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Im Deutschen unterrichtet der Herr Oberlehrer Dimmel, ein Bauernsohn von ungeschlachtem Körperbau — die Beine leicht gekrümmt, Füße und Hände unförmlich kurz und breit, der ganze Leib, zumal die Schultern, derart mit Muskeln überladen, daß sich die Arme nicht mehr anlegen lassen, sondern pendelnd abstehen. Aus den massigen Schultern wächst ein Stiernacken. Der glattgeschorene Rundschädel ist im Verhältnis viel zu klein und wirkt durch die furchtbaren Kiefer brutal ungeistig. Ein Gladiator. Die Klasse aber nennt ihn den Gorilla. Und sein polternder Scherz, mehr noch die jähen, maßlosen Wutausbrüche, mit Gebrüll und erhobenen Fäusten, rechtfertigen den Spitznamen.

Sein Verhältnis zu Fritz ist zwiespältig: Tagelang hat er seinen Spaß an der aufgeweckten Fassungsgabe des schlanken, blonden Jungen. Bis irgendeine, manchmal vorlaute, oft auch harmlose Bemerkung seinen Jähzorn weckt. Dann donnert er Kathederflüche. „Verzogenes Muttersöhnchen“ — die Schmähung kehrt unweigerlich jedesmal wieder. Fritz hört sie mit innerem Hohn stumm an — was weiß der Bauernlackel, wie es bei ihm zu Hause zugeht! Verzogen — du lieber Gott!

So geht es geraume Zeit wechselnd fort, bis unversehens einmal eine entscheidende Wendung eintritt. Wieder einmal hat der Gorilla getobt und brüllend das unvermeidliche „Muttersöhnchen“ vorgebracht. Fritz hat eben tags zuvor zu Hause einen besonders demütigenden Auftritt gehabt, empfindet wohl stärker als sonst, wie unangebracht gerade dieser Vorwurf ist, und grinst. „Was lachen Sie?“ brüllt der Lehrer. — „Weil ich ein Muttersöhnchen sein soll,“ gibt Fritz zurück und grinst weiter. Der Gorilla gerät vollends außer sich. „Das sind Sie auch — ein jämmerlich verzogenes Muttersöhnchen!“ — Da macht Fritz sein hochmütigstes Gesicht und sagt mitleidig: „Das werde ich wohl besser wissen!“ Sagt es nicht einmal — murmelt es nur, damit er gerade noch von seinem Sitznachbar verstanden werden und später mit seiner Kühnheit Ehre aufheben kann. Aber der Gorilla hat, wenn nicht die Worte, so doch den Sinn erfaßt und tobt furchtbar los. „Was sagen Sie? Was unterstehen Sie sich? Sie glauben wohl, Sie können hier auf den Papa pochen, auf den Herrn Sanitätsrat? Wie? Nun — ich pfeife auf den Herrn Sanitätsrat, mit allen seinen Orden, verstehen Sie mich? Ich pfeife drauf! Hier befehle ich! Und bei mir haben Sie ausgefressen, das sollen Sie noch ganz verdammt zu spüren bekommen, verlassen Sie sich drauf!“ Die Klasse tut alles, was eine gut gezogene Mittelschulklasse in solchen Fällen tut: grinst dem Pöbelzorn des Lehrers Beifall zu, knurrt gemessen Zustimmung, äußert in sprechenden Gebärden Ekel und Abscheu vor dem schwarzen Schaf aus ihrer Mitte. Die Nächstsitzenden rücken angewidert ab und rümpfen Pharisäernasen. „Hunde!“ denkt Fritz, und Haß würgt ihn zum Erbrechen. Er verrennt sich in wüste Rachepläne: „Wenn ich zaubern könnte ... wenn ich Hauptmann wäre ... wenn ... wenn ...“ und er sieht Lehrer und Mitschüler hündisch gedemütigt, gefoltert, gepeitscht, entehrt, hört sie, bäuchlings hingestreckt, um Gnade winseln. Da schreckt ihn des Gorilla Stimme auf: „Heraus mit Ihnen aufs Katheder, und sagen Sie einmal den ‚Prometheus’ auf! Gestern haben Sie’s miserabel gemacht. — Wollen sehen, wie’s heute geht! Los!“

Fritz fühlt, weit fressender, als er es mit Worten ausdrücken könnte, die Demütigung, die darin liegt, daß man ihn gegen seine erkannte Stimmung zwingen will, dieses, gerade dieses Gedicht zu sprechen, das er innerlichst erlebt hat und liebt — freien, offenen Trotz! Wie ein Peitschenhieb noch dazu die Herabwürdigung seiner gestrigen Leistung. Er weiß genau, daß es weit mehr als Schulpathos war, was gestern noch aus seiner Stimme geklungen hat, als er die Verse glühenden Aufruhrs sprach. Nun dies: Miserabel! — Wütende Auflehnung ist in ihm — er möchte mit Füßen stampfen, schreien, sich wehren — blitzschnell zucken ihm verzweifelte Möglichkeiten durch das Hirn — durchbrennen, Schiffsjunge, Selbstmord. — Doch ist er so grenzenlos allein; die ganze Klasse schwelgend in lüsterner Schadenfreude. Keiner wird ihm helfen, keiner. Der Gorilla, siegessicher, rachedurstig. Die Eltern — blinde Verurteilung, Prügel vielleicht. — Da siegt die Knute — er schleicht aufs Podium, würgt an seiner Scham, stammelt eintönig Worte, Sätze. — Der Gorilla hört mit verschränkten Armen zu, ohne Regung von Lob oder Tadel. Nur ein Flimmern ist in seinen Augen; um die breiten Lippen, in deren Winkeln noch Schaum hängt von dem Gebrüll vorher, zuckt Triumph. Er unterbricht nicht, schenkt dem Jungen kein Wort, keine Silbe. Als die zagende, brüchige Knabenstimme längst verklungen ist, nach einer quälenden Pause erst, sagt er mit sattem Hohn: „So, mein Lieber, damit Sie’s wissen: das ist ganz ungenügend! Abtreten!“ Und die Klasse gröhlt Zustimmung. Jeder weiß, daß es ihm morgen, vielleicht heute noch, genau so gehen kann. Grund genug zur Freude, nun, da es einen andern trifft.

Und so blieb es von da an. Der Gorilla erwies sich als weit erfinderischer im gefahrlosen Quälen, als irgend jemand vermutet hätte. Bis er sich zu einer offenen Rechtsbeugung hinreißen ließ. Da war eine Hausaufgabe gestellt worden: „Die Hand, ihre Bedeutung in der Entwicklung der Menschheit“. Ein sogenanntes ‚freies Thema’ also, wie sie Fritz von Herzen mochte. Denn es gab auch andere, religiöse, oder scharf patriotische, oder gar grammatikalische, wie „ing, ling, ung, drei Endungen und ihre Bedeutung“. Mit denen wußte er nie was anzufangen, obwohl viele aus der Klasse sie freudigst begrüßten, denn dabei ließen sich aus dem Katechismus, dem Geschichtsbuch oder der Grammatik oft ganze Absätze verwerten. Die freien Themen hingegen waren vielen ein Schreck. — Fritz also schrieb mit Eifer, baute atemraubende Perioden, prägte Bilder, sparte nicht mit Zutaten. Es wurde ein wohlgerundeter Aufsatz, auf den man wohl stolz sein konnte. Am letzten Abend vor der Ablieferung kam atemlos Müller Fritz an, weitaus der Schlechteste der Klasse, der nur seinem inbrünstigen christkatholischen Glauben und der Gönnerschaft des Katecheten das Weiterrutschen von Jahr zu Jahr dankte. Müller also bat dringend, Fritz möchte ihm doch bei dem Aufsatz helfen, er wisse nicht ein noch aus. Und Fritz kam der Aufforderung gerne nach, gab einiges aus seinen kühnen Gedankengängen zum besten, ließ den andern auch die fertige Arbeit durchlesen. Der dankte sehr und ging.

Fritz sah der Rückgabe des Aufsatzes mit Ungeduld entgegen. Gemeinhin war Deutsch der einzige Gegenstand, in dem er auf gute Zensuren mit Selbstverständlichkeit rechnen konnte. Doch war diesmal sein Ehrgeiz stärker als sonst im Spiele, der glücklichen Behandlung des schönen Themas wegen, dann, weil es ihm Freude machte, gerade dem Gorilla eine gute Note abzuzwingen. So schlug er, als die Hefte verteilt wurden, das seine mit Siegermiene auf. Was stand da: „Von Müller abgeschrieben, daher ungenügend!“ — Er, der seit Jahren stets den besten Aufsatz schrieb, er sollte von Müller abgeschrieben haben! Von Müller, der in Deutsch bitterer als in jedem andern Fach mit dem Durchfallen kämpfte! — Der maßlose Schimpf erstickte den Jungen fast. Bald aber regte sich die Rachsucht: Diesmal sollte es dem Gorilla einmal schlecht bekommen! Denn Vater und Mutter hatten den Aufsatz gelesen und gut befunden, sehr gut sogar. Die Mutter war leicht gerührt gewesen, der Vater hatte sich zu einem beifälligen Knurren aufgerafft. Nun mußte er bei ihnen Schutz finden! Der Vater würde zum Direktor gehen, sich beschweren, dabei würden die alten Sachen, über die er bisher geschwiegen, auch zur Sprache kommen — „ich pfeife auf den Herrn Sanitätsrat mit allen seinen Orden!“ — Das, und vieles andere. Warte, Gorilla, Hund, Schuft!

Es kam anders. Die Mutter zwar zeigte sich verletzt über die Unbill, von einer Beschwerde aber wollte sie nichts wissen. Und der Vater hörte die empörte Erzählung gar nicht bis zum Ende an. „Der Herr Oberlehrer Dimmel wird ganz genau wissen, was er tut! Du wirst dich eben niederträchtig benommen und den Mann bis zur Raserei geärgert haben — das hast du jetzt davon! Beschweren! Was bildest du dir eigentlich ein? Als ob ich nicht schon genug Scherereien mit dir hätte, Lausbub, elender! Daß ich kein Wort mehr von der Geschichte höre! Da — nimm den Fetzen mit!“ Damit warf er dem Jungen das Heft vor die Füße und schob ihn unsanft zur Türe hinaus.

Draußen erwartete ihn Gretl, bleich und zitternd vor Mitleid. Er tappte tränenblind an ihr vorbei, hockte sich in einen Winkel nieder und stöhnte seine Wut vor sich hin: „Schurigeln, Dreschen, Schimpfen — das kann er! Aber einen Finger rühren, wenn einem unrecht geschieht — da drückt er sich! Schuft!“ Die Schwester hielt ihn umfaßt, streichelte ihn, küßte sein Haar. Und sie weinte über ihm.

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