Fritz hat in seiner Klasse zwei Freunde gewonnen, den Kolarczik Oskar und den Schneider Josef, beide recht üble Bürschchen von etwas dunkler Abstammung und entschieden mangelhafter Erziehung. Nach Hause darf er sie nicht mitbringen, denn sie essen alles mit den Fingern und sind durchaus nicht sauber gewaschen. Darum hat ihm die Mutter, nach einem ersten probeweisen Besuch, den Verkehr mit ihnen überhaupt verboten. Natürlich trifft Fritz sie nun gewissenhaft auf dem Wege von und zur Schule, hat sich in der Klasse einen Platz in ihrer Nähe gesichert, teilt sein reichliches Frühstücksbrot mit ihnen, und bringt die kurzen Stunden, die er sich nachmittag, unter irgendwelchen lügenhaften Vorwänden, von Hause fortstehlen kann, mit ihnen zu. Das Spielen im Freien ist ihm nämlich nicht erlaubt, ebensowenig der Besuch von nicht bei ihren Eltern wohnenden Schulkameraden, und auch diese Besuche nur, wenn erstens die Eltern anerkannt würdige Leute sind, und zweitens eine richtige Einladung erfolgt ist. Diese förmlichen Nachmittagsbesuche aber sind Fritz ein Greuel, denn unglücklicherweise haben die Leute, die den Eltern als Verkehr zusagen, meist gräßlich zahme und langweilige Musterkinder. Doch Widerspruch gibt es nicht. „Deinen Verkehr haben wir zu bestimmen,“ sagt der Vater. „Ich dulde es nicht, daß du dich mit Gassenbuben herumtreibst!“
Also gibt Fritz nun fast täglich in den späten Nachmittagsstunden Übungen des Schülerchors vor, dem er tatsächlich angehört. Dagegen können die Eltern nichts einwenden, denn der Schülerchor ist das Steckenpferd des Rektors, und dieser ruft die Jungen wirklich weit öfter zu Übungen zusammen, als im Unterrichtsplan vorgesehen ist. Dort steht nur eine Gesangsstunde wöchentlich. Die leiseste Weigerung der Eltern, ihre Kinder an diesen häufigen Proben teilnehmen zu lassen, würde der Rektor als persönliche Beleidigung auffassen. Das alles weiß Fritz genau, weiß auch, daß die Mutter also nie bei ihren Erkundigungen in der Schule ein Wort über die vielen Gesangsstunden wagen würde. So lügt er munter los und weiht die gewonnene Zeit den Freunden. Entweder in dem weiten, alten Stadtpark, bei wilden und verruchten Spielen, oder, lieber noch, in dem dumpfigen, düsteren Hinterzimmer, das die beiden als „Koststudenten“ bei einer ältlichen Witwe zweifelhaften Gewerbes bewohnen. Das Haus, alt und winkelig, liegt in einem elenden Seitengäßchen des Armeleuteviertels. Es hat steile, enge Stiegen, wahre Hühnerleitern, schmale, nie gelüftete Flure, auf die zahllose Kleinwohnungen münden. Es riecht nach unnennbaren Speisen, und ewig gibt’s Krawall — Kinder werden geprügelt, Weiber zanken, oder Eheleute liegen sich in den Haaren. Fritz keucht jedesmal vor Aufregung, wenn er bei seinen Freunden landet. Wenn er gesehen und erkannt würde! Der Vater! — Aber die Witwe freut sich über den feinen Besuch, tätschelt ihm wohlwollend den Kopf und sagt schmeichelhafte Dinge. Und die Freunde ehren den Patriziersohn auf ihre Weise, indem sie die Leckerbissen, die er mitbringt, überschwenglich loben, und gierig verschlingen.
Kolarczik ist übrigens fast fünfzehn, reichlich drei Jahre zu alt für seine Klasse. Sein Bildungsgang ist etwas verworren, um so reifer seine Weltanschauung. Er hat Kenntnisse von Wein, Weib und Gesang, die, im zweiten Punkt, wohl anatomisch falsch oder unvollständig, jedenfalls aber von keinerlei schamhafter Zurückhaltung getrübt sind. Er weiß zahllose Liedlein, die mit kerniger Eindeutigkeit geheime Vorgänge schildern, und singt sie gern mit seiner brüchigen Wechselstimme. Fritz und Schneider Josef müssen die Kehrreime mitsingen. Fritz versteht kaum den zehnten Teil — er ist gänzlich unwissend in geschlechtlichen Dingen, wenn ihn auch längst schon Ahnungen peinigen. Zu fragen wagt er nicht, weil er sich keine Blöße geben will. Irgendwann einmal verrät er aber doch in einer unüberlegten Bemerkung, die gerade recht großspurig wüst klingen sollte, seine völlige Unschuld. Die Freunde verlachen ihn furchtbar, lassen sich aber schließlich herbei, ihm auf ihre Art Bescheid zu sagen. Fritz hört mit heißen Wangen zu. Seine Achtung vor Vater und Mutter bekommt einen furchtbaren Stoß. — Schöne Sachen treiben die! Deswegen darf er nie ins Schlafzimmer!
Die Enthüllung beschäftigt ihn nachhaltig und bei irgendeiner Gelegenheit vermag er der Versuchung nicht zu widerstehen, der Schwester gegenüber sein Wissen wenigstens anzudeuten. „Was denn — der Storch! Sei doch nicht so blöd! — Die Kinder werden der Mutter aus dem Bauch geschnitten, daß du’s weißt!“ Gretl horcht, wie immer, gläubig und mit regster Anteilnahme. Irgendwelche Vorstellung verbindet sie mit dem Gehörten nicht.
Kurz darauf kommt Fritz eines Mittags aus der Schule nach Hause; im Vorraum läuft ihm Gretl arg verweint in den Weg und macht ihm ein flehendes Warnungszeichen. Doch da ist schon die Mutter zur Stelle, mit merkwürdig verbissenem Gesicht — wenn sie die Zungenspitze so zwischen die Zähne klemmt, dann gibt’s was — faßt den Jungen hart am Arm und führt ihn in die kalte Küche, ganz am Ende der Wohnung. Dort liegt schon ein Rohrstock bereit. Ein kurzes Verhör: „Wie darfst du dich unterstehen, der Gretl so unerhört unanständige Sachen zu erzählen? Und so unverschämte Lügen!?“ — „Aber was ist denn ... ich hab doch nix gesagt ... ich ...“ stottert Fritz, der wirklich nicht weiß, was los ist. Er denkt an den „Krieg“ — aber das wär doch nicht so schlimm? — Die Mutter schüttelt ihn: „Lüg’ nur nicht! Mir machst du nichts vor! — Was sagst du? es nicht wahr, daß der Storch die Kinder bringt? Und was hast du noch gesagt?“ — Die Stimme bricht ihr vor Wut und sie beginnt zu schlagen, lange und mitleidslos. Der dünne Rohrstock zieht schmerzhafte Striemen über Rücken, Arme und Beine. Fritz heult furchtbar und denkt dabei doch noch entsetzt, ob wohl „alles“ herausgekommen sei, die Besuche bei den Freunden und das. Endlich hört die Mutter atemlos auf und fragt ihn abgerissen, böse: „Wirst du sowas noch einmal sagen? Ha?“ Fritz schüttelt heulend den Kopf. „Wer bringt die Kinder?“ — Fritz wagt nicht gleich zu antworten, er wittert eine Falle. Doch da klatscht schon eine böse Ohrfeige und er stößt fast schreiend heraus: „Der Storch!“ Die Mutter geht hinaus — er wartet eine Weile, trocknet sich krampfhaft die Augen und schleicht dann in die Vorderwohnung. Im Kinderzimmer sitzt Gretl in einem Winkel und weint still vor sich hin. Fritz fühlt giftigen Haß gegen die Schwester. Er zischt: „Was ist los? Hast du gepetzt?“ — Gretl verneint entsetzt und weint weiter. Er muß sie erst mit einem saftigen Puff zum Sprechen bringen. Dann kommt stockend die Wahrheit: Gretl hat ihren Schulfreundinnen, den Zwillingen des Apothekers, Fritzens Entdeckung weitererzählt. Und die Frau Apotheker ist sich zur Mutter beschweren gekommen. ‚So leid es ihr tue, müsse sie ihren Mäderln wohl den Verkehr verbieten, denn solche Sachen ...’ Und die Mutter hatte sofort Gretl vorgenommen, und die mußte wohl oder übel eingestehen, woher ihr das Wissen gekommen war. Und Gretl hatte, zum ersten Male, einen Hieb bekommen: „Da schau!“ jammert sie, und zeigt einen blaßroten Streifen auf dem Unterarm. „Ja, da schau!“ äfft Fritz wütend nach, streift die Strümpfe von den Beinen und zeigt ihr die breitaufgeschwollenen dunklen Striemen. „Dumme Gans, mußt du alles gleich weitertratschen! Ich könnt dich so dreschen!“ — „Und es ist alles gar nicht wahr!“ trumpft Gretl auf. Doch gleich fällt ihr ein, was die Mutter noch gesagt hat: „Und die Schande, wenn die anständigen Kinder gar nicht mehr mit mir verkehren dürfen! Und nur wegen dir, weil du mich so angelogen hast! Alles gar nicht wahr!“ Fritz kämpft mit dem wütenden Wunsch, den Vorwurf zu widerlegen. Er weiß genau, daß das mit dem Storch dummer Schwindel ist. Doch die Selbsterhaltung siegt. Wenn Gretl wieder klatscht, dann schlagen sie ihn wohl tot. Aber irgendwie muß sich seine Wut Luft machen. „Ah du, Kohlhobel, verdammter!“ flüstert er. „Seitdem du auf der Welt bist, ist es nimmer schön für mich! Früher, da war der Vater gut zu mir, und hat mich in Schutz genommen. Und jetzt krieg ich Dresch’, und Ohrfeigen, und Schimpfe — alles wegen dir! Bis ich mich einmal umbring’!“ Und er heult auf, vor Mitleid mit sich selbst. — Da ist Gretl schon bei ihm, streichelt ihn, spricht ihm zu. „Ich kann doch nix dafür, schau, Fritzl, ich kann doch nix dafür!“ Und sie weint herzbrechend. Fritz muß sie schnell beruhigen, denn er hört den Vater nach Hause kommen. Die Mutter ist bei ihm im Zimmer. Nun sitzen die Kinder, käseweiß, zitternd, und warten, was noch kommen soll.
Doch es kommt nichts mehr. Der Vater ist finster, erwidert den Gruß nicht, spricht bei Tisch kein Wort — aber es geschieht nichts weiter. Als ob er gar nichts wüßte. Und die Mutter hat es ihm doch ganz bestimmt gesagt. Und in Fritz regt sich, ganz geheim und schüchtern vorerst, ein neuer Gedanke: „Aha, er schämt sich — weil ich die Wahrheit weiß! — Aber die Mutter? — Gott, die Mutter — die kann halt besser lügen!“
Nach Tisch, während die Eltern Siesta halten, schleicht Fritz zur alten Nanni in die Küche und klagt ihr sein Leid. Er zieht Jacke und Hemd aus, zeigt ihr den übel zerschlagenen Rücken. Die Alte stottert vor Erbarmen: „Aber mein Gott im Himmel, so därf man a Kind doch nie schlagen ... und wegen sowas ... Jesus Maria, ich därf ja nix sagen ... aber Fritzerle ...!“ Sie weint über ihm, und auch Fritzens Tränen fließen neu, doch diesmal sind sie süß. Die Alte holt Läppchen, tränkt sie in Öl, reibt leise, vorsichtig die bösen, dunkelblauen Striemen ein. Betty, das Stubenmädchen, kommt vom Aufräumen aus dem Eßzimmer und beteiligt sich an dem Liebeswerk. Ihre Augen glitzern. Fritz fühlt an seinem bloßen Fleisch da und dort die Berührung des weichen Mädchenkörpers und ein ungekanntes Gefühl durchrieselt ihn. Sein Wissen um lasterhafte Geheimnisse wird rege.
Im Schlafzimmer sagt derweil die Mutter zum Vater: „Ich habe ihn fest durchgewichst. Das wird er sich wohl merken!“