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Max ist fort. Den Geschwistern schreibt er nicht, nur den Eltern, pflichtgemäß alle vierzehn Tage. Felix hat viel zu lernen und sitzt tagsüber in einem kleinen Kämmerchen, ganz am Ende der weitläufigen Stadtwohnung. Fritz verbringt die langen Winternachmittage allein mit Gretl in dem großen Kinderzimmer. Allzu laut dürfen die beiden nicht sein, denn nebenan, nur durch eine große Glastür getrennt, ist Vaters Arbeitszimmer. Gegen Abend ist er meist zu Hause und schreibt. Er liebt keine Störung, und ein scharfes „Pßt“ macht die Kinder auf Stunden verstummen. Sie spielen Küche, oder Festung, oder Krieg mit Bleisoldaten. Auch Puppentheater. Fritz entwickelt großartige Entwürfe, die Gretl bedingungslos gutheißt. Stunden vergehen über langwierigen Vorbereitungen. Und meist ist es so, daß das Spiel abbricht, wenn es richtig beginnen sollte. Denn abends, vor dem Essen, muß alles Spielzeug sauber aufgeräumt sein, das ist strenges Gebot. Gretl ist oft recht unglücklich, wenn sie die herrlichen Kunstbauten — Festung, Meierhof mit vielen Ställen — niederreißen soll, ohne damit gespielt zu haben. Fritz aber lacht sie aus. Ihm ist es gerade recht so.

Das Abendessen wird den beiden im Kinderzimmer aufgetragen. Die Eltern essen später. Dann sitzen die Kinder unter der Hängelampe am Mitteltisch, die einen scharfen Lichtkegel herunterwirft und die Ecken im Halbdunkel läßt. Der Weg zur Küche führt durch ein fensterloses Durchgangszimmer, dessen Tür zum Kinderzimmer stets offen steht und das abends samtig schwarz und böse hereinglotzt. Immer sitzen sie so, daß Gretl die dunkle Türöffnung im Rücken hat, und Fritz ihr gegenüber. Dann braucht er nur, während des Essens, das Besteck sinken zu lassen und mit weitaufgerissenen Augen in die Finsternis zu starren, stöhnend: „Was seh’ ich — was seh’ ich!“ — und Gretl weint auf, birgt entsetzt das Gesicht in den Händen und rast wohl auch halb wahnsinnig vor Angst hinaus, um bei der alten Köchin Trost zu suchen. Fritz gellt ihr ein Hohngelächter nach und freut sich lasterhaft. Er weiß genau, daß die Kleine, was sie sonst haßt, lieber lügen, als ihn je angeben würde. Sie kann es nicht sehen, wenn er Prügel bekommt. Und prügeln würde ihn der Vater furchtbar, käme es je zu Tage, daß er den kleinen Liebling ängstigt. Aber Gretl petzt nicht, auch nicht in sinnlosester Angst. — Um sie zu versöhnen, muß er vom „Krieg“ erzählen. Einmal nämlich hat er ihr, als kein anderes Beruhigungsmittel verfangen wollte, mit Verschwörergeste anvertraut, er sei der Führer einer großen Buben-Armee, die Nacht um Nacht den Jungen aus den tschechischen Dörfern große Schlachten liefere. Sie mußte einen gräßlichen Eid darauf schwören, daß sie das Geheimnis unverbrüchlich wahren wolle — auch auf der Folter, und bis zum Tode. Diese erste Lüge wagte er nicht zu widerrufen, sie aber verlangte, vom Reiz des Geheimnisvollen gestachelt, immer mehr, immer Neues zu wissen. Und er erzählte. Alle Lesefrüchte aus finsteren Indianer-, Ritter- und Mordgeschichten, die er sich von Schulfreunden geliehen, alle grausigen Mären, die er den Dienstleuten abgelauscht hatte; aber auch alles, was ihm bei Tag und Nacht, in Traum und Sehnsucht vorschwebte — alles verwob er in seine Erzählung vom „Krieg“. Waren die Kinder allein und ungestört, vor dem Schlafengehen, oder bei den leidigen Familienspaziergängen, wo sie vor den Eltern hergehen mußten — immer drängte die Schwester, und er begann flüsternd und geheimnisvoll zu erzählen, stets bereit, mit gemachter Unbefangenheit das Thema zu wechseln, wenn Unberufene in die Nähe kamen. Die Schwester hörte ihm gläubig und atemlos gespannt zu. Der Junge genoß die Heldenrolle vollauf, doch verrannte er sich beim Erzählen oft so heftig in seine Fabelwelt, daß ihm die Rückkehr zur trüben Wirklichkeit — Schulgang, Hausaufgaben und strengste Aufsicht — bitter schwer schien und er sich plötzlich einmal in jähem Ausbruch den Tod wünschen konnte. Die kleine Schwester, ohne jede Ahnung der Zusammenhänge, nahm ihn auch in seinen Selbstmordgedanken furchtbar ernst, redete ihm weinend zu, bettelte und flehte, und war glückselig, wenn er schließlich groß erklärte, er werde eben doch leben bleiben. Sie liebte ihn sehr.

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