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Der Vater hatte in einem Bergdorf, mitten in endlosen Wäldern, ein Stück Land gekauft, drei Morgen, und darauf ein Blockhaus gebaut. Bis an den Gartenzaun reichte starrer alter Hochwald, mit lichten Flecken von Moos und Beerengesträuch zwischen den Stämmen. Ein Mühlbach tanzte gischtend über Kiesel. Das wurde dem Knaben untrennbar von der Vorstellung „Sommer“: weißschäumendes, lärmendes Wasser zwischen dunklen Tannenwänden und Sonnenkringel auf Mooskissen. — Zahm und zögernd erst, bald reich und zügellos bevölkerte die ungelenkte Phantasie den alten Forst mit Zauberwesen, wohl- und übelgesinnten. Die Feindschaft mit der kleinen Schwester konnte davor nicht standhalten. Aus Rinde und Fallholz bauten sie einträchtig Hütten für die Zwerge, mit Moos gedeckt — kleine Teiche davor, mit bunten Kieseln eingefaßt, lose Blüten dazwischen. Gretl liebte den Bruder sehr, fügte sich blind und trug ihm keinen Augenblick die alten Quälereien nach. Dies Übermaß von Güte in dem kleinen Wesen bedrückte ihn, und so knuffte er sie oft unversehens, riß sie an dem kurzen Zopf oder gab ihr böse Worte. Weinte sie dann, so trieb er’s nur ärger. Wehrte sie sich aber, mit Kratzen und Fauchen, so war er irgendwie erleichtert und rasch versöhnt.

Max sollte gleich nach den Ferien abreisen. Er bekam eine vorschriftsmäßige Wäscheausstattung und kam sich, bei fortwährendem Maßnehmen und Probieren, wichtig und erwachsen vor. Die Dorfbuben verehrten ihn, weil er schon zu den Soldaten sollte. Auch Felix nahte sich bewundernd und mit leisem Neid. Max nahm alle Huldigung gönnerhaft an. Die enge Freundschaft mit Fritz litt ein wenig — der Junge war ihm mit einmal zu kindisch, unbrauchbar für wilde Spiele, wie er sie mit Vorliebe veranstaltete. Fritz kämpfte verzweifelt um seinen Platz. Die Märchenspiele mit der kleinen Schwester waren ihm schnell verleidet.

Ein Teil des Gartens, höckeriger Felsboden, war durch Sprengungen geebnet worden. Die Felsbrocken lagen noch umher, wild durcheinander. Ein leiser Geruch von Pulverdampf haftete ihnen an. Das war Maxens Reich, die Steinwildnis, in der es sich Räuber und Gendarm spielen ließ, Zieten aus dem Busch und Löwenjagd.

Solange der Vater im Hause war, ging es still und gesittet zu. Aber er nützte die kurze Ferienzeit die er sich gönnte, nach Kräften zu leidenschaftlicher Pirsche auf Bock und Hirsch, hielt knapp die Mahlzeiten ein und verbrachte Vor- und Nachmittage auf weiten Waldgängen. So blieben die Kinder tagsüber fast ungestört und nützten es weidlich.

Eines Nachmittags hatte sich, zahlreicher als sonst, die Schar der Dorfbuben eingefunden. Max bestimmte „Löwenjagd“ — Felix sollte der Löwe sein, Max die Schar der todesmutigen Jäger führen. Fritz bettelte leidenschaftlich um Beteiligung, als Jäger etwa, oder doch als Spürhund. Doch Max fand, es seien Jäger genug, und Hunde auf Löwen sei lächerlich. Aber — und der Kleine verbiß das Weinen schleunigst, das ihm schon in den Mundwinkeln saß — Fritz könnte dem Löwen brüllen helfen! Felix, der sich in der Rolle des Löwen ohnedies unbehaglich fühlte, weil er die Schrecken der Jagd, des Kampfes und der endlichen Erlegung bitter vorausahnte, stimmte begeistert zu. Und während die Jäger sich beim Holzschuppen mit Latten, Scheiten und Tannenzapfen waffneten, zog Felix mit Fritz der Steinwüste zu. Dort verbarg er sich in schwer zugänglichem Felsgewirr und wies Fritz einen vorgeschobenen Posten an, mit dem strengen Auftrag, beim Nahen der Jäger furchtbar zu brüllen und damit nicht nachzulassen. Sonst dürfe er nie wieder mitspielen. Dann gab er das verabredete Zeichen, daß die Jagd beginnen könne. Mit blutdürstigem Geheul stürmten Max und sein Troß herbei. Fritz brüllte, daß ihn fast Angst vor seiner eigenen Stimmgewalt überkam. Die Jäger, wohlerfahren im Weidwerk, hielten kurzen Rat und schlichen dann, geduckt und kampfbereit, der Löwenstimme nach. Fritz bebte vor Aufregung, wie nur je ein gehetztes Wild, und brüllte immer verzweifelter. Aus seinem Felsversteck spähte Felix lauernd herüber. Nun war das Anschleichen beendet, das wehrhafte Wild umstellt, und mit gräßlichem Aufschrei stürzten die Jäger vor, Tannenzapfen prasselten, Holzscheite schwirrten, einzelne Angreifer wälzten sich in ihrem Blute und zeigten vorsichtshalber ihre Erlebnisse schreiend an, um die anderen nicht im unklaren zu lassen: „Der Löwe — er beißt mich — oh, mein Bein, mein Bein — ha, ich blute!“ Das stachelte die Kampflust der übrigen zur Raserei auf, und Max, jede Wirklichkeit vergessend, hob den treuen Speer — eine rauhe Latte — zielte genau und schoß nach dem Untier. — Ein Kerntreffer hätte Fritzls Lebenslicht wohl ausgeblasen. So streifte ihn das Holz nur an der linken Schläfe, doch blutete die Schramme stark. Im Augenblick änderte sich die Stimme des Wüstenkönigs von gemachter Wut zu echter Wehklage. Und im Augenblick erkannten die Gäste das Unheil, warfen alle Waffen von sich und suchten heulend das Weite, Todesschreck im Nacken. Felix legte sich hinter seinem Felsen platt auf den Bauch, barg den Kopf in den Armen, um nicht sehen, nicht hören zu müssen und wimmerte in sinnloser Angst. Max stand allein vor seinem zuckenden, heulenden Opfer, und angesichts des Blutgerinnsels wich, trotz wütender Selbstbeherrschung, die Jägerfreude zusehends bleicher Angst. Rauhe Reden, von männlicher Schmerzüberwindung, von weibischer Wehleidigkeit, weckten kein Echo, steigerten nur das Wehgeheul. Auch Versprechungen verfingen zunächst nicht. Erst die feierliche Schenkung eines Wasserrades mit Klapperwerk, das Max sich eben selbst gebaut hatte, fand Aufmerksamkeit. Das Geheul verstummte, und aus tränendicken Augen kam ein prüfender Blick, ob das Angebot wohl ernst zu nehmen wäre. Im Augenblick war Max beruhigt über die Verletzung. Zu oft hatte er selbst den Schreck des Gegners über blutende Schrammen ausgenützt. Nun hieß es, einen glaubwürdigen Unfall erfinden. Sie einigten sich auf einen Sturz beim Laufen und legten die Baumwurzel, über die Fritz gestolpert sein sollte, genau fest. Dann wurde Felix geholt, durch die wütende Behauptung, er sei an allem schuld, maßlos eingeschüchtert und durch die höhnende Feststellung, er sei ein schöner Löwe, der sich abseits verstecke und den kleinen Kerl für sich brüllen lasse, zum Nichts erniedrigt. An den Spottreden beteiligte sich Fritz mit Begeisterung und kam dadurch bald zu einem Lächeln unter Tränen. So zogen sie ins Haus, Fritz ließ sich waschen und verbinden und war glücklich als doppelter Held. Denn sogar der Vater hatte ein anerkennendes Wort dafür, daß er die Wunde stumm trug.

Abends aber, im Schlafzimmer, als jede Gefahr vorbei war, meinte Max wichtig zu den Brüdern: „Aber fein geschmissen war es doch! Min—de—stens fünfzehn Schritte — und wenn er den Kopf nicht gedreht hätt’, wär’ ihm die Lanze durch und durch gegangen! Mein Lieber!“

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