schuldig, oder ist er unschuldig? Hat er den Vater erschlagen, oder hat es der Diener getan? Was Sie sagen, daran werde ich glauben. Ich habe vier Nächte wegen dieser Frage nicht schlafen können.“
„Der Diener hat ihn erschlagen, mein Bruder aber ist unschuldig,“ antwortete Aljoscha.
„Und ich habe das auch gesagt!“ rief plötzlich der kleine Ssmuroff dazwischen.
„So muß er denn als unschuldiges Opfer zugrunde gehen?“ fragte Koljä erregt. „Aber wenn er auch zugrunde geht, so ist er doch glücklich! Ich könnte ihn beneiden!“
„Was sagen Sie, wie können Sie so etwas aussprechen, und warum reden Sie so?“ fragte Aljoscha verwundert.
„Oh, wenn doch auch ich mich einmal für die Wahrheit opfern könnte,“ sagte Koljä enthusiastisch.
„Aber doch nicht in einer solchen Sache, doch nicht so schandbeladen, doch nicht so grauenvoll!“ rief Aljoscha aus.
„Freilich ... ich möchte für die ganze Menschheit sterben können. Was jedoch die Schande anbelangt, so ist mir alles gleich: Mögen unsere Namen vergehen! Ich verehre Ihren Bruder!“
„Und ich auch!“ rief plötzlich und ganz unerwartet aus der Bande derselbe Knabe, der einmal erklärt hatte, er wisse, wer Troja erbaut habe, und auch diesmal wurde er, genau so wie damals, bis über die Ohren rot. Aljoscha trat ins Zimmer. In einem hellblauen, mit weißen Rüschen geschmückten Sarge lag, die Hände gefaltet und die Augen geschlossen, Iljuscha. Die Züge seines abgemagerten Gesichtchens hatten sich gar nicht verändert und, sonderbar – die Leiche verbreitete fast gar keinen Verwesungsgeruch. Der Ausdruck seines Gesichtchens war ernst und nachdenklich. Besonders schön waren die Hände, die auf der Brust gekreuzt lagen. Wie aus Marmor gemeißelt sahen sie aus. Unter die Hände hatte man Blumen gelegt, und der ganze Sarg war von innen und von außen mit Blumen geschmückt, die Lisa Chochlakoff schon am frühen Morgen geschickt hatte. Auch von Katerina Iwanowna waren Blumen geschickt worden, und als Aljoscha die Tür aufmachte, da bedeckte der Hauptmann mit zitternden Händen gerade von neuem seinen geliebten Jungen mit Blumen. Er beachtete kaum den Eintretenden, er schien überhaupt niemanden beachten zu wollen; nicht einmal sein „Mamachen“, seine schwachsinnige weinende Frau, die immer wieder versuchte, sich auf ihren kranken Füßen aufzurichten, um ihren toten Knaben besser sehen zu können. Ninotschka wurde von den Knaben mit ihrem Stuhl aufgehoben und näher an den Sarg gerückt. Dort saß sie dann, preßte ihren Kopf an den Sarg und weinte still. Das Gesicht Ssnegireffs war sehr belebt, zu gleicher Zeit aber wie zerstreut und wie verbittert. In seinen Gesten und Worten war etwas geradezu Halbverrücktes. „Väterchen, liebes Väterchen!“ murmelte er immer wieder, auf Iljuscha starrend. Als Iljuscha noch lebte, hatte er die Gewohnheit gehabt, wenn er zu ihm liebkosend sprach, „Väterchen, liebes Väterchen!“ zu sagen.
„Papachen, gib auch mir Blumen, nimm aus seinen Händchen dort diese weiße und gib sie mir!“ bat schluchzend das schwachsinnige „Mamachen“. Gefiel ihr nun die kleine weiße Rose so sehr, die in Iljuschas Händen lag, oder wollte sie die Rose aus seinem Sarge zum Andenken aufbewahren, jedenfalls fuhr sie mit den Händen hin und her und streckte sie immer wieder wie suchend nach der Blume aus.
„Niemandem gebe ich etwas, nichts gebe ich!“ rief hartherzig Ssnegireff. „Das sind seine Blumen, aber nicht deine. Alles gehört ihm, du bekommst nichts.“
„Papa, geben Sie Mama die Blume!“ bat Ninotschka, indem sie plötzlich ihr tränenüberströmtes Gesicht erhob.
„Nichts gebe ich ihr, nichts! Sie hat ihn gar nicht geliebt. Sie hat ihm damals die kleine Kanone fortgenommen, und er hat sie ihr geschenkt,“ sagte mit schluchzender Stimme der Hauptmann, den die Erinnerung, wie Iljuschetschka seiner Mama die Kanone abgetreten hatte, überwältigte. Die arme Irrsinnige weinte leise und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht. Als die Knaben schließlich einsahen, daß der Vater den Sarg nicht forttragen lassen werde, während es doch schon die höchste Zeit war, aufzubrechen, drängten sie sich in dichtem Haufen an den Sarg heran und schickten sich an, ihn aufzuheben.
„Ich will ihn nicht auf dem Friedhof beerdigt haben!“ fuhr Ssnegireff sofort heftig auf, „beim Stein will ich ihn beerdigen, bei unserem großen Stein! So hat es Iljuscha gewollt! Ich lasse ihn nicht forttragen!“
Er hatte auch schon früher, die ganzen drei Tage, davon gesprochen, daß er ihn beim „großen Stein“ beerdigen wolle: doch Aljoscha, Krassotkin, die Hauswirtin, deren Schwester und alle Knaben waren dagegen gewesen.
„Sieh einer, was er sich ausgedacht hat, ihn beim Stein wie einen Heiden zu beerdigen, ganz als wäre er ein Selbstmörder!“ sagte streng die alte Wirtin. „Die Friedhoferde ist geweiht. Dort wird man für ihn beten. Aus der Kirche hört man den Gesang, und der Diakon liest so laut und verständlich, daß jedes Wort bis zu seinem Grabe zu hören sein wird, ganz als ob er es an seinem Grabe lesen würde.“
Der Hauptmann winkte schließlich mit der Hand ab. Das hieß soviel wie: „Bringt ihn wohin ihr wollt!“ Die Kinder hoben den Sarg auf. Als sie an der Mutter vorüberkamen, senkten sie ihn ein wenig, damit sie von Iljuscha Abschied nehmen könne. Als sie aber das liebe Gesichtchen, auf das sie in diesen drei Tagen immer nur von weitem hinübergeblickt hatte, jetzt so nah vor sich erblickte, erzitterte sie am ganzen Körper und begann über dem Sarge hysterisch mit ihrem grauen Kopfe hin und her zu zucken.
„Mama, bekreuze ihn, segne ihn, küsse ihn!“ rief ihr Ninotschka weinend zu. Die Mama aber zuckte nur immer mit ihrem Kopf, sprachlos wie ein Automat, während ihr Gesicht von heißem Kummer verzerrt wurde, und plötzlich fing sie an, sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. Man trug den Sarg weiter. Ninotschka drückte zum letztenmal ihre Lippen auf die Lippen ihres verstorbenen Bruders, als man ihn an ihr vorübertrug. Aljoscha wandte sich, als er aus dem Hause trat, an die Hauswirtin mit der Bitte, nach den Zurückgebliebenen zu sehen – die aber ließ ihn kaum aussprechen: „Wir wissen schon, werden bei ihnen bleiben, sind doch auch Christen!“ sagte die Alte und weinte dazu.
Bis zur Kirche war es nicht weit, im ganzen vielleicht dreihundert Schritt, nicht mehr. Der Tag war klar und still, es fror nur wenig. Die Meßglocke wurde noch geläutet. Zerstreut und geschäftig lief Ssnegireff in seinem alten, kurzen Sommermäntelchen hinter dem Sarge her, mit entblößtem Kopf, den alten Schlapphut in der Hand. Er war von einer gedankenlosen Geschäftigkeit: Plötzlich streckte er die Hand aus, um den Sarg am Kopfende zu stützen, und störte dadurch nur die Tragenden, dann lief er wieder an die Seite und versuchte dort behilflich zu sein; fiel eine Blume auf den Schnee, so stürzte er sich auf sie, um sie aufzuheben, ganz als ob von dem Verlust dieser Blume weiß Gott was abhing.
„Aber die Brotrinde, die Brotrinde haben wir vergessen!“ rief er plötzlich außer sich vor Schreck. Die Knaben erinnerten ihn daran, daß er die Brotrinde in seine Tasche gesteckt hatte. Er riß sie sofort aus der Tasche hervor, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sie da war, beruhigte er sich.
„Iljuschetschka hat befohlen, Iljuschetschka,“ erklärte er sofort Aljoscha, „er lag wach in der Nacht, ich saß bei ihm, und plötzlich sagte er zu mir: ‚Papachen, wenn man mein Grab zugeschüttet hat, so wirf Brotkrümchen darauf, damit die kleinen Sperlinge herbeifliegen, ich werde dann hören, wie sie herbeigeflogen kommen, und werde froh sein, daß ich nicht ganz allein liege.‘“
„Das ist gut,“ sagte Aljoscha, „man muß des öfteren Brotkrümel hinstreuen.“
„Jeden Tag, jeden Tag!“ stotterte der Hauptmann wie neu belebt.
Endlich kam man in der Kirche an, und der Sarg wurde inmitten der Vierung hingestellt. Die Knaben blieben um ihn herum stehen, und so standen sie, tief ernst, während des ganzen Gottesdienstes. Es war eine alte ärmliche Kirche. Die Heiligenbilder waren ohne Silberschmuck. Aber ich glaube, in solchen Kirchen kann man besser beten. Nach der Messe schien Ssnegireff sich etwas zu beruhigen, obgleich ihn auch jetzt noch von Zeit zu Zeit wieder eine unbewußte, gedankenlose Geschäftigkeit erfaßte: Bald trat er an den Sarg, um das Leichentuch oder das Stirnband in Ordnung zu bringen, bald wieder, wenn ein Licht herunterfiel, lief er hin, um es aufzustellen, und machte sich schrecklich lange damit zu schaffen. Plötzlich beruhigte er sich wieder und stand unbeweglich mit stumpfsinnig-besorgtem und verständnislosem Gesichtsausdruck da. Als die Apostelgeschichte verlesen wurde, flüsterte er plötzlich Aljoscha ins Ohr, daß sie „nicht so“ verlesen werden müßte, sprach indessen seine Gedanken darüber nicht aus. Nach dem Cherubliede schickte er sich an, mitzusingen, brach aber sogleich wieder ab und warf sich auf die Knie, beugte seine Stirn auf den steinernen Fußboden der Kirche und verharrte eine geraume Zeit in dieser Stellung. Endlich schritt man zum Totenamt, und die Lichter wurden verteilt. Wieder schien der unsinnige Alte geschäftig werden zu wollen, doch der erschütternde Grabgesang machte einen unheimlichen Eindruck auf seine Seele. Er schien plötzlich in sich zusammenzusinken: Er schluchzte auf, zuerst nur stoßweise mit unterdrückter Stimme, schließlich aber weinte er laut. Als man sich von dem Toten zu verabschieden begann und sich anschickte, den Sarg zu schließen, umfing er ihn mit beiden Armen, als wolle er Iljuschetschka vor etwas beschützen, und immer wieder küßte er seinen toten Knaben auf den Mund. Man beredete ihn, und es gelang ihnen fast schon, den Vater vom Sarge loszureißen, als er plötzlich seinen Arm ausstreckte und von dem Sarge noch einige Blumen raffte. Darauf stierte er sie an, und eine neue Idee schien ihn zu ergreifen, so daß er auf einen Augenblick alles andere vergaß. Er verfiel immer mehr in Nachdenken und hatte dann auch nichts weiter dagegen einzuwenden, als der Sarg aufgehoben wurde, um zum Grabe getragen zu werden. Es war ein teures Grab, ganz nahe bei der Kirche gelegen: Katerina Iwanowna hatte es bezahlt. Nach der üblichen Zeremonie senkten die Totengräber den Sarg in die Gruft hinab. Ssnegireff beugte sich mit seinen Blumen in den Händen über dem offenen Grabe so weit vor, daß sich die Knaben erschrocken an seinen Mantel hängten und ihn zurückzogen. Er aber schien nicht mehr zu verstehen, was vor sich ging. Als man das Grab zuschüttete, wies er geschäftig auf die hinabstürzende Erde, und begann sogar zu reden, doch war unmöglich zu verstehen, was er sagte, und er verstummte dann auch bald von selbst. Man erinnerte ihn daran, nunmehr die Brotkrumen auszustreuen, und er begann denn auch sofort und in großer Aufregung ganze Stücke auf das Grab zu werfen. „Vögelchen, fliegt herbei, hier, Sperlinge fliegt herbei!“ murmelte er geschäftig. Einer der Knaben machte die Bemerkung, daß die Blumen, die er in den Händen hielt, ihm nur hinderlich seien, und daß er sie ihm zu halten geben solle. Er aber gab sie nicht, erschrak nur heftig, denn er glaubte und fürchtete, jemand wolle sie ihm fortnehmen. Nachdem er sich das Grab angesehen und man ihm noch gesagt hatte, daß er jetzt alles getan, kehrte er sich ganz unerwartet und beruhigt um und beeilte sich, nach Haus zu kommen. Seine Schritte wurden bald so eilig, daß er fast schon lief. Die Knaben und Aljoscha folgten ihm. „Für Mamachen die Blumen, für Mamachen die Blumen! Man hat Mamachen gekränkt,“ murmelte er vor sich hin. Einer der Knaben rief ihm zu, er möge doch seinen Hut aufsetzen, es sei doch kalt. Sowie er das aber hörte, warf er den Hut zornig auf den Schnee und sagte immer wieder vor sich hin: „Ich will keinen Hut, ich will keinen Hut!“ Der kleine Ssmuroff hob ihn auf und trug ihn hinter ihm her. Alle Knaben weinten, am heftigsten von allen Koljä und der Knabe, der Troja entdeckt hatte, und wenn auch Ssmuroff mit dem Hut des Hauptmanns in der Hand herzbrechend schluchzte, so fand er doch Zeit, ein Ziegelstückchen, das sich rot vom Schnee abhob, aufzuheben und nach einem schnell vorüberziehenden Flug Spatzen zu werfen ... Natürlich traf er nicht, und so lief er weinend weiter. Ssnegireff jedoch blieb plötzlich mitten auf dem Wege stehen, stand einen Augenblick, als wäre er über etwas sehr betroffen, kehrte dann um und lief zur Kirche zurück, zum Grabe. Die Knaben holten ihn aber bald ein und klammerten sich von allen Seiten an ihn. Kraftlos und wie verwundet fiel er in den Schnee, schlug um sich, schluchzte und schrie: „Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen!“ Aljoscha und Koljä hoben ihn auf und sprachen auf ihn ein, indem sie ihn zu beruhigen suchten.
„Herr Hauptmann, genug der Verzweiflung, ein tapferer Mensch ist verpflichtet, alles männlich zu ertragen,“ meinte Koljä etwas unwirsch.
„Sie werden die Blumen zerdrücken,“ sagte Aljoscha, „und Mamachen wartet auf sie, sie sitzt dort und weint, weil Sie ihr Iljuschetschkas Blumen nicht gegeben haben. Dort steht auch noch sein Bett ...“
„Ja, ja, zu Mamachen!“ Ssnegireff besann sich sofort, „man wird das Bettchen fortbringen, fortbringen!“ fügte er ganz erschrocken hinzu, als ob man wirklich schon das Bettchen fortgebracht haben könnte. Und er sprang auf und lief wieder weiter, nach Hause.
Es war nicht mehr weit bis dahin, und so liefen sie alle mit. Ssnegireff riß eilig die Tür auf und stürzte zu seiner Frau, zu der er kurz vorher noch so hartherzig gewesen war:
„Liebes Mamachen, Iljuschetschka schickt dir die Blumen, kranke Füße hast du doch!“ rief er ihr schon von der Tür aus zu und schenkte ihr die vom Frost zerstörten und verwelkten Blumen.
In demselben Augenblick erblickte er aber in der Ecke vor Iljuschetschkas Bettchen dessen Stiefel, beide nebeneinander, wie sie soeben von der Hauswirtin beim Aufräumen aufgestellt worden waren; es waren alte, rötlich gewordene, ganz abgetragene und geflickte Stiefelchen. Als er sie bemerkte, erhob er die Hände, stürzte auf sie zu, fiel vor ihnen auf die Knie nieder, ergriff einen Stiefel und preßte ihn an seine Lippen und küßte, küßte ihn gierig:
„Väterchen Iljuschetschka, liebes Väterchen, wo sind deine Füßchen, wo?“
„Wohin hast du ihn gebracht? Wohin hast du ihn gebracht?“ heulte nun auch die Irrsinnige mit herzzerreißender Stimme.
Da brach auch Ninotschka in Tränen aus. Koljä lief aus dem Zimmer, ihm folgten die anderen Knaben. Auch Aljoscha ging hinaus und folgte ihnen.
„Mögen sie sich ausweinen,“ sagte er zu Koljä, „da kann man nicht mehr trösten. Warten wir ein wenig und gehen wir dann wieder hinein.“
„Ja, man kann nicht mehr ... es ist schrecklich!“ bestätigte Koljä. „Wissen Sie, Karamasoff,“ er senkte ein wenig seine Stimme, damit ihn niemand höre, „mir ist sehr traurig zumute, wenn ich wüßte, daß man ihn auferwecken könnte, dann würde ich alles auf der Welt hingeben!“
„Ach, auch ich würde es!“ sagte Aljoscha.
„Was meinen Sie, Karamasoff, sollen wir nicht heute abend wieder herkommen? Sonst wird er sich ja betrinken.“
„Sehr möglich, daß er sich betrinken wird. Aber wir wollen beide allein kommen, um mit ihnen, mit der Mutter und Ninotschka, zusammen ein Stündchen zu sitzen, denn wenn wir wieder alle auf einmal kämen, so würden sie nur an die Beerdigung erinnert werden,“ sagte Aljoscha.
„Bei ihnen deckt jetzt die Wirtin den Tisch, wahrscheinlich zum Totenmahl, der Pope wird wohl bald kommen ... Sollen wir gleich wieder zurückgehen, Karamasoff, oder nicht?“
„Durchaus,“ antwortete Aljoscha.
„Wie das sonderbar ist, Karamasoff, ein solcher Kummer und dann plötzlich Pfannkuchen, wie unnatürlich und wie sonderbar das in unserer Religion ist.“
„Sie werden auch Lachs essen,“ bemerkte plötzlich der Knabe, der Troja entdeckt hatte.
„Ich bitte Sie im Ernst, Kartascheff, sich nicht immer mit Ihren dummen Reden einzumischen, besonders wenn man gar nicht mit Ihnen spricht und überhaupt nicht wissen will, ob Sie auf der Welt sind oder nicht,“ fiel ihm Koljä gereizt ins Wort.
Der Knabe errötete wieder bis über die Ohren, doch zu antworten wagte er nicht. Inzwischen hatten sie alle still den Fußweg eingeschlagen, und plötzlich rief Ssmuroff aus:
„Das ist der große Stein, unter dem Iljuscha beerdigt sein wollte!“
Alle blieben sie schweigend am großen Steine stehen. In Aljoscha tauchte die Erinnerung daran auf, wie Ssnegireff ihm von Iljuschetschka erzählt hatte: Wie dieser den Vater weinend umarmt und dabei ausgerufen: „Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!“ Es war ihm, als wenn in seiner Seele etwas erzitterte. Mit ernster und würdiger Miene ließ er seinen Blick über alle diese lieben, hellen Gesichter der Schuljungen und Kameraden Iljuschetschkas gleiten, und plötzlich wandte er sich an sie:
„Meine Freunde, ich wollte euch hier, gerade an diesem Steine, ein Wort sagen.“
Die Knaben umringten ihn und sahen ihn mit erwartenden Blicken groß an.
„Meine Freunde, wir werden uns bald trennen. Ich werde nur noch eine kurze Zeit bei meinen beiden Brüdern bleiben, von denen der eine verschickt wird und der andere todkrank ist. Ich werde bald diese Stadt verlassen, und vielleicht auf sehr lange. So werden wir denn auseinandergehen, meine Freunde. Darum laßt uns hier am Steine, den Iljuscha so lieb hatte, das Versprechen ablegen – erstens Iljuscha, und zweitens uns gegenseitig nie zu vergessen. Was auch mit uns im Leben geschehen möge, und wenn wir uns auch zwanzig Jahre lang nicht sehen sollten, so wollen wir doch nicht vergessen, wie wir den armen Knaben beerdigt haben, auf den wir früher mit Steinen warfen, – erinnert ihr euch noch, bei der Brücke damals? – und wie wir ihn darauf alle so lieb gewannen. Er war ein lieber, guter und tapferer Junge. Er hielt die Ehre des Vaters hoch und litt unter der Kränkung, die dem Vater zugefügt worden war, und lehnte sich gegen sie auf. Und so wollen wir ihn, meine Freunde, unser ganzes Leben lang nicht vergessen. Und sollten wir uns auch mit den wichtigsten Dingen beschäftigen, sollten wir auch zu den höchsten Ehren gelangen oder in das größte Unglück geraten, – gleichviel, wir wollen nie vergessen, wie uns hier alle das eine Gefühl verband, das uns in der Liebe zu diesem armen Jungen besser gemacht hat, als wir es vielleicht von Natur sind. Meine Lieblinge ihr, meine Täubchen – erlaubt mir, daß ich euch so nenne, denn ihr alle scheint mir diesen hübschen schillernden Tierchen mit den munteren Äuglein so ähnlich zu sein, wenn ich eure guten, lieben Gesichtchen sehe – meine lieben Kinder, vielleicht werdet ihr nicht begreifen, was ich euch sage, denn ich rede oft sehr unverständlich, ihr werdet euch aber des Gesagten vielleicht doch einmal erinnern und meinen Worten dann beistimmen. Denn wißt, es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhause. Man wird euch vieles über eure Erziehung sagen, aber eine schöne und heilige Erinnerung, die man noch aus der Kindheit sich aufbewahrt, kann oft die allerbeste Erziehung sein. Wenn der Mensch viele solcher Erinnerungen aus seiner Jugend hat, so ist er fürs ganze Leben gerettet. Und wenn auch nur eine einzige gute Erinnerung in seinem Herzen verbleibt, so kann auch diese einmal zu seiner Rettung dienen. Vielleicht werden wir später im Leben schlecht, vielleicht werden wir nicht die Kraft haben, eine schlechte Handlung zu vermeiden, wir werden vielleicht sogar über die Tränen der Menschen lachen, über Menschen, die dasselbe sagen, was Koljä vorhin ausrief: ‚Ich möchte für alle Menschen leiden‘, – ja, auch über solche Menschen werden wir vielleicht in unserer Bosheit lachen. Aber wenn wir auch noch so schlecht werden sollten, wovor Gott uns bewahren möge, so werden wir, wenn wir uns dessen erinnern, wie wir Iljuscha beerdigt, wie wir ihn in den letzten Tagen geliebt und wie wir soeben freundschaftlich an diesem Steine gesprochen haben – so wird doch selbst der Schlechteste und Spottlustigste von uns, wenn er zu einem solchen werden sollte, immerhin nicht innerlich darüber zu lachen wagen, daß er in diesem Augenblick gut und brav gewesen ist. Und nicht nur das: vielleicht wird diese Erinnerung allein ihn zurückhalten, Böses zu tun, und er wird sich besinnen und sagen: ‚Ja, ich war damals gut, tapfer und ehrlich.‘ Möge er bei sich lächeln, das tut nichts, der Mensch lacht oft über Gutes und Edles, aber er tut es ja nur aus Leichtsinn. Und ich versichere euch, meine Freunde, in dem Augenblick, in dem er lacht, wird er sich doch innerlich sagen: ‚Nein, es ist schlecht, daß ich gelacht habe, denn darüber darf man nicht lachen!‘“
„Genau so wird es sein Karamasoff, ich verstehe Sie, Karamasoff!“ rief ihm Koljä mit blitzenden Augen zu.
Die Knaben waren furchtbar aufgeregt und wollten alle etwas sagen, doch hielten sie sich noch zurück und starrten nur mit aufmerksamen Gesichtern zu dem Redner empor.
„Das sage ich nur in der Furcht, daß wir schlecht werden könnten,“ fuhr Aljoscha fort, „aber warum sollten wir denn schlecht werden, meine Freunde? Vor allem wollen wir doch gut sein, alsdann ehrlich und dann – niemals einander vergessen. Das wiederhole ich immer wieder. Ich gebe euch mein Wort, meine Freunde, daß ich niemals auch nur einen von euch vergessen werde: Kein einziges Gesicht, das ich jetzt vor mir sehe, werde ich je vergessen, und wenn auch Jahre und Jahre darüber vergehen. Soeben sagte Koljä zu Kartascheff, er wolle nichts davon wissen, ob er auf der Welt ist oder nicht. Ja, kann ich denn vergessen, daß Kartascheff auf der Welt ist, und daß er jetzt errötet, wie damals, als er Troja entdeckte und mich mit seinen lieben, guten, fröhlichen Augen ansieht? Meine Freunde, meine lieben Freunde, seien wir alle großmütig und tapfer wie Iljuschetschka, klug, tapfer und großmütig wie Koljä, und bescheiden, klug und lieb wie Kartascheff! Doch – warum rede ich nur von diesen beiden? Alle, meine Freunde, alle seid ihr mir lieb, alle schließe ich in mein Herz ein, und ich bitte auch euch, mich in euer Herz einzuschließen! Wer aber verbindet uns alle in diesem Gefühl, an das wir von jetzt ab unser ganzes Leben lang denken werden, wer, wenn nicht Iljuschetschka, der gute, der liebe Junge! Niemals werden wir ihn vergessen, eine gute Erinnerung werden wir an ihn in unseren Herzen bewahren, von jetzt an bis in alle Ewigkeit.“
„Ja, ja, bis in alle Ewigkeit,“ riefen die Knaben mit hellen Stimmen und begeisterten Gesichtern ihm zu.
„Wir wollen sein Gesicht nicht vergessen, seine Kleider, seine alten zerrissenen Stiefelchen, sein Grab und seinen unglücklichen Vater, und daß er allein gegen die ganze Klasse für diesen Vater eingetreten ist!“
„Wir werden ihn nicht vergessen!“ riefen wieder die Knaben, „er war tapfer, und er war so gut!“
„Ach, wie habe ich ihn geliebt!“ rief Koljä aus.
„Ach, Kinder, meine lieben Freunde, fürchtet das Leben nicht! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Gerechtes tut!“
„Ja, ja!“ riefen die Knaben, ganz Feuer und Flamme.
„Karamasoff, wir lieben Sie!“ sagte eine Stimme, die, wie es schien, nicht mehr an sich halten konnte; wahrscheinlich war es der kleine Kartascheff.
„Wir lieben Sie, alle lieben wir Sie!“ riefen nun auch die anderen aus. Bei vielen blitzten Tränlein in den Augen.
„Hurra Karamasoff!“ schrie plötzlich Koljä. „Ist es wirklich wahr, was die Religion sagt, daß wir von den Toten auferstehen und uns alle wiedersehen werden, alle, auch Iljuschetschka?“
„Wir werden auferstehen, wir werden uns wiedersehen, und freudig werden wir uns gegenseitig alles erzählen, was wir erlebt haben,“ antwortete halb lächelnd, halb begeistert Aljoscha.
„Ach, wie wird das schön sein!“ entfuhr es Koljä ganz unwillkürlich.
„Jetzt aber machen wir Schluß mit dem Reden und gehen wir zu seinem Totenmahl. Laßt euch nicht dadurch verwirren, daß wir Pfannkuchen essen werden. Das ist ein uralter und geheiligter Brauch unserer Väter, und auch er hat sein Gutes,“ sagte Aljoscha lächelnd. „Und nun kommt! Seht, jetzt gehen wir alle Hand in Hand!“
„Und so laßt uns ewig gehen, das ganze Leben bis zum Grabe Hand in Hand! Hurra Karamasoff!“ rief noch einmal begeistert Koljä aus, und noch einmal stimmten alle Knaben in seinen Ruf ein.