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Max ist, seit Jahresfrist zum ersten Mal, auf Ferien gekommen. Er ist noch immer der stämmige, gelenkige Knirps, und der vorschriftsmäßig glattgeschorene Rundkopf und die aufs Wachsen berechnete Kommiß-Uniform lassen ihn etwas dürftig erscheinen. Aber er fühlt sich gewaltig und zeigt mit namenlosem Stolz den Mittelfinger der rechten Hand, an dem er sich bei irgendeiner höchst überflüssigen Verrichtung den Nagel abgequetscht hat. Die Fingerkappe ist kugelig verdickt, der neue Nagel bleistiftstark und hart wie Stahl. „Probiert’s einmal,“ sagt er zu den Brüdern, „schneidets ihn ab, mit der Schere oder mit dem Messer, da!“ Und sie können es nicht. „Den muß ich mir immer mit der Laubsäge absägen! Mein Lieber!“ So trumpft Max auf, und die Brüder horchen stumm.

Fritz trägt an einer furchtbaren Enttäuschung —, er hat fest daran geglaubt, daß Max Pferde mitbringen würde. Oft und oft hatte er es sich sogar ausgemalt, daß der Bruder überhaupt vierspännig anfahren würde. Als er ihn dann, klein und unscheinbar unter den vielen großen Menschen, aus dem Zuge klettern sah, verbiß er das Weinen und klammerte sich krampfhaft an die Hoffnung, die Pferde, oder doch das Pferd würden nachkommen. Zu fragen wagt er die ersten Tage nicht, der Bruder ist ihm entfremdet und entrückt, er steht im Mittelpunkt des Interesses, die Mutter hätschelt ihn, der Vater hört ihn gnädig an und stellt sogar gelegentlich gönnerhafte Fragen. Felix zeigt ihm höflichste Hochachtung, und Gretl staunt ihn mit runden Augen an. Das ist nicht mehr der Max von einst. — Nach geraumer Zeit erst beginnt Fritz die Scheu zu überwinden, rafft sich zu Anspielungen auf, die unbeachtet bleiben, und endlich zu einer unverhüllten Mahnung. Die Antwort ist niederschmetternd: „Pferde, natürlich hab’ ich Pferde, drei sogar, ich reit’ jeden Tag ein paar Stunden,“ lügt Max großartig. „Aber ich werd doch dir keins mitbringen, du kannst doch nichts damit anfangen! So ein Tschuller!“ — „Aber du hast doch versprochen ...“ wehklagt der Kleine. Doch Max bleibt unnahbar. „Ja, versprochen!“ höhnt er. „Mit der linken Hand hab’ ich dabei eine Faust gemacht, das hast du nicht gesehn. Da gilt das Versprechen nix! So ein Tschuller, laßt sich anschmieren!“ Er brüllt vor Lachen, und Felix meckert höflich beflissen mit. An Fritz nagt verbissene Wut.

Abends kommt der Vater vom Pirschgang mit einem starken Bock heim. Bei Tisch erzählt er mit Jägerfreude alle Einzelheiten der Erlegung. Die Familie lauscht andächtig, nur Fritz wetzt unruhig hin und her und platzt in den allgemeinen Beifall hinein: „Bitt’ schön, der Max hat aber gesagt, das ist eine Grausamkeit, so ein armes Reh erschießen, was einem nix getan hat! Was das schon für eine Kunst ist, hat er gesagt!“ Mutter und Kinder sitzen starr vor Schreck. Felix wird totenblaß, er weiß ja, daß Max tatsächlich einmal im Schlafzimmer die furchtbare Lästerung ausgestoßen hat, weiß aber auch, daß sie gewiß nicht für des Vaters Ohren bestimmt war. Wenn der Kleine ihn nun als Zeugen anruft — was soll er sagen? — Max hat einen roten Kopf bekommen und wartet bockig ab. Aus dem Augenwinkel schießt er dem Bruder einen Blick zu, der nichts Gutes verspricht. — Die Mutter möchte vermitteln, blickt ängstlich auf den Gatten, vorwurfsvoll auf Fritz, mahnend auf die anderen. — Gretl hat nichts verstanden, doch spürt sie den allgemeinen Druck und macht ängstliche Augen. Der Vater hat das unnahbarste Hoheitsgesicht aufgesetzt, blickt wie aus Wolkenhöhen auf Max herab und fragt mit starker Stimme: „Ist das wahr?“ — Keine Antwort. Max schweigt bockig. Und das übliche Donnerwetter hebt an: „Du bist der größte Schafskopf, der mir je untergekommen ist.“ Die Stimme wird heftiger, jetzt und jetzt muß es Hiebe setzen. Da rettet Gretl den Bedrohten, indem sie in angstvollem Mitleid aufweint und den Kopf in der Mutter Kleid verbirgt. Dem kann der Vater nicht widerstehen, er nimmt das Mädel auf den Schoß, streichelt sie, spricht ihr zu. „Nicht schlagen, Max! Nicht schlagen!“ schluchzt Gretl. „Aber nein, wer denkt denn dran! Wein’ nur nicht!“ knurrt der Vater zärtlich. „Verdient hättest du’s ja, Lausbub!“ Dies mit einem letzten Wutblick zu Max. Doch das Gewitter ist gebrochen. Die Mutter greift rasch ein, schickt Fritz zu Bett, winkt Felix, daß er dem Vater die lange türkische Pfeife mit allem Zubehör zureiche, legt selbst die Abendzeitung zurecht und nimmt dann Gretl auf den Arm, um sie ins Schlafzimmer zu tragen. Felix und Max sitzen lautlos und atmen die starkduftenden Tabakwolken ein, die hinter der Zeitung hervorwirbeln. Sie wagen weder zu lesen, noch irgendein Brettspiel zu beginnen, noch gar miteinander zu flüstern. Max zeigt nur unter dem Tisch eine furchtbar geballte Faust und winkt vielsagend nach dem Bubenzimmer. — Dort liegt Fritz mit weitoffenen Augen im Dunklen. Die Mutter kommt nochmals nach ihm sehen, nachdem sie Gretl zur Ruhe gebracht hat, setzt sich an den Bettrand und fragt vorwurfsvoll, fast weinerlich: „Wie konntest du nur, Fritz, wie konntest du nur?“ — „Weil er mir kein Pferd mitgebracht hat! — Und weil er mich noch ausgelacht hat!“ gibt Fritz trotzig und ungerührt zurück. Die Mutter erhebt sich kopfschüttelnd und läßt ihn allein.

Er liegt noch wach, als die Brüder eine Stunde später schlafen gehen. Max möchte ihn leidenschaftlich gern prügeln, aber der Kleine zischt giftig: „Trau dich nicht! — Ich weiß noch ganz was anderes auf dich!“ Da strafen sie ihn mit Verachtung. Max erzählt im Dunkeln, ausdrücklich nur an Felix gewendet, wie es im Kadettenkorps den Angebern ginge: „Der kriegt eine Decke über’n Kopf und wird so gehaut, so gehaut, sag’ ich dir, daß er sich gar nimmer auskennt! Voriges Jahr haben sie einen totgeschlagen, und niemand hat gewußt, wer’s war! Mein Lieber!“ Das letzte ist eine faustdicke Lüge. Aber Fritz schaudert vor Angst und die anderen fühlen es erfreut.

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