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Weitaus der feinste Mann der kleinen Stadt war der Graf Orlofsky. Zwar hatte sein Vater eine geborene Krakauer geehelicht und er selbst eine Tochter der weitbekannten Bankiersfirma Pollack & Cie. heimgeführt. Doch war aus dem Goldbad dieser beiden Verbindungen der alte Adel im Glanze neuer Reichtümer hervorgegangen. Der Graf besaß in der Umgegend riesige Güter und hatte sich in der Stadt ein prunkvolles Haus gebaut. „Das Palleeh“ hieß es bei den Einwohnern und galt allgemein als Richtungspunkt. Fragte einer der seltenen Fremden einmal nach dem Wege, so erhielt er unweigerlich die Auskunft: „Da gehen Sie bis zum Palleeh — Sie wissen doch, vom Herrn Graf Orlofsky — und dann rechts — oder links hinunter — oder grad gegenüber, die schmale Gasse ...“

Der Graf veranstaltete für seine sechs Kinder eine Tanzstunde. Und da er stark demokratische Neigungen hatte — die wohl begreiflich waren, denn weder er noch seine Kinder wurden von der Vollblutaristokratie als gleichwertig betrachtet — so wurden auch „Bürgerliche“ hinzugezogen. Zunächst einmal der jüngere Sohn des Herrn Geheimen Kommerzienrats Jonathan. Das war eine unerhört reiche und dementsprechend vornehme Familie, die seit Jahren ständig die Verleihung des Adels erwartete und nur in den allerfeinsten Kreisen verkehrte. Die Söhne waren unweigerlich Klassenerste und ließen sich nach der Schule gerne vom livrierten Groom mit gesattelten Pferden erwarten, um die fünfhundert Meter bis zum elterlichen Hause in kurzem Galopp zurückzulegen. Nachmittags sah man sie oft die Stadt durchtraben. Den Mitschülern gegenüber zeigten sie sich äußerst zurückhaltend und waren angesehen, viel beneidet, aber kaum geliebt. Denn selbst durch noch so hündische Unterwürfigkeit war ihnen nicht richtig beizukommen. Fritz hatte nie eine Annäherung versucht und war ihnen stets verachtungsvoll ausgewichen.

Auch Fritz und Gretl wurden zur Tanzstunde geladen. Denn der Sanitätsrat war Hausarzt in der gräflichen Familie. Und als weitere Bürgerliche endlich noch Karl und Lina, die Kinder des Musikmeisters.

Als der Vater eines Mittags mitteilte, daß die Kinder von nächster Woche an die Tanzstunde besuchen sollten, — er kleidete jede Erlaubnis in die Form eines Befehls — da erwartete er wohl einen Freudenausbruch. Fritz aber schien die Aussicht auf den Zwang zu ungeheuer seinem Benehmen wenig verlockend; er blieb stumm. Und Gretl wurde durch seine abweisende Miene mißtrauisch gemacht. Sie traute seinem erfahrenen Scharfblick immer noch blind. Da polterte der Vater unwillig los: „Da hast du’s ja, Mama! — Da möchte man dem Kerl einmal eine Freude machen, und er sitzt da und verzieht keine Miene! Der richtige Lehmpatzen — gar keinen Funken Temperament!“ Die Mutter stieß Fritz unter dem Tisch an und zischelte heftig: „So bedanke dich doch!“ Fritz war glückselig, daß es ihm gelungen war, den Vater auf ungefährliche Weise zu ärgern. Er erhob sich langsam und murmelte eine gleichgültige Dankesformel: „Ich küss’ die Hand, ich danke schön!“ — Der Vater ging böse aus dem Zimmer, die Mutter folgte ihm, nach einem Strafblick auf den undankbaren Sohn. Kaum waren die Geschwister allein, da erkundigte sich Gretl eifrig: „Was hast du? Freust du dich nicht?“ — „Ah, hör mir auf,“ meinte der Bruder wegwerfend, „mit den adeligen Affen herumhopsen, das wird schön fad sein! Und der dumme Esel, der Jonathan ist auch dabei! Paß nur auf, wie der stolz ist! Aber ich erwisch ihn schon einmal, im Dunkeln wo, wenn er gar nicht wissen wird, wer’s ist! Den box ich so in’ Magen, daß er gleich umfallt!“ — Hier wurde Gretl ängstlich und glaubte abmahnen zu müssen. Doch Fritz unterbrach sie: „Und hast du gesehn, wie sich der Alte gefuchst hat, weil ich so wurstig war? Und die Alte hat mit den Augen geschmissen, so!“ Und er schnitt greuliche Fratzen. —

In den nächsten Tagen wurde für Gretl eifrig eingekauft und geschneidert. Sie bekam ein neues weißes Kleid, mit breiter Seidenschärpe. Und feine Strümpfe und richtige Lackschuhe. Und Galoschen, denn die Kinder mußten zu Fuß in die Tanzstunde gehen.

Für Fritz wurden keinerlei Vorbereitungen getroffen. „Du hast deinen blauen Sonntagsanzug, der ist noch ganz tadellos, und dazu die neuen Schnürschuhe. Die sind auch so fest, daß wenigstens kein Wasser durchdringt, wenn ihr zu Fuß hingeht!“ So hatte der Vater verfügt. Fritz hatte bestimmt mindestens auf Lackschuhe und Galoschen gehofft. Denn die Schnürschuhe waren zwar neu, aber reichlich groß und schwer. Eine schüchterne Andeutung in dieser Richtung wurde aber kurz abgewiesen: „Du bist wohl verrückt? — Ich werde doch einem solchen dummen Jungen keine Lackschuhe kaufen — oder gar Gummischuhe! Hat man so was schon gehört! Eitler Fratz!“

Also stapfte Fritz unglücklich und verbissen mit der Schwester durch nassen Tauschnee zur ersten Tanzstunde. Die andern Jungen waren natürlich alle in Ballkleidung, trugen tief ausgeschnittene Spenzer aus feinem schwarzen Tuch, kleine Maschenbinder, und, vor allem, Lackschuhe. Fritzens Schuhe hatten von der Nässe allen Glanz verloren. Er schämte sich innerlich fast zu Tod, kochte vor Haß und Neid gegen die andern und hätte sie alle gern sterben sehen. Mit größter Mühe nur zwang er die Tränen zurück, die ihm in der Kehle saßen. Seine Verbeugungen und Tanzschritte gewannen durch die Gemütserregung nicht an Anmut. Er fühlte die hochmütig verächtlichen Blicke der andern, sah sie untereinander spöttisch zischeln.

Die Eltern kamen die Kinder abholen. Der Herr Musikmeister, ein kleiner Buckliger, stadtbekannt wegen seiner giftigen Bosheit, musterte Fritz von Kopf zu Fuß mit einem langen Blick voll unverhüllten Hohns. Das machte den Jungen vollends rasend. Auf dem Heimweg mußte er mit Gretl vor den Eltern hergehen. Er weinte wütend in sich hinein und wies die Schwester, die vor Mitleid selbst mit den Tränen kämpfte, gehässig und neidvoll ab. Zu Hause erklärte er der Mutter, fast schreiend vor maßloser Erregung, er gehe nie mehr dahin, und er lasse sich nicht auslachen, und er sei wie eine Vogelscheuche unter den anderen gestanden.

Die Mutter war, bei allem Schrecken über die unerhörte Auflehnung, fast geneigt, dem Jungen recht zu geben. Ihre eigene Eitelkeit hatte darunter gelitten, daß der Junge tatsächlich weitaus am unvorteilhaftesten ausgesehen hatte. Und sie wagte Fürsprache beim Vater. Das ging übel aus: Der Vater fuhr wie der Blitz ins Kinderzimmer, wo Fritz, immer noch wütig heulend, in einem Winkel hockte, und riß den Jungen am Ohr hoch: „Was unterstehst du dich? Du willst nicht mehr hingehn — du — willst — nicht?“ Und drei Ohrfeigen knallen. „Jetzt bekommst du grade keine neuen Kleider, zur Strafe nicht! — Und machst die Tanzstunde bis zu Ende durch. Pünktlich! — Dir werd’ ich’s zeigen, Lausbub, elender!“ Noch ein scharfes Kopfstück, und die Kinder sind allein. Fritz bekommt einen förmlichen Tobsuchtsanfall, wälzt sich auf dem Boden, beißt sich die Fäuste blutig, um nicht durch lautes Schreien strengere Strafe auf sich zu lenken. Gretl, die still weinend in einem Winkel gekauert hatte, kommt schüchtern zu ihm, will ihn streicheln, trösten. Da hört sie den Bruder furchtbare Schmähungen stöhnen: „Der Hund, der verfluchte ... immer dreschen ... wenn er nur krepieren möcht ...!“ Und sie erstarrt in lähmendem Entsetzen.

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