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Felix hat als Firmgeschenk vom Herrn Rat — so heißt der Kommerzienrat in der Familie — ein Tesching bekommen. Es hat einen kleinen Kampf gekostet, bis der Vater Annahme und Gebrauch erlaubte. Aber es ist geglückt, und Felix darf mitunter den Vater in den Wald begleiten und gelegentlich auf ein Eichkatzel oder einen Würger schießen. Er trifft nichts und kränkt sich darüber bis zu Tränen. Der Vater spart nicht mit Spott, und die Brüder tun mit Freuden das ihrige, besonders Max, der als „Soldat“ natürlich Schießsachverständiger ist. „Wenn er“ — das ist der Vater — „mich nur lassen möcht’ — ich möcht dir schon zeigen, wie ich treff! Immer Zentrum! Mein Lieber!“ — Aber der Vater duldet kein Scheibenschießen. Das Tesching hat er in Verwahrung, schießt wohl selbst damit auf Spatzen, trifft auch meist. Doch Felix muß jedesmal bitten, ob er „sein“ Gewehr mitnehmen dürfe. In der Woche drei, vier Schuß — damit kann er’s zu keiner Fertigkeit bringen. So ist es dem Vater wohl recht — denn er selbst ist der Jäger und Kugelschütze. Wozu Rivalen großziehen? — Felix klagt dem Herrn Rat sein Leid — es ist doch sein Gewehr, und der Vater hält es eingesperrt, schießt selbst damit, ohne ihn zu fragen — und so ein Geschenk hat doch wirklich keinen Wert. — Und der Herr Rat wagt eine schüchterne Vorstellung beim Vater, wird aber rasch zum Schweigen gebracht durch eins, zwei, drei vollwichtige erzieherische Gründe und ein abschließendes „Und überhaupt!“ Der gute alte Rat denkt innerlich, er hätte den heißen Wunsch seines Lieblings Felix doch lieber nicht erfüllen sollen. — Um den Jungen zu entschädigen und zu trösten, möchte er ihn gerne in die Alpen mitnehmen, wohin er geschäftlich reisen muß. Der Vater aber verweigert die Erlaubnis, weil der Junge lernen und sich nicht unnütz zerstreuen soll. So reist der Herr Rat alleine ab, recht bekümmert. —

Wieder einmal war der Vater in den Wald gegangen, ohne Felix mitzunehmen. — „Ich kann dich nicht brauchen, du machst das ganze Revier närrisch mit deiner Knallerei,“ so hatte er barsch erklärt. — Das Tesching knallte natürlich fast gar nicht, und Felix durfte ja nicht schießen, wann er wollte, sondern wann es ihm erlaubt wurde. Aber um die Wahrscheinlichkeit der Gründe, die er für ein Verbot anzugeben für gut fand, kümmerte sich der Vater nie. Und Widerspruch wagten die Kinder so wenig wie die Mutter. Lautete doch das oberste Hausgesetz: „Ich kann mein Heu Stroh nennen!“

So saß der große Junge, Wuttränen in den Augen, auf den Steinstufen vor dem Hauseingang und sah dem Vater nach, der durch den Garten dem Walde zuschritt. Hinter ihm, in der gedeckten Veranda, summte Max leise Hohngesänge, hinter einer Hausecke, gut gedeckt, spähte Fritz hervor und wetzte schadenfroh die Zeigefinger aneinander. Nur Gretl tappte gutmütig herbei und suchte ihn zu trösten; doch er entzog sich ihr mit einem Schimpfwort, das halb Schluchzen war. —

Einer der letzten Schüsse aus dem Tesching war ein Versager gewesen und Felix hatte die Zündkapsel aufgehoben. Die holte er nun aus der Tasche und untersuchte sie eingehend, einmal, um den Brüdern seine Tränen zu verbergen und dann in der Hoffnung, durch das selbständige Umgehen mit Schießbedarf den vorherigen üblen Eindruck verwischen zu können. Schließlich legt er die Kapsel vor sich auf die Steinstufen, nimmt einen Kiesel in die Hand und schlägt zu. Ein kurzer, scharfer Knall — der Junge schreit auf, schlägt die Hand vors Gesicht und rennt davon. — Max und Fritz springen hinzu; sie haben beide gesehen, daß Blut von einer Wange tropfte. Und da, auf den Stufen: Blut! Max pfeift durch die Zähne und verzieht sich unauffällig in den Garten. Gretl, aus Erstarrung erwachend, stößt ein lautes Geheul aus und läuft ins Haus. — Fritz, mehr von Neugier als von Angst getrieben, geht Felix nach. Beim Mühlgraben findet er ihn, kniend, den Kopf zum Wasser geneigt, fieberhaft waschend. Blut — Blut — aus dem rechten Auge! Da faßt auch Fritz die Angst und er rennt brüllend davon, begegnet der Mutter, die erschreckt aus dem Hause eilt, weist sie zum Mühlgraben — dort, dort! Im dunklen Flur trifft er Max, der in einer Ecke lauert und das Gebrüll des Bruders mit ein paar Püffen verstummen macht. „Was ist los? Heul’ nicht so und red’! Verdammtes Geplärr!“ Fritz stottert eine Antwort: „Blut aus dem Aug’ ... wäscht sich ... Huhu!“ — Max läßt ihn stehen, wetzt unbehaglich mit den Schultern und schleicht davon. Er ist entschlossen, fest zu behaupten, daß er gar nichts gemacht hat und nichts weiß, und überhaupt nicht dabei war. Denn „mitgefangen — mitgehangen“ gehört auch zu Vaters Lieblingssprüchen. — Sie werden auch ohne ihn fertig werden. Und es wird überhaupt schon nichts sein. —

Es ist aber ein großes Unglück: Felix ist ein Metallsplitter ins Auge gedrungen, knapp unter dem Stirnbein. Die Blutung hat zwar aufgehört, doch das Auge ist geblendet. Die Mutter hat ihn zu Bett gebracht, legt ihm kalte Tücher auf. Der Junge wimmert halb irr: „Ich bin blind — ich bin blind!“ Die Mutter weiß kaum Trost, kämpft mit dem Weinen. Fritz und Gretl sind dem Kindermädchen übergeben, das sich mit ihnen im entlegensten Zimmer eingeschlossen hat und die Kinder durch Erzählung höchst grausiger Unfälle in sprachlosem Entsetzen erhält. —

Endlich kommt der Vater nach Hause. Die Köchin ist ihm weinend entgegengelaufen und hat ihm kurz berichtet. Er hat sie unwillig angehört und mit dem Fuß gestampft. Heulende Weiber sind ihm verhaßt. — Dann hat er in seinem Zimmer ohne Eile den Kugelstutzen im Gewehrschrank versorgt, das Jagdmesser abgeschnallt, die Hausjoppe angezogen und geht nun mit starken Schritten dem Bubenzimmer zu. Bei seinem Nahen wimmert Felix lauter, er weiß, daß er harte Vorwürfe zu hören bekommt. Der Vater tritt ein, läßt sich von der Mutter kurz Bescheid geben und knurrt böse: „Schafskopf!“ Dann sagt er, schroff und hart: „Ich bitte mir aus, daß das Gejammer aufhört! Sofort! Damit wird die Dummheit nicht besser!“ Felix verstummt. Der Vater nimmt den Verband vom Auge, untersucht sorgfältig die winzige Wunde, richtet sich dann auf und starrt den Jungen finster an. Die Mutter will in höchster Angst in seinem Gesicht lesen. Sie hofft noch. Der Junge bebt in stummer, qualvoller Erwartung.

Da kommt es halblaut, knurrend aus des Vaters Mund: „Ich kann es ohne Spiegel nicht genau feststellen — aber das Auge ist wahrscheinlich verloren! Eine schöne Geschichte!“ — Als Felix aufheulen will, bringt er ihn mit einem Donnerwort zum Schweigen, wendet sich dann kurz und geht hinaus. Die Mutter weiß, daß es ihm nahe geht, daß er keine Weichheit zeigen will und sie in Wut umsetzt. Sie fühlt aber auch, wie furchtbar diese Härte auf Felix wirken muß. So beugt sie sich zu ihm, der nun fassungslos weint, umschlingt ihn und mischt ihre Tränen mit den seinen.

Nachmittags fährt der Vater mit Felix in die Stadt und kommt am nächsten Tag allein zurück. Er sieht finster und gereizt aus, und die Kinder gehen ihm aus dem Weg. Die Mutter ist sehr bedrückt und kämpft oft mit den Tränen. Von Felix wird nicht gesprochen. — Der Vater macht die großen Hirschjagden mit und schießt einen starken Kronenzwölfer. —

Nach etwa zehn Tagen kommt plötzlich der Herr Rat angereist, diesmal von der Bahnstation. Als die Kinder ihn jubelnd begrüßen wollen, wehrt er sie ab und fragt seltsam aufgeregt nach dem Vater. Der Vater ist im Wald. Und die Mutter im Dorf. Der Herr Rat sitzt vor dem Haus, die Kinder leisten ihm auf ihre Art Gesellschaft. Plötzlich fragt er sie in einem Ton, wie sie ihn noch nie von ihm gehört haben, seltsam scharf und bitter, ob sie denn gar kein Mitleid mit ihrem armen Bruder hätten? Der liege in der Stadt, allein, im dunklen Zimmer, habe Schmerzen und Heimweh — — — dem Herrn Rat zittert die Stimme. — Max spuckt leise aus und geht langsam fort. Fritz macht runde Augen und denkt krampfhaft nach: Felix — Felix. — Gretl aber sieht dem Herrn Rat starr ins Gesicht und weint plötzlich laut auf.

Da kommt die Mutter zurück und scheint sehr erschrocken, als sie den Herrn Rat erblickt. Sie geht mit ihm ins Haus, nachdem sie Gretl dem Kindermädchen übergeben, und Fritz in den Garten geschickt hat. —

Fritz schleicht ums Haus, bis unter die Fenster des großen Speisezimmers. Dort, unter eine dichte Jasminhecke gekauert, findet er Max, der ihm wütende Zeichen macht. Der Kleine kriecht zu ihm hin, Max drückt ihn hart zu Boden und zischt: „Da hock dich her und trau dich nicht zu mucksen! Die sind oben im Zimmer — da hören wir gleich, was los ist!“ Und schon klingt aus dem offenen Fenster die Stimme des Herrn Rats, laut und heftig. Dazwischen ein paar Worte der Mutter — sie weint.

„Ich muß Ihnen gestehen, gnädige Frau, daß ich ein solches Vorgehen nie für möglich gehalten hätte! Den Buben in einem glühheißen, verdunkelten Stadtzimmer einsperren — allein, ohne Trost, als Pflegerin nur die alte Köchin! Seit Tagen hat er kaum noch geschlafen, als ich gestern von der Reise zurückkam und von dem Unglück hörte, lief ich gleich zu ihm und war geradezu entsetzt! Er war halb wahnsinnig, hatte einen förmlichen Weinkrampf! Gnädige Frau — wenn Ihr Herr Gemahl das verantworten zu können glaubt — wie durften Sie das zulassen?“ Hier hört man die Mutter stammeln: „Mein Gott, was kann ich denn tun?“ und dann hilflos aufweinen. Fritz bebt am ganzen Körper in maßloser Aufregung. Max hält ihn hart am Genick gefaßt und schüttelt ihn leise. In seinen Augen ist ein böser Glanz. — Nun geht oben eine Tür, fällt scharf ins Schloß — ein paar starke Schritte — dann des Vaters Stimme: „Was ist denn los?“ — Und wieder des Rates Stimme — Klagen, Vorwürfe. Man hört die Mutter weinen. Der Vater will heftig werden, der Rat gibt nicht nach. — Fritz hat sich ein wenig aufgerichtet und starrt dem Bruder atemlos ins Gesicht: dort steht wilder Triumph. — „Jetzt kriegt er’s einmal ordentlich! Mein Lieber!“ zischt Max. Dann lauschen sie weiter — der Rat sagt aufgeregt, laut: „Es muß sofort etwas geschehen — hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Das Gesetz verlangt die Einwilligung des Vaters — nur deshalb bin ich noch herausgekommen. Ich fahre mit dem Buben morgen früh nach Wien, zu Hofrat Bergmann. Wollen Sie mir eine schriftliche Erklärung mitgeben, daß Sie nötigenfalls mit einer Operation einverstanden sind!“ Das klang wie ein Befehl — die Buben harren entsetzt — jetzt muß etwas Furchtbares folgen. Doch nein — ein kurzer, heftiger Ausruf nur, ein Aufweinen der Mutter, dann tritt der Vater ans Fenster, schließt es umständlich — die Buben drücken die Köpfe tief ins Gras, liegen atemlos still — dann werden die Stimmen leiser gedämpfter, gehen in ruhigen Gesprächston über. Worte versteht man nicht mehr.

Abends müssen die Buben in ihrem Zimmer essen. Der Herr Rat, heißt es, ist wieder weggefahren und lasse sie grüßen. Schwüler Druck über dem ganzen Haus. Max wartet, bis das Mädchen mit dem Essen aus dem Zimmer ist und beginnt dann flüsternd seine Ansicht zu entwickeln: „Die Patrone wird ihm ins Gehirn gegangen sein und jetzt müssen sie ihm den ganzen Kopf aufmachen! Ich weiß, bei uns hat sich voriges Jahr beim Turnen einer den Kopf aufgehaut, dem haben sie auch alles rausgenommen! Mein Lieber!“ — Und Fritz hört bebend zu.

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