V. „Der Großinquisitor“

„Natürlich geht es auch hier nicht ohne Vorrede ab, ich meine, ohne ein literarisches Vorwort, – hol’s der Kuckuck!“ begann Iwan lachend, „und schließlich, was bin ich denn für ein Dichter! ... Also – die Handlung spielt bei mir im sechzehnten Jahrhundert, damals aber – dir muß das übrigens schon aus der Schule bekannt sein –, damals war es allgemein gebräuchlich, die himmlischen Mächte in poetischen Darstellungen auf die Erde zu bringen. Von Dante will ich nicht weiter reden. In Frankreich waren es die Schreiber der Gerichtshöfe, die Passionsbrüderschaften und in den Klöstern die Mönche, die ganze Vorstellungen gaben, in denen auf der Szene die Madonna, Engel, Heilige, Christus und selbst Gott dargestellt wurden. Damals war das alles naiv gemeint. In Victor Hugos Notre Dame de Paris wird unter Ludwig XI., zur Feier der Geburt des Dauphins, in Paris, im Saale des Hotel de Ville, unentgeltlich dem Volke eine erbauliche Vorstellung gegeben, unter dem Titel: ‚Le bon jugement de la très sainte et gracieuse Vierge Marie‘, in der sie persönlich erscheint und ihr bon jugement verkündet. Auch bei uns in Moskau wurden früher, vor Peter, eben solche dramatische Aufführungen veranstaltet, vornehmlich nach Stoffen aus dem Alten Testament. Und so gab es denn auch damals, als diese dramatischen Aufführungen so beliebt waren, überall solche Geschichten, sogenannte ‚Poeme‘ und ‚Gedichte‘, in denen je nach Bedarf Heilige, Engel und womöglich alle himmlischen Mächte mitwirkten. In unseren Klöstern wurden diese Werke vielfach übersetzt und abgeschrieben, oder man verfaßte ganz neue – und weißt du auch, wann bereits? Zur Zeit des Tatarenjochs![17] Es gibt zum Beispiel ein Klosterpoem – natürlich aus dem Griechischen: ‚Der Gang der Mutter Gottes durch die Hölle‘, von einer Kühnheit der Phantasie, die der danteschen wirklich nicht nachsteht. Die Mutter Gottes steigt hinab in die Hölle, und der Erzengel Michael führt sie ‚durch die Qualen‘. Sie sieht jeden Sünder in seiner Pein. Unter anderem gibt es dort auch eine äußerst bemerkenswerte Kategorie von Sündern in einem brennenden See: diejenigen, welche in diesem See bereits so weit versunken sind, daß sie nicht mehr herausschwimmen können, von denen heißt es, daß ‚Gott sie bereits vergäße‘ – es ist ein Ausdruck von ungewöhnlicher Tiefe und Kraft. Und siehe, die erschütterte Mutter Gottes fällt weinend vor dem Throne des Höchsten nieder und bittet ihn um Vergebung für alle, die sie dort in der Hölle gesehen hat, für alle ohne Ausnahme. Ihr Gespräch mit Gott ist ungemein interessant. Sie fleht; sie hört nicht auf zu flehen; und wie Gott auf die durchbohrten Hände und Füße ihres Sohnes weist und sie fragt: ‚Wie soll ich seinen Peinigern vergeben?‘ – da befiehlt sie allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln mit ihr zusammen niederzuknien und um die Begnadigung aller ohne Ausnahme zu flehen. Es endet damit, daß sie von Gott die Einstellung der Qualen in jedem Jahr vom Karfreitag bis zum Pfingstsonntag erbittet, und da ertönt aus der Hölle der Dank und der Lobgesang der Sünder, die laut zu ihm rufen: ‚Gerecht bist du, o Herr, da du also gerichtet hast.‘ Von der Art wäre nun auch mein Poem gewesen, wenn ich es in jener Zeit verfaßt hätte. Bei mir erscheint auf der Szene Er. Allerdings spricht Er kein Wort, Er erscheint nur und geht vorüber. Fünfzehn Jahrhunderte sind seit Seinem ersten Erscheinen vergangen, seit der Zeit, da Er den Menschen versprach, wiederzukommen und sein Reich auf Erden zu errichten, fünfzehn Jahrhunderte seit der Zeit, da Er, wie sein Jünger uns berichtet, zu uns sagte, als Er noch unter ihnen wandelte: ‚Wahrlich, ich komme bald. Von jenem Tage aber und der Stunde weiß nicht einmal der Sohn, nur mein himmlischer Vater weiß es.‘ Doch die Menschheit erwartet Ihn in demselben Glauben und mit derselben Sehnsucht wie früher. Was sage ich! – in noch größerem Glauben erwartet sie Ihn, denn fünfzehn Jahrhunderte sind schon seit der Zeit vergangen, da der Himmel dem Menschen ein Unterpfand gab ...

‚Was das Herz dir saget, daran glaube:

Der Himmel gibt kein Unterpfand den Menschen.‘

Es ist wahr, es gab damals viele Wunder. Es gab Heilige, die wunderbare Heilungen vollbrachten, und zu manchen frommen Einsiedlern stieg die Himmelskönigin herab, wie wir aus vielen Lebensgeschichten wissen. Doch auch der Teufel schlief nicht: und siehe, in der Menschheit erhoben sich Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder. Und da verbreitete sich im Norden, in Deutschland, eine furchtbare neue Ketzerei. Ein großer Stern, ‚ähnlich einer Leuchte – das heißt also, der Kirche – fiel in die Quellen der Wasser, und siehe, das Wasser ward bitter‘. Die Sekten begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Aber um so glühender glauben die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschen steigen nach wie vor zu Ihm empor, man erwartet Ihn, man liebt Ihn, man hofft auf Ihn, wie früher ... Und siehe, so viele Jahrhunderte haben die Menschen in feurigem Glauben zu Ihm gebetet und Ihn angerufen: ‚Unser Herr und Gott, erscheine uns!‘ daß Er in Seinem unermeßlichen Mitleid zu den Flehenden herabsteigen will. War Er doch auch schon vordem herabgestiegen und zu gar manchen Gerechten, Märtyrern und heiligen Einsiedlern gegangen, wie wir es aus deren Lebensgeschichte wissen. Tjutscheff hat, vollkommen überzeugt, daß es so war, folgenden Vers geschrieben:

‚Unter der Last des dreiendigen Kreuzes,

Inmitten der beiden verdammten Schächer,

Ging Christ der König, wie ein Verbrecher,

Der die Erde segnete.‘

Was natürlich auch so war, das sage ich dir von mir aus. Und siehe, Er will in seiner Barmherzigkeit wenigstens auf einen Augenblick zum Volke hinabsteigen, zu dem sich quälenden, dem leidenden, schmutzig-sündigen, doch kindlich Ihn liebenden Volke. Die Handlung spielt bei mir in Spanien, in Sevilla, zur Zeit der schrecklichsten Inquisition, als zum Ruhme Gottes täglich Scheiterhaufen auf zum Himmel flammten, und endlos, bei flackerndem Fackelschein,

‚In mächtigen, grausigen Zügen

Die Ketzer zogen zum Autodafé.‘

Er kam natürlich nicht so zu den Menschen, wie Er nach Seiner Verheißung zu Ende der Zeiten in Seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird: plötzlich, wie ein Blitz von Morgenrot zu Abendrot. Nein, Er will nur auf einen Augenblick Seine Kinder wiedersehen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen der Ketzer prasseln, wo Flammenzungen Menschenblut lecken. In Seiner unermeßlichen Barmherzigkeit wandelt Er noch einmal in derselben Menschengestalt, in der Er vor fünfzehn Jahrhunderten dreiunddreißig Jahre lang unter den Menschen erschienen war. Er erscheint auf den ‚heißen Plätzen‘ der südlichen Stadt, in der noch am Vorabend in Gegenwart des Königs, des ganzen Hofes, aller Granden, Kardinäle und der schönsten Hofdamen, in Gegenwart der zahlreichen Bevölkerung Sevillas, durch den greisen Kardinal, den Großinquisitor, auf einmal fast ein ganzes Hundert Ketzer ad majorem gloriam Dei verbrannt worden war. Unmerklich ist Er plötzlich erschienen, und siehe, – sonderbar – alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen des Poems sein, ich meine, warum Ihn alle erkennen. Eine unbezwingbare Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn und wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm, wohin Er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen Lächeln unermeßlichen Mitleids. Eine Sonne der Liebe brennt in Seinem Herzen. Strahlen der Erleuchtung und der Kraft fließen aus Seinen Augen, und jeden, über den sie sich ergießen, machen sie vor Gegenliebe erbeben. Er streckt ihnen Seine Hände entgegen, Er segnet sie, und von der Berührung Seiner Hände, ja auch nur von der Berührung Seines Gewandes geht heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von Geburt an blind ist, Ihn, der vorübergeht, laut an: ‚Herr, heile mich, auf daß auch ich dich schaue.‘ Und siehe, es fällt wie Schuppen von seinen Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde, auf der Er gestanden hat. Kinder streuen vor Ihm Blumen; sie singen und rufen: ‚Hosianna!‘ ‚Das ist Er, Er selbst!‘ raunt sich das Volk immer lauter und lauter zu, ‚das muß Er sein, das kann kein anderer sein als Er!‘ – Da bleibt Er vor dem Portal der Kathedrale von Sevilla stehen. Man trägt gerade unter Weinen und Wehklagen einen weißen offenen Kindersarg in den Dom: in ihm liegt das tote siebenjährige Töchterchen eines vornehmen Bürgers, sein einziges Kind. Es liegt in weißen Blumen gebettet. ‚Er wird dein Kind erwecken‘, ruft man aus der Menge der weinenden Mutter zu. Aus der Kathedrale tritt dem Sarge ein Pater entgegen: er bleibt verwundert stehen und runzelt die Brauen. Da aber wirft sich die Mutter des toten Kindes klagend Ihm zu Füßen und sagt: ‚Bist du es, so erwecke mein Kind!‘ und flehend hebt sie ihre Hände zu Ihm empor. Die Prozession bleibt stehen, der kleine Sarg wird vor dem Portal der Kathedrale Ihm zu Füßen gelegt. Voll Mitleid blickt er auf das tote Kind, und seine Lippen murmeln leise: ‚Talitha kumi‘ – ‚stehe auf, Mädchen‘. Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich und blickt lächelnd mit weit offenen verwunderten Augen um sich. Ihre Hände pressen die weißen Rosen, mit denen sie im Sarge gelegen hat, an die Brust. Im Volke Bestürzung, Schreien, Schluchzen und – siehe da, da geht ... im selben Augenblick geht an der Kathedrale der greise Kardinal, der grausame Großinquisitor vorüber. Es ist ein fast neunzigjähriger Greis, hoch und aufrecht noch schreitet er, sein Gesicht ist vertrocknet und runzlig, die Augen sind eingefallen, sie liegen tief, doch noch glimmt in ihnen ein unheimliches Feuer, das unerwartete Funken sprühen kann. Nicht in seinen prächtigen Kardinalsgewändern geht er vorüber, in den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke erschienen war, als er die Feinde des römischen Glaubens den Flammen übergab. – Nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in angemessener Entfernung seine dunklen Gehilfen und Sklaven und die ‚heilige‘ Wache. Nun bleibt er stehen vor dem Volk und beobachtet aus der Ferne. Er sieht alles, er sieht, wie der Sarg vor Seine Füße gestellt wird, er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und sein Gesicht verfinstert sich. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt seine Hand aus und befiehlt den Wachen, Ihn zu ergreifen. Und siehe, so groß ist seine Macht, und dermaßen unterwürfig und zitternd gehorsam ist ihm das Volk, daß es vor den Wachen wortlos zurückweicht und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn fortführen läßt. Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis zur Erde vor dem greisen Großinquisitor. Der aber segnet schweigend das kniende Volk und geht stumm vorüber. Die Wache jedoch führt den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes Verlies im alten Palaste des Heiligen Tribunals und schließt ihn dort ein. Der Tag vergeht, es wird Nacht: ‚dunkle, dumpfe, atemanhaltende, lautlose, sevillanische Nacht‘. Die Luft ist schwül von Lorbeer- und Orangenduft. Und da, inmitten der tiefen, lautlosen Nacht öffnet sich die eiserne Tür des Verlieses, und er, der Greis, der Großinquisitor tritt langsam mit der Leuchte in der Hand über die Schwelle. Er ist allein, hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt lange schweigend in Sein Gesicht. Endlich tritt er unhörbar näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und fragt Ihn:

„‚Bist Du es? Du?‘ Und da er keine Antwort erhält, fügte er schnell hinzu: ‚Antworte nicht, schweige. Was könntest du auch sagen? Ich weiß nur zu gut, was Du sagen würdest. Aber Du hast nicht einmal das Recht, zu dem noch etwas hinzuzufügen, was von Dir schon früher gesagt worden ist. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn du bist gekommen, uns zu stören! Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen sein wird? Ich weiß nicht, wer Du bist und will es auch nicht wissen: Bist Du Er, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Doch morgen noch werde ich Dich richten und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküßt hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um gierig die glühenden Kohlen zu schüren, – weißt Du das? Ja, vielleicht weißt Du es,‘ fügt er in Nachdenken versunken hinzu, ohne aber auch nur auf eine Sekunde den durchdringenden Blick von seinem Gefangenen abzuwenden.“

„Ich verstehe nicht ganz, Iwan, – was soll das?“ fragte lächelnd Aljoscha, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. „Ist das einfach uferlose Phantasie, oder ist es irgendein Irrtum des Alten, ein unmögliches qui pro quo?“

„Nimm meinetwegen das letztere an,“ sagte Iwan lachend, „wenn dich unser zeitgenössischer Realismus bereits dermaßen verwöhnt hat, daß du nichts Phantastisches mehr ertragen kannst. Wenn du willst, also qui pro quo, mag es meinetwegen so sein. Es ist ja wahr,“ sagte er, sichtlich erheitert, „der Alte ist doch ein neunzigjähriger Greis und hat vielleicht schon längst über seinen Ideen den Verstand verloren. Der Gefangene aber hat ihn wohl durch sein Aussehen betroffen gemacht, wie? Oder schließlich konnte es ja auch einfach Fieberwahn sein, die Halluzination eines neunzigjährigen Greises kurz vor dem Tode – oder auch nur eine Nachwirkung der Erregung vom vergangenen Tage. Aber kann es denn uns beiden nicht ganz gleich sein, ob es qui pro quo oder uferlose Phantasie ist? Hier handelt es sich doch nur darum, daß der Alte sich endlich aussprechen muß! Er muß doch wenigstens einmal das laut aussprechen, worüber er runde neunzig Jahre geschwiegen hat.“

„Und der Gefangene schweigt gleichfalls? Sieht ihn an und sagt kein Wort?“

„Kein einziges Wort, und so muß es sogar unbedingt sein,“ sagte Iwan wieder lachend. „Der Alte sagt Ihm doch selbst, daß er nicht einmal das Recht habe, etwas zu dem hinzuzufügen, was er schon früher gesagt hat. Wenn du willst, so liegt gerade darin der Grundzug des römischen Katholizismus. Wenigstens fasse ich ihn so auf. Mit anderen Worten: ‚Du hast alles dem Papst übergeben, und folglich liegt jetzt alles beim Papst, Du aber komme überhaupt nicht wieder, störe uns wenigstens nicht mehr!‘ In diesem Sinne reden sie ja nicht nur, sondern schreiben sie sogar, wenigstens die Jesuiten. Ich habe es selbst in den Schriften ihres Gottesgelahrten gelesen. ‚Hast Du das Recht, uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt, aus der Du gekommen bist, aufzudecken?‘ fragt Ihn mein Greis, und er gibt Ihm statt Seiner die Antwort auf die eigene Frage: ‚Nein, dieses Recht hast Du nicht, denn das hieße Neues zu dem, was Du schon früher gesagt hast, hinzufügen, und den Menschen die Freiheit nehmen, für die Du so eingestanden bist, als Du noch auf Erden warst. Alles, was Du Neues verkünden könntest, würde ein Eingriff in die Glaubensfreiheit der Menschen sein, denn es würde als Wunder erscheinen, und die Freiheit ihres Glaubens war Dir damals vor anderthalb Jahrtausenden das Teuerste. Warst Du es nicht, der damals so oft sagte: „Ich will euch frei machen“? Jetzt hast Du sie gesehen, diese freien Menschen!‘ fügt der Greis plötzlich mit nachdenklichem, spöttischem Lächeln hinzu ... ‚Ja, dies zu erreichen, war schwer, es hat uns viel gekostet,‘ fährt er dann fort, ohne seinen strengen Blick von Ihm abzuwenden, ‚doch wir haben es schließlich vollendet, in Deinem Namen. Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit gequält, doch jetzt ist das überwunden und gut überwunden. Du glaubst nicht, daß es gut überwunden ist? Du blickst mich milde und sanftmütig an und würdigst mich nicht einmal Deines Unwillens? So höre denn, daß gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein. Sie haben uns eigenhändig ihre Freiheit gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Doch das ist unser Werk. Oder war es das, was auch Du wolltest, war es diese Freiheit? ...‘“

„Ich verstehe wieder nicht,“ unterbrach ihn Aljoscha, „ist das von ihm ironisch gesagt, will er sich über Ihn lustig machen?“

„Fällt ihm nicht ein. Er rechnet es sich und den Seinen vollkommen im Ernst zum Verdienst an, daß sie – endlich einmal! – die Freiheit besiegt haben, und daß sie dies nur zu dem einen Zweck getan hatten, um die Menschen glücklich zu machen. ‚Denn erst jetzt‘ – er meint natürlich die Inquisition – ‚ist es zum erstenmal möglich, auch an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch war als Empörer geschaffen; können aber Empörer glücklich sein? Du wurdest gewarnt,‘ sagt der Greis zu Ihm, ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen, doch Du achtetest der Warnungen nicht, und Du verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können, Du verwarfst ihn. Doch zum Glück gingst Du fort und übergabst die Arbeit uns. Du verhießest, Du bestätigtest es durch Dein Wort, Du gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und kannst es Dir selbstverständlich nicht einfallen lassen, dieses Recht uns jetzt wieder abzunehmen. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören?‘“

„Was bedeutet das: ‚Du littest nicht Mangel an Warnungen und Fingerzeigen‘?“ fragte Aljoscha.

„Dieser Punkt ist der wichtigste, über den mußt Du den Alten sich aussprechen lassen,“ sagte Iwan. „Und der Alte fuhr fort zu Ihm:

„‚Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins, der große Geist sprach zu Dir in der Wüste. Und wie die Schriften uns überliefern, hat er Dich versucht. War das so? Und wäre es möglich, etwas Wahreres zu sagen als das, was er Dir in seinen drei Fragen vorlegte, und was Du verwarfst, und was in den Schriften „Versuchungen“ genannt wird? Doch ich sage Dir, wenn jemals auf Erden ein wirkliches, ein nie wieder dagewesenes, wahrlich gewittermäßiges Wunder sich begeben hat, so war es dasjenige an jenem Tage, am Tage dieser drei Versuchungen! Gerade in der Erscheinung dieser drei Fragen bestand das Wunder. Wenn es möglich wäre, sich vorzustellen, nur zur Probe und zum Beispiel, daß diese drei Fragen des furchtbaren Geistes aus den Büchern spurlos verschwänden, und daß man sie also von neuem erdenken und formen müßte, um sie wieder in die Schriften einzutragen, und zu dem Zweck alle Weisen der Erde, Herrscher, Priester, Gelehrte, Philosophen, Dichter versammelte und zu ihnen sagte: Löst die Aufgabe, erdenkt und formt drei Fragen, doch solche, die nicht nur der Größe dieses Ereignisses gleichkommen, sondern die noch außerdem in drei Worten, nur in drei menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Welt und der Menschheit ausdrücken – was meinst Du wohl, könnte die ganze Weisheit der Erde zusammengenommen und vereint etwas ersinnen, das an Kraft, Macht und Tiefe jenen drei Fragen, die Dir der mächtige und kluge Geist in der Wüste tatsächlich vorgelegt hat, auch nur annähernd ähnlich wäre? Schon allein an diesen Fragen, an dem Wunder ihrer sichtbaren Gestaltung, begreift der Mensch, daß er es nicht mit einem menschlichen fließenden Verstande zu tun hat, sondern mit einem ewigen und absoluten Geist. Denn wahrlich, in diesen drei Fragen ist die ganze weitere Menschengeschichte gleichsam in ein einziges Ganzes zusammengefaßt und vorhergesagt, und sind kundgetan drei Dinge, in denen alle unlösbaren historischen Widersprüche der menschlichen Natur zusammentreffen. Damals konnte man das noch nicht wissen, denn das Zukünftige war unbekannt. Jetzt aber, da anderthalb Jahrtausende vergangen sind, sehen wir, daß in diesen drei Fragen alles dermaßen richtig erraten und vorausgesagt ist, daß sich nichts weder zu ihnen hinzufügen noch von ihnen abstreichen läßt.‘

„‚Entscheide selbst, wer damals recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte? Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut war folgender: „Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen Stumpfheit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten, und die sie schreckt, – denn für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit! Siehst Du dort jene Steine in dieser nackten, verdorrten Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, wie eine edelmütige und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern wird vor Furcht, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote hätten dann ein Ende.“ Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Und Deine Antwort war: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein ...“ Aber weißt Du auch, daß im Namen dieses Erdenbrotes der Erdgeist sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird, und alle ihm folgen und ausrufen werden: „Wer gleicht ihm wohl? er gab uns das Feuer vom Himmel!“ Weißt Du auch, daß, wenn Jahre, Jahrhunderte vergangen sind, die Menschheit durch den Mund ihrer Weisheit und Wissenschaft verkünden wird, daß es Verbrechen überhaupt nicht gibt, und folglich auch keine Sünde, dafür aber Hungrige. „Sättige sie zuerst, dann kannst Du von ihnen Tugenden verlangen!“ werden sie auf ihre Fahne schreiben, die sie gegen Dich erheben, und durch die Dein Tempel stürzen wird. An der Stelle Deines Tempels wird sich ein neues Gebäude erheben, wird der furchtbare babylonische Turm gebaut werden, und obgleich auch der, ganz wie der frühere, nicht vollendet werden wird, so hättest Du doch diesen neuen Turm vermeiden und die Leiden der Menschen um tausend Jahre abkürzen können, – denn zu wem sonst, wenn nicht zu uns, sollen sie kommen, nachdem sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turme abgequält haben! Sie werden uns dann wieder unter der Erde hervorsuchen, uns, die in den Katakomben sich Verbergenden – denn man wird uns wieder verfolgen und martern –, sie werden uns finden und uns anflehen: „Sättigt uns, denn die, so uns das Feuer des Himmels versprachen, haben es uns nicht gegeben.“ Und dann werden wir ihren Turm auch vollenden, denn vollenden wird derjenige, der den Hunger stillt, den Hunger aber stillen werden nur wir, in Deinem Namen, und wir werden lügen, daß es in Deinem Namen geschehe. Oh, niemals, niemals werden sie aus eigener Kraft ihren Hunger stillen können! Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und so wird es denn damit enden, daß sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen werden; „Knechtet uns, aber macht uns satt.“ Sie werden schließlich begreifen, daß Freiheit zusammen mit genügend Brot nicht für jeden erreichbar ist, denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen! Desgleichen werden sie sich überzeugen, daß sie auch niemals werden frei sein können, denn sie sind kraftlos, lasterhaft, niedrig, und sind Empörer! Du versprachst ihnen himmlisches Brot, ich aber frage Dich nochmals: Kann sich dieses Brot in den Augen des schwachen, ewig verderbten und ewig undankbaren Menschengeschlechts mit irdischem Brote messen? Und wenn Dir um des himmlischen Brotes willen Tausende und Zehntausende nachfolgen, was soll dann mit den Millionen und Milliarden von Wesen geschehen, die nicht die Kraft haben, das Erdenbrot um des Himmelsbrotes willen zu verachten? Oder sind dir nur die Zehntausende der Großen und Starken teuer, die übrigen Millionen aber, die unzählig sind wie der Sand am Meer, die Schwachen, doch Dich Liebenden, sollen die dann nur zum Material für die Großen und Starken dienen? Nein, uns sind auch die Schwachen teuer. Sie sind lasterhaft und sind Empörer, aber zum Schluß werden sie gehorsam werden. Sie werden sich über uns wundern und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, eingewilligt haben, die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, die ihnen solche Furcht einflößt, und weil wir einwilligen, über sie zu herrschen, – ja so furchtbar wird es ihnen zum Schluß werden, frei zu sein! Wir aber werden sagen, wir gehorchten Dir und herrschten nur in Deinem Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen. Und in diesem Betruge wird unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen. Das war es, was diese erste Frage der Wüste bedeutete, und was Du im Namen der Freiheit, die Du über alles stelltest, verschmähtest. Währenddessen aber lag in der Frage das große Geheimnis dieser Welt. Hättest Du die „Brote“ angenommen, so hättest Du die Menschen von ihrer ewigen Seelenangst erlöst, denn du hättest diese eine Frage, die wichtigste jedes einzelnen Menschen wie der ganzen Menschheit, die so sehnsüchtig nach Antwort verlangt, beantwortet, – die Frage: „was sollen wir anbeten?“ Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Sorge für den Menschen, als, wenn er frei bleibt, etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann. Doch sucht der Mensch sich nur vor so etwas zu beugen, das bereits keinem Zweifel an seine Anbetungswürdigkeit unterworfen ist, auf daß alle Menschen sofort gleichfalls bereit seien, dasselbe gemeinsam anzubeten. Denn die Sorge dieser kläglichen Geschöpfe besteht nicht nur darin, etwas zu finden, was dieser oder jener anbeten kann, sondern unbedingt so etwas, das alle sofort gleichfalls anbeten wollen, unbedingt alle zusammen! Gerade dieses Bedürfnis der gemeinsamen Anbetung ist seit Anfang der Zeiten die größte Qual des Menschen gewesen, ob wir ihn als einzelnes Wesen oder als ganze Rasse nehmen. Um der gemeinsamen Anbetung willen haben sich die Menschen gegenseitig in grausamen Kämpfen zerfleischt. Sie schufen Götter und riefen einander zu: „Verlaßt eure Götter und kommt, um die unsrigen anzubeten, oder Tod und Verderben euch und euren Göttern!“ Und also wird es sein bis zum Ende der Welt, selbst dann, wenn aus der Welt die Götter verschwinden: gleichviel, dann wird man sich vor Götzen niederwerfen. Du kanntest dieses Geheimnis der menschlichen Natur, Du konntest es unmöglich nicht kennen, doch Du verschmähtest das einzige Positive, das Dir vorgeschlagen wurde, um alle zu zwingen, sich widerspruchslos vor Dir zu beugen: das irdische Brot, und Du verschmähtest es um der Freiheit und des himmlischen Brotes willen. So siehe doch, was Du weiter getan hast. Und wieder alles im Namen der Freiheit! Ich sage Dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird, übergeben kann. Doch die Freiheit der Menschen erobert nur der, der ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brote wurde Dir eine unbestreitbare Macht angeboten: gibst Du Brot, so wird sich der Mensch vor Dir beugen, denn es gibt nichts Positiveres als Brot; wenn aber zu gleicher Zeit irgendein anderer hinter Deinem Rücken sein Gewissen erobert – oh, dann wird er selbst Dein Brot verlassen und jenem folgen, der sein Gewissen umstrickt. Darin hattest Du recht. Denn das Geheimnis des menschlichen Seins liegt nicht in dem bloßen Leben, sondern im Zweck des Lebens. Ohne eine feste Vorstellung zu haben, wozu er leben soll, wird der Mensch nie einwilligen, zu leben, und er wird sich eher vernichten, als daß er auf Erden leben bliebe – selbst dann, wenn auch um ihn herum Brote in Fülle wären. Das ist nun einmal so. Aber was ergab sich aus Deiner Weigerung? Anstatt die Freiheit der Menschen unter Deine Herrschaft zu beugen, hast Du sie ihnen noch vergrößert! Oder hattest Du vergessen, daß Ruhe und selbst der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse? Es gibt nichts Verführerisches für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens, doch gibt es auch nichts Quälenderes für ihn. Und siehe, anstatt fester Grundlagen zur Beruhigung des menschlichen Gewissens, ein für allemal – wähltest Du alles, was es Ungewöhnliches, Rätselhaftes und Unbestimmtes gibt, nahmst Du alles, was über die Kräfte der Menschen ging und handeltest daher, als ob Du sie überhaupt nicht geliebt hättest. Wer aber war es, der das tat? Der, der gekommen war, Sein Leben für sie hinzugeben! Anstatt Dir die menschliche Freiheit zu unterwerfen, hast Du sie noch vergrößert, hast Du sie vervielfacht und hast mit ihren Qualen das Seelenreich des Menschen auf ewig belastet. Dich gelüstete nach freier Liebe des Menschen, auf daß er Dir frei folge, bezaubert und gebannt durch Dich. Statt nach dem festen alten Gesetz, sollte der Mensch hinfort mit freiem Herzen selbst entscheiden, was Gut und was Böse ist, wobei er nur Dein Vorbild als einzige Richtschnur vor sich hatte. Aber hast Du wirklich nicht daran gedacht, daß er schließlich doch auch Dein Vorbild und Deine Wahrheit verwerfen und sie bestreiten wird, wenn man ihn mit einer so furchtbaren Last, wie der Freiheit der Wahl, bedrückt? Die Menschen werden ausrufen, daß die Wahrheit nicht in Dir sei, denn es war unmöglich, sie in größerer Verwirrung und Qual zurückzulassen, als Du es getan hast, da Du ihnen soviel Sorgen und unlösbare Aufgaben hinterließest. Auf diese Weise hast Du selbst den Grund zum Sturze Deiner Herrschaft gelegt, und so beschuldige denn auch niemanden außer Dir. Was aber wurde Dir angeboten? Es gibt drei Mächte, es sind die einzigen drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen Empörer zu ihrem Glück auf ewig besiegen und bannen können, – das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du verwarfst das eine, wie das andere und auch das dritte, und zeigtest dies deutlich im Beispiel. Als der furchtbare und wissende Geist Dich auf die Zinne des Tempels führte und zu Dir sprach: „Wenn Du wissen willst, ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab, denn es ist gesagt von Ihm, daß Engel Ihn auffangen und tragen würden, damit Er seinen Fuß an keinen Stein stoße: Du wirst dann erfahren, ob Du Gottes Sohn bist, und wirst dann beweisen, wie groß Dein Glaube an Deinen Vater ist“. Du aber wiesest die Versuchung von Dir, Du unterlagst ihr nicht und stürztest Dich nicht hinab. Oh, natürlich, Du handeltest stolz und mächtig wie ein Gott, aber sind denn die Menschen, sind denn diese schwachen Geschöpfe mit den Empörerinstinkten, – sind denn das Götter? Oh, Du wußtest gar wohl, daß Du, wenn Du nur einen Schritt getan hättest, nur eine Bewegung, um Dich hinabzustürzen, Du sofort Gott versucht und Deinen ganzen Glauben an ihn verloren hättest und an der Erde zerschellt wärest, an derselben Erde, die zu retten Du gekommen warst, und der kluge Geist, der Dich versuchte, hätte seine Freude daran gehabt. Ich aber frage Dich nochmals: Gibt es denn viele solcher wie Du? Und hast Du wirklich nur einen Augenblick glauben können, daß auch die Menschen einer ähnlichen Versuchung widerstehen würden? Ist denn die Natur des Menschen so geschaffen, daß er das Wunder zurückweisen und selbst in so furchtbaren Lebensaugenblicken, in den Augenblicken seiner fundamentalen, schrecklichsten und quälendsten Seelenfragen, mit der freien Entscheidung seines Herzens auskommen könnte? Oh, Du wußtest, daß Deine Tat in den Schriften aufbewahrt werden würde, und daß sie die letzte Tiefe der Zeiten und die letzten Grenzen der Erde erreichen wird, und Du hofftest, daß der Mensch, wenn er Dir folgt, mit Gott bleiben und des Wunders nicht bedürfen werde. Doch Du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder verwirft, sofort auch Gott verwirft, denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott, als er Wunder sucht. Und da der Mensch nicht die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen, bereits selbst ausgedachte Wunder, und wird das Wunder der Zauberer, die Hexerei alter Weiber anbeten, wenn er auch hundertmal Empörer, Ketzer und ein Gottloser ist. Du stiegst nicht herab vom Kreuze, als man Dir mit Spott und Hohn zurief: „Steige herab vom Kreuze, und wir werden glauben, daß Du Gottes Sohn bist“. Du aber stiegst nicht herab, weil Du wiederum den Menschen nicht durch ein Wunder zum Sklaven machen wolltest, weil Dich nach freier und nicht nach durch Wunder erzwungener Liebe verlangte. Dich dürstete nach freier Liebe, nicht nach knechtischem Entzücken vor der Macht, die ihm ein für allemal Furcht eingeflößt hat. Aber auch hierin hast Du die Menschen gar zu hoch eingeschätzt, denn Sklaven sind sie, das sage ich Dir, wenn sie auch als Empörer geschaffen sind. Blicke um Dich und urteile selbst: Da sind nun anderthalb Jahrtausende vergangen, gehe hin und sieh sie Dir an: Wen hast Du bis zu Dir emporgehoben? Ich schwöre Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen, als Du von ihm geglaubt hast. Wie soll er denn dasselbe erfüllen, was Du erfüllt hast? kann er das überhaupt? Da Du ihn so hoch einschätztest, handeltest Du, als ob Du kein Mitleid mehr mit ihm gehabt hättest, denn Du verlangtest gar zu viel von ihm, – und wer war es, der das tat? Derselbe, der ihn mehr als sich selbst liebte! Hättest Du ihn weniger geachtet, so hättest Du auch weniger von ihm verlangt, das aber wäre der Liebe näher gekommen, denn seine Bürde wäre leichter gewesen. Er ist schwach und gemein. Was will es besagen, daß er sich jetzt allerorten gegen unsere Macht empört und auf seine Empörung stolz ist? Das ist der Stolz eines Kindes, eines unreifen Schulknaben. Das sind kleine Kinder, die sich in der Klasse empört und den Lehrer hinausgejagt haben. Aber auch der Triumph der Schulkinder wird ein Ende haben, und er wird ihnen teuer zu stehen kommen. Sie werden die Tempel einäschern und die Erde mit Blut überschwemmen. Und die dummen Kinder werden schließlich ahnen, daß sie doch nur kraftlose Empörer sind, die ihre eigene Empörung nicht ertragen können. Sie werden sich unter dummen Tränen gestehen, daß derjenige, welcher sie als Empörer geschaffen hat, zweifellos sich über sie hat lustig machen wollen. Sie werden sich das in Verzweiflung sagen, und ihre Worte werden eine Gotteslästerung sein, die sie noch unglücklicher machen wird, denn die menschliche Natur erträgt keine Gotteslästerung, und zu guter Letzt straft sie sich selbst dafür. Also ist nichts als Unruhe, Verwirrung und Unglück den Menschen zuteil geworden, nachdem Du soviel für ihre Freiheit gelitten hast! Dein großer Prophet sagt in der Allegorie seiner Vision, er hätte alle gesehen, die in der ersten Auferstehung auferstehen würden, und es seien je zwölftausend aus jedem Stamm gewesen. Doch wenn es ihrer nur so wenige waren, so waren auch sie gewissermaßen nicht Menschen, sondern Heilige, sondern Götter. Sie haben Dein Kreuz erduldet, sie haben jahrzehntelang hungrige, nackte Wüste ertragen, sich nur von Heuschrecken und Wurzeln genährt, – und, versteht sich, Du kannst nun stolz auf diese Kinder der Freiheit, der Freiheit in der Liebe und der Freiheit im großen Opfer um Deines Namens willen, hinweisen. Vergiß aber nicht, daß ihrer im ganzen nur wenige Tausende waren, und noch dazu – Götter! Wo aber sind die übrigen? Worin besteht die Schuld der übrigen schwachen Menschen, daß sie nicht dasselbe haben ertragen können, was die Starken ertragen haben? Worin liegt die Schuld der schwachen Seele, daß es über ihre Kräfte geht, so furchtbare Geschenke anzunehmen? Kamst Du denn wirklich nur zu den Auserwählten und für die Auserwählten? Wenn das wahr ist, so ist es ein Geheimnis, das nicht wir durchschauen können. Wenn es aber ein Geheimnis ist, so waren auch wir im Recht, das Geheimnis zu verkünden und sie zu lehren, daß nicht die freie Entscheidung ihrer Herzen und nicht die Liebe wichtig ist, sondern eben das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssen, und sei es auch gegen ihr Gewissen. Und so haben wir getan. Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität aufgebaut. Und die Menschen freuten sich, daß sie wieder wie eine Herde geführt wurden, und daß von ihren Herzen endlich das ihnen so furchtbare Geschenk, das ihnen soviel Qual gebracht hatte, genommen wurde. Waren wir im Recht, als wir so lehrten und handelten? Sprich! Haben wir denn nicht die Menschheit geliebt, da wir so bescheiden ihre Kraftlosigkeit erkannten, liebevoll die Bürde des Menschen erleichterten und seiner schwachen Natur sogar die Sünden erließen? Warum nun bist Du gekommen, uns zu stören? Und warum blickst Du mich so stumm und tief mit Deinen stillen Augen an? Sei zornig. Ich will Deine Liebe nicht, denn ich selbst liebe Dich nicht. Und was sollte ich wohl vor Dir verbergen? Oder weiß ich nicht, mit wem ich rede? Was ich Dir zu sagen habe, ist Dir schon bekannt, das lese ich in Deinen Augen. Und sollte ich etwa unser Geheimnis vor Dir verbergen? Vielleicht willst Du es gerade von meinen Lippen vernehmen? So höre denn: Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis! Schon lange sind wir nicht mit Dir, sondern mit ihm, schon seit acht Jahrhunderten. Es sind nun acht Jahrhunderte her, da wir von ihm das nahmen, was Du unwillig von Dir wiesest, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Erdenreiche zeigte: Wir nahmen von ihm Rom und das Schwert der Cäsaren, und wir erklärten, daß nur wir allein die Herren dieser Welt seien, die einzigen Herrscher der Erde, wenn wir auch unser Werk bis jetzt noch nicht vollendet haben. Doch wessen Schuld ist das? Oh, unser Werk ist bis jetzt nur im Anfangsstadium, immerhin ist es schon begonnen worden. Lange noch wird man auf die Vollendung des Werkes warten müssen, und viel wird die Erde inzwischen leiden, doch wir werden unser Ziel erreichen und werden Cäsaren sein, und dann werden wir an das universale Glück der Menschen denken. Und doch hättest Du auch damals schon das Schwert der Cäsaren nehmen können. Warum verwarfst Du diese letzte Gabe? Hättest Du diesen dritten Ratschlag des mächtigen Geistes angenommen, so hättest Du alles geschaffen, was der Mensch auf Erden sucht: hättest ihm gegeben, vor wem er sich beugen, wem er sein Gewissen einhändigen kann, und auf welche Weise sich endlich alle Menschen zu einem einzigen, einstimmigen Ameisenhaufen vereinigen könnten. Denn das Bedürfnis nach der universalen Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen. In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich unbedingt welteinheitlich einzurichten. Viel große Völker mit großer Geschichte hat es gegeben, doch je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn um so stärker erkannten oder empfanden sie die Notwendigkeit der allweltlichen Vereinigung der Menschen. Große Eroberer, die Timur und die Dschingis-Chan, zogen wie Wetterwolken mit Wirbelsturm über die Erde, in dem Bestreben, die Welt zu erobern, und auch sie drückten, wenn auch unbewußt, dasselbe mächtige Bedürfnis der Menschheit nach der allgemeinen und weltumfassenden Vereinigung aus. Hättest Du das Schwert und den Purpur des Herrschers genommen, so hättest Du die Weltherrschaft begründet und der Welt den Frieden gegeben. Denn wahrlich, wer sollte wohl sonst über die Menschen herrschen, wenn nicht diejenigen, in deren Händen ihr Gewissen und ihre Brote sind? Und so nahmen wir das Schwert der Cäsaren, da wir es aber nahmen, verwarfen wir natürlich Dich und folgten ihm. Oh, es werden noch Jahrhunderte des Unfugs ihres freien Verstandes, ihrer Wissenschaft und der Menschenfresserei vergehen – denn wenn sie ihren babylonischen Turm ohne uns beginnen, werden sie mit der Menschenfresserei enden. Dann aber wird das Tier zu uns herankriechen, und es wird uns die Füße lecken, und sie mit den blutigen Tränen seiner Augen netzen. Und wir werden uns auf das Tier setzen und den Kelch erheben, und auf ihm wird geschrieben stehen: „Geheimnis!“ Doch dann erst, dann erst wird für die Menschen die Herrschaft der Ruhe und des Glücks beginnen. Du bist stolz auf Deine Auserwählten, doch Du hast eben nur Auserwählte, wir aber werden Allen Ruhe geben. Und das ist noch nicht alles, o nein: wie viele von diesen Auserwählten, von den Starken, die Auserwählte hätten werden können, ermüdeten schließlich in der Erwartung Deiner, und brachten und bringen die Kraft ihres Geistes und die Glut ihres Herzens auf ein anderes Ackerfeld und endigen damit, daß sie gegen Dich, gerade gegen Dich ihre freie Fahne erheben. Doch Du selbst hast diese Fahne erhoben. Bei uns jedoch werden Alle glücklich sein, und sie werden sich weder empören noch sich gegenseitig vernichten, wie sie es in Deiner Freiheit allerorten tun. Oh, wir werden sie überzeugen, daß sie bloß dann frei sein werden, wenn sie sich von ihrer Freiheit zu unseren Gunsten lossagen und sich uns unterwerfen. Nun sage: Werden wir recht haben, oder wird das gelogen sein? Nein, sie werden sich selbst überzeugen, daß wir recht haben, denn sie werden sich erinnern, bis zu welchem Entsetzen in Sklaverei und Verwirrung sie Deine Freiheit gebracht hat. Die Freiheit, der freie Geist und die Wissenschaft werden sie in so dunkle Klüfte und Abgründe führen und vor solche Wunder und undurchdringliche Geheimnisse stellen, daß die einen von ihnen, die Ununterwürfigen doch Wilden, sich selbst vernichten werden, die Ununterwürfigen doch Schwachen dagegen sich gegenseitig vernichten, und die übrigen, die Dritten, die Kraftlosen und Unglücklichen zu uns herankriechen und zu unseren Füßen aufstöhnen werden: „Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßt Sein Geheimnis, und wir kehren zu euch zurück ... rettet uns vor uns selbst“. Wenn sie von uns Brote erhalten, werden sie natürlich erkennen, daß wir nur ihre Brote, die von ihren eigenen Händen geschaffenen Brote von ihnen nehmen, um sie wiederum unter ihnen zu verteilen, also ihnen ohne jedes Wunder Brot geben. Sie werden sehen, daß wir nicht Steine zu Broten machen – doch wahrlich, mehr noch als über das Brot werden sie sich darüber freuen, daß sie es aus unseren Händen erhalten! Denn nur zu gut werden sie sich erinnern, daß früher, ohne uns, sich selbst die Brote, die sie schufen, in ihren Händen bloß in Steine verwandelten, daß aber, als sie zu uns zurückkehrten, selbst die Steine in ihren Händen zu Broten wurden. Nur zu gut, nur zu gut werden sie zu schätzen wissen, was es heißt, sich ein für allemal zu unterwerfen! Solange die Menschen das nicht begreifen, werden sie unglücklich sein. Wer hat am meisten zu diesem Unverständnis beigetragen? Sprich! Wer hat die Herde zerstückt und sie auf unbekannten Wegen versprengt? Doch die Herde wird sich wieder zusammenfinden und sich von neuem unterwerfen, und dann für immer, für immer. Dann werden wir ihnen ein stilles, bescheidenes Glück geben, das Glück kraftarmer Kreaturen, als die sie geschaffen sind. Oh, wir werden sie schließlich überzeugen, daß sie gar kein Recht haben, stolz zu sein. Du hast sie emporgehoben und damit gelehrt, stolz zu sein. Wir aber werden ihnen beweisen, daß sie kraftarm, daß sie nur armselige Kinder sind, doch daß das Kinderglück süßer als jedes andere ist. Sie werden schüchtern werden und werden zu uns aufblicken und sich in Angst an uns schmiegen wie die Küken an die Bruthenne. Sie werden uns entsetzt anstaunen und werden stolz darauf sein, daß wir so mächtig und so klug sind, und daß wir eine so wilde, tausendmillionenköpfige Herde beruhigt haben. Entkräftigt werden sie vor unserem Zorne zittern, ihr Geist wird kleinmütig, ihre Augen werden tränenreich werden wie die Augen der Kinder und Weiber, doch ebenso leicht wie zu Tränen, werden sie auf unseren Wink zu Frohsinn und Heiterkeit, zu heller Lustigkeit und glücklichen Kinderliedern übergehen. Ja, wir werden sie zwingen zu arbeiten, doch in den arbeitsfreien Stunden werden wir ihnen das Leben wie ein Spiel gestalten, mit Gesängen, Chören und unschuldigen Tänzen. Oh, wir werden ihnen sogar die Sünden vergeben – sie sind doch schwach und kraftlos – und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir ihnen zu sündigen erlauben. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde ausgekauft werden kann, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis begangen worden ist; die Erlaubnis aber zum Sündigen geben wir ihnen nur darum, weil wir sie lieben, und die Strafe für diese Sünden nehmen wir meinetwegen auf uns. Wir werden sie auch in der Tat auf uns nehmen, sie aber werden uns dafür vergöttern wie ihre Wohltäter, die vor Gott ihre Sünden tragen. Und sie werden vor uns keinerlei Geheimnisse haben. Wir werden ihnen erlauben oder verbieten mit ihren Frauen und Geliebten zu leben, Kinder zu haben oder nicht zu haben – immer je nach ihrem Gehorsam –, und sie werden sich uns freudig und fröhlich unterwerfen. Selbst die quälendsten Geheimnisse ihres Gewissens, – alles, alles werden sie zu uns tragen, und wir werden ihnen verzeihen, und sie werden mit Freuden unserer Entscheidung glauben, denn sie wird sie von der großen Sorge und den furchtbaren gegenwärtigen Qualen einer persönlichen und freien Entscheidung erlösen. Und alle werden glücklich sein, alle Millionen Wesen, außer den Hunderttausend, die über sie herrschen. Denn nur wir, wir, die wir das Geheimnis hüten, nur wir werden unglücklich sein. Es wird Tausende von Millionen glücklicher Kinder geben und nur hunderttausend Märtyrer, die den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse auf sich genommen haben. Still werden sie sterben, still werden sie verlöschen in Deinem Namen und hinter dem Grabe nur den Tod finden. Doch wir werden das Geheimnis bewahren und werden die Menschen zu ihrem Glück durch himmlische und ewige Belohnung anlocken. Denn selbst wenn es dort, in jener Welt, ein Etwas geben sollte, so wird es doch, versteht sich, nicht für solche wie sie sein. Man redet und prophezeit, daß Du kommen und von neuem siegen werdest, daß Du mit Deinen Auserwählten, Deinen Stolzen und Mächtigen kommen wirst. Wir aber werden dann sagen, daß sie nur sich selbst, wir aber alle gerettet haben. Man sagt, daß die Buhlerin, die auf dem Tiere sitzt und in ihren Händen das Geheimnis hält, beschimpft werden wird, daß die Kraftarmen sich wieder empören, den Purpur der großen Buhlerin zerreißen und ihren „scheußlichen“ Leib entblößen werden. Dann aber werde ich mich erheben und, zu Dir gewandt, auf die Tausende von Millionen glücklicher Kinder, die die Sünde nicht gekannt haben, hinweisen. Und wir, die ihre Sünden auf uns genommen haben, um sie glücklich zu machen, wir werden dann vor Dich hintreten und Dir sagen: „Verurteile uns, wenn Du es kannst und wagst“. Wisse, daß ich keine Furcht vor Dir habe. Wisse, daß auch ich in der Wüste war, daß auch ich mich einst von Heuschrecken und Wurzeln nährte, daß auch ich die Freiheit, mit der Du die Menschen gesegnet hattest, segnete, und auch ich mich vorbereitete, zur Zahl Deiner Auserwählten zu gehören, zur Zahl der Mächtigen und Starken, mit dem lechzenden Wunsch, „die Zahl zu ergänzen“. Doch ich erwachte und wollte nicht mehr dem Wahnsinn dienen. Ich kehrte zurück und gesellte mich zur Schar derer, die Deine Tat verbessern. Ich ging fort von den Stolzen und kehrte zurück zu den Demütigen, zum Glücke derselben. Was ich Dir sage, wird also geschehen, es wird alles in Erfüllung gehen, und unser Reich wird erstehen. Und ich sage Dir nochmals: Morgen noch wirst Du diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu Deinem Scheiterhaufen stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen bringe ich Dich dafür, daß Du gekommen bist, uns zu stören. Und wahrlich, wenn es einen gegeben hat oder gibt, der am meisten den Scheiterhaufen verdient hat, so bist Du es, Du! Morgen noch werde ich Dich verbrennen. Dixi‘!“

Iwan hielt inne. Seine Worte hatten ihn mit sich fortgerissen, und er war fast in Begeisterung geraten. Als er aber geendet hatte, lächelte er plötzlich wieder.

Aljoscha hatte ihm schweigend zugehört, doch zum Schluß hin, offenbar nicht wenig erregt, mehrmals den Bruder unterbrechen wollen, sich aber jedesmal bezwungen. Als nun Iwan plötzlich verstummte, fiel er sofort ein, – heftig und hastig, wie ein Mensch, der sich lange hat zurückhalten müssen:

„Aber ... das ist doch absurd!“ stieß er hervor, und errötete. „Dein Poem ist ein Lob Jesu, aber keine Schmähung ... wie du es gewollt hast. Und wer wird dir das von der Freiheit glauben? Muß man sie denn so, so auffassen? Ist denn das die Auffassung der Rechtgläubigkeit? ... Das ist Rom, und nicht einmal ganz Rom, das ist nicht wahr, – das sind die Schlechtesten des Katholizismus, das sind Inquisitoren, Jesuiten! ... Und solch einen phantastischen Menschen, wie es dein Inquisitor ist, gibt es überhaupt nicht. Was sind das für Sünden der Menschen, die sie auf sich nehmen? Was sind das für Träger des Geheimnisses, die da irgendeinen Fluch zum Glücke der Menschen auf sich genommen haben? Wer hat jemals so etwas gesehen? Wir kennen die Jesuiten, wir wissen, was dahintersteckt ... Aber sind sie denn das, als was du sie schilderst? – Nicht die Spur! – Sie sind einfach die römische Armee für das zukünftige, allesvereinende Weltreich mit dem Imperator, dem römischen Kirchenoberhaupt an der Spitze ... das ist ihr Ideal, aber ohne alle Geheimnisse und erhabenes Leid ... Der allergewöhnlichste Wunsch nach Macht, nach schmutzigen Erdengütern, Knechtung ... in der Art eines zukünftigen Leibeigenschaftsrechtes, damit sie sozusagen Gutsbesitzer werden können. Das ist alles, was sie wollen. Sie glauben vielleicht überhaupt nicht an Gott. Dein leidender Inquisitor ist nichts als Phantasie ...“

„Aber wart, wart doch,“ sagte Iwan lachend, „sieh mal, wie du dich ereiferst! Phantasie, sagst du, schön! Natürlich ist’s Phantasie. Einstweilen aber erlaube: Glaubst du wirklich, daß diese ganze katholische Bewegung der letzten Jahrhunderte – Mittelalter und so weiter – tatsächlich nichts anderes gewesen ist als das Verlangen nach Macht, nur um der schmutzigen Erdengüter willen? Hat dich das nicht vielleicht Pater Paissij gelehrt?“

„O nein, nein, im Gegenteil, Pater Paissij sprach einmal sogar ein wenig in deinem Sinne ... übrigens es war doch nicht dasselbe, selbstverständlich nicht ganz dasselbe,“ verbesserte sich Aljoscha.

„Das ist immerhin eine kostbare Nachricht, trotz deines ‚selbstverständlich nicht ganz dasselbe‘. Ich frage dich ausdrücklich, warum du annimmst, daß Jesuiten und Inquisitoren sich nur zum Erwerb niedriger materieller Güter verbündet haben. Warum glaubst du, daß es unter ihnen keinen einzigen Gequälten gibt, der von großem Leid und von der Liebe zur Menschheit gepeinigt wird? Sieh: nimm an, daß sich unter allen diesen, die lediglich materielle, schmutzige Güter wollen, nur ein Einziger fände, nur ein Einziger wie mein greiser Inquisitor, der in der Wüste von Gewürm und Wurzeln gelebt hat, gegen sich gewütet hat und vor Verzweiflung außer sich geraten ist, im Kampf gegen sein Fleisch, um frei zu werden und vollkommen zu sein, der aber sein ganzes Leben die Menschheit geliebt hat, und der plötzlich erkennt und sich überzeugt, daß es keine große sittliche Glückseligkeit sein kann, die Vollkommenheit des Willens zu erreichen und zu gleicher Zeit einsehen zu müssen, daß die Millionen der übrigen Gottesgeschöpfe bloß zum Spott Geschaffene bleiben, daß sie niemals die Kraft haben werden, sich mit ihrer Freiheit zurechtzufinden, daß aus den armseligen Empörern niemals Riesen zur Vollendung des Turmes hervorgehen werden, daß nicht für solche Gänse der große Idealist von seiner Harmonie geträumt hat. Da er aber alles das begriffen hatte, kehrte er zurück und schloß sich den ... klugen Leuten an. Glaubst du wirklich, daß das niemals hat geschehen können?“

„Wem schloß er sich an, welchen klugen Leuten?“ griff Aljoscha sofort heftig, fast zornig das Wort auf. „Kein einziger von ihnen besitzt da so eine besondere Klugheit und überhaupt nichts von heiligen Geheimnissen ... Es sei denn höchstens ihre Gottlosigkeit, die wäre noch allenfalls ihr ganzes Geheimnis. Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, sieh, das ist sein ganzes Geheimnis!“

„Nun ja! Endlich hast du es erraten. Es ist allerdings so; sein ganzes Geheimnis liegt tatsächlich nur darin. Aber ist denn das keine Qual, sagen wir, für einen Menschen wie er, der sein ganzes Leben daran gesetzt hatte, durch die Wüste ein Auserwählter zu werden, und der sich von seiner Liebe zur Menschheit doch nicht heilen konnte? An seinem Lebensabend überzeugt er sich, daß nur die Ratschläge des großen furchtbaren Geistes das Leben der kraftarmen Empörer, dieser unvollkommenen, zum Spott geschaffenen Probewesen wenigstens einigermaßen erträglich machen könnten. Und siehe, nachdem er sich davon überzeugt hat, sieht er ein, daß man nach der Weisung dieses klugen Geistes, des furchtbaren Geistes der Zerstörung und des Todes vorgehen muß – daß man Lüge und Betrug annehmen und die Menschen bereits wissentlich in Tod und Verderben treiben muß, wobei es aber heißt, sie auf dem ganzen Wege betrügen, damit diese armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden, und sich wenigstens auf dem Wege für glücklich halten. Und vergiß nicht, daß der Betrug im Namen desjenigen geschieht, an dessen Idealgestalt der Greis sein Leben lang so leidenschaftlich geglaubt hat! Meinst du, daß das kein Unglück sei? Und wenn es auch nur einen einzigen solchen gäbe, an der Spitze dieses ganzen Heeres, ‚das nur um des Besitzes schmutziger Güter willen nach Macht verlangt‘, – genügte dann wirklich nicht ein einziger solcher zur ... Tragödie? Oh, ich sage dir, es genügte, daß ein einziger solcher an der Spitze stände, auf daß die Idee, die Rom mit allen seinen Herren und Jesuiten solange leitet, die höhere Idee Roms, endlich zum Ausdruck käme. Ich sage dir ganz offen: Ich bin fest überzeugt, daß das der einzige Mensch wäre, der unter denen, die an der Spitze der Bewegung stehen, nie ermüden würde. Wer weiß, vielleicht hat es unter den römischen Kirchenoberhäuptern auch solche gegeben. Und wer weiß, vielleicht lebt dieser verfluchte Greis, der so starrsinnig und eigenartig die Menschheit liebt, auch jetzt in einer ganzen Schar vieler ebensolcher einzelner Greise – lebt durchaus nicht zufällig, sondern aus Übereinstimmung, in einem geheimen Bunde, der schon vor langer Zeit zur Wahrung des Geheimnisses, zu seiner Beschützung vor den unglücklichen und kraftarmen Menschen zu dem Zweck gegründet ist, diese Menschen glücklich zu machen. Das gibt es unbedingt. Es muß so sein. Wenn ich mich nicht täusche, haben auch die Freimaurer etwas von der Art dieses Geheimnisses in ihrer Grundidee, und ich glaube sogar, daß sie nur deswegen von den Katholiken so gehaßt werden, weil diese in ihnen Konkurrenten sehen: die Teilung der Einheit ihrer katholischen Idee wittern – während es doch eine einzige Herde unter einem einzigen Hirten werden soll ... Übrigens habe ich, wenn ich meinen Gedanken verteidige, den Anschein eines Autors, der deine Kritik nicht ertragen kann. Genug davon.“

„Du bist wahrscheinlich selbst Freimaurer!“ stieß plötzlich Aljoscha hervor. „Du glaubst nicht an Gott,“ fügte er darauf traurig und bedrückt hinzu. Zugleich schien ihm, daß der Bruder ihn etwas spöttisch betrachtete.

„Aber womit endigt denn deine Tragödie?“ fragte er, den Blick zu Boden gesenkt. „Oder ist sie schon aus?“

„Den Schluß hatte ich mir eigentlich so gedacht: Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er noch eine Zeitlang auf das, was der Gefangene ihm antworten wird. Sein Schweigen lastet schwer auf ihm. Er hatte gesehen, wie der Gefangene ihn anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der Greis aber will, daß Er ihm etwas sage, und wäre es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Doch siehe, Er nähert sich schweigend dem Greise und küßt ihn leise auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort, die Antwort, die den Alten zusammenfahren macht. Und siehe, da zuckt etwas an den Mundwinkeln des großen, greisen Inquisitors: er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: ‚Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... niemals, niemals!‘ Und er läßt Ihn hinaus auf die ‚dunklen, schweigenden Plätze der Stadt‘. Und der Gefangene geht hinaus.“

„Und der Alte?“

„Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch er bleibt bei seiner früheren Idee.“

„Und auch du mit ihm, auch du?“

Iwan lachte auf.

„Aber das ist doch Unsinn, Aljoscha, das ist doch nur das sinnlose Poem eines einfältigen Studenten, der nie in seinem Leben auch nur zwei Verse hat schreiben können. Warum bist du denn so traurig? Oder glaubst du vielleicht gar, daß ich etwa gleich zu ihnen fahren will, zu den Jesuiten, um mich der Schar anzuschließen, die Sein Werk verbessert? O Gott! – was geht das mich an? Ich habe dir doch gesagt: Nur bis zum dreißigsten Jahre, und dann – den Becher fortgeschleudert!“

„Und die krausen, klebrigen Frühlingsblätter, und die teuren Gräber, und der hohe, blaue Himmel, und die Geliebte? Wie willst du denn leben, womit wirst du sie denn lieben?“ fragte Aljoscha traurig. „Ist denn das möglich, mit solch einer Hölle in der Brust und in den Gedanken, – ist denn das möglich? Nein, du fährst gerade hin, um dich ihnen anzuschließen ... wenn aber nicht, so wirst du dich selbst töten, denn du wirst es nicht länger aushalten!“

„Es gibt eine Kraft, die alles aushält!“ sagte Iwan halblaut mit kaltem Lächeln.

„Was ist das für eine Kraft?“

„Die Karamasoffsche ... die Kraft der Karamasoffschen Gemeinheit.“

„Heißt das – in Ausschweifung untergehen, die Seele in Sittenverderbnis erwürgen, ja? heißt es das?“

„Meinetwegen auch das ... aber nur bis zum dreißigsten Jahre werde ich es ... vielleicht noch ... vermeiden, dann aber ...“

„Wie das vermeiden? Auf welche Weise vermeiden? Wodurch willst du dem entgehen? Mit deinen Anschauungen ist das unmöglich.“

„Wiederum auf Karamasoffsche Weise.“

„Ah! – ‚alles ist erlaubt‘? Nicht? Das ist’s doch – alles ist erlaubt?“

Iwans Gesicht verfinsterte sich, und er wurde plötzlich seltsam bleich.

„Du hast es also richtig nicht vergessen – das gestern gefallene Wort, das Miussoff so kränkte ... und das Dmitrij so naiv und auffallend wiederholte?“ fragte er mit einem verzogenen Lächeln. „Ja, meinetwegen: ‚alles ist erlaubt‘ – wenn das Wort einmal gesagt ist. Ich nehme es nicht zurück. Mitjäs Redaktion war übrigens gar nicht so übel.“

Aljoscha blickte ihn schweigend an.

„Aljoscha, ich glaubte, wenn ich fortfahre, auf der ganzen Welt wenigstens dich zu haben,“ sagte Iwan plötzlich mit ganz unerwartetem, tiefem Gefühl, „aber jetzt sehe ich, daß auch in deinem Herzen kein Platz für mich ist, mein lieber Mönch du! Von der Formel: ‚alles ist erlaubt‘ sage ich mich nicht los, nun, und deswegen sagst du dich von mir los, ist es nicht so, ja?“

Aljoscha stand auf, trat zu ihm und küßte ihn stumm und leise auf den Mund.

„Das ist literarischer Diebstahl!“ rief nach dem Kuß Iwan, der plötzlich ganz begeistert zu sein schien. „Das hast du aus meinem Poem gestohlen! Aber ... habe Dank. – Komm, gehen wir, Aljoscha, es ist Zeit für mich wie für dich.“

Sie gingen hinaus, doch unten an der Treppe blieben sie stehen.

„Hör, Aljoscha,“ sagte Iwan mit fester Stimme, „ich werde die klebrigen Frühlingsblätter nur in der Erinnerung an dich lieben. Es genügt mir, daß du hier irgendwo bist, und daß ich das Leben noch leben will. Genügt dir das? Wenn du willst, kannst du das für eine Liebeserklärung nehmen. Jetzt aber – geh du nach rechts und ich nach links. Es ist genug geredet, hörst du? Das heißt, ich meine, falls ich morgen nicht abreisen sollte – ich werde aber wahrscheinlich bestimmt fahren – und wir uns noch irgendwie treffen sollten, so bitte ich, mit mir über alle diese Themata kein Wort mehr zu reden. Ich bitte dich ausdrücklich darum. Und auch über Dmitrij, darum bitte ich dich besonders, rede kein Wort mehr, sprich mir nie mehr von ihm,“ fügte er plötzlich gereizt hinzu. „Ich denke, wir haben uns darüber nichts mehr zu sagen, nicht wahr? Und jetzt werde ich dir auch meinerseits ein Versprechen dafür geben: Wenn ich um das dreißigste Jahr herum den ‚Becher fortschleudern‘ will, so werde ich kommen und dich, wo du auch sein solltest, doch noch einmal aufsuchen, um noch einmal mit dir zu reden ... und wär’s auch aus Amerika, das wisse. Ich werde mit bestimmter Absicht kommen. Es wird auch sehr unterhaltsam sein, dich dann wiederzusehen, wie du sein wirst. Das Versprechen ist doch genügend feierlich? Wir nehmen vielleicht wirklich auf sieben oder auf zehn Jahre Abschied voneinander. Nun, geh jetzt zu deinem Pater Seraphicus, er liegt ja im Sterben. Stirbt er in deiner Abwesenheit, so wirst du dich womöglich noch über mich ärgern, daß ich dich solange aufgehalten habe. Also auf Wiedersehen. Weißt du, küsse mich noch einmal. So. Und nun geh ...“

Iwan wandte sich brüsk um und ging seinen Weg, ohne sich noch nach dem Bruder umzukehren.

„So ging auch Dmitrij gestern abend von mir fort,“ dachte Aljoscha, „nur geschah es doch in einer ganz anderen Weise ...“ Diese sonderbare kleine Beobachtung schoß wie ein Pfeil durch Aljoschas traurigen Sinn und verlor sich in einem sorgenvollen, die Gedanken lähmenden Gefühl. Er wartete noch ein wenig und blickte dem Bruder nach. Da fiel ihm plötzlich auf, daß sein Bruder Iwan gleichsam schaukelnd, schwankend ging, und daß seine rechte Schulter, von hinten gesehen, scheinbar niedriger als die linke war. Das hatte Aljoscha sonst nie bemerkt. Doch plötzlich drehte auch er sich um und eilte fast laufend zum Kloster. Es dämmerte bereits stark, und Aljoscha fühlte, wie sich mit der wachsenden Dunkelheit Angst in seinem Herzen erhob. Es war etwas Neues in ihm, das wuchs und wuchs, doch er hätte nicht sagen können, was es war. Es hatte sich wieder ein Wind erhoben, und in den Kronen der uralten Kiefern rauschte es schaurig, als er durch den Wald zur Einsiedelei schritt.

„‚Pater Seraphicus‘ – diesen Namen hat er von irgendwo hergenommen, woher aber?“ dachte Aljoscha flüchtig. „Iwan, armer Iwan! Und wann werde ich dich jetzt wiedersehen? ... Da ist die Einsiedelei, Herrgott! Ja, ja, er, Pater Seraphicus wird mich retten ... vor ihm! ... wird mich auf ewig erlösen!“

In seinem späteren Leben erinnerte er sich noch oft dieses Abends, und jedesmal fragte er sich verwundert, wie er nach seiner Trennung von Iwan so vollständig Dmitrij hatte vergessen können, obgleich er ihn doch am Vormittag, nur wenige Stunden vorher, unbedingt aufzusuchen beschlossen hatte, selbst wenn er dann nicht mehr zur Nacht ins Kloster zurückgekommen wäre.

Share on Twitter Share on Facebook