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Spätherbst in der Tiefebene. Grau verhängter Himmel, ewiger Sprühregen in der Luft, zäher, schlüpfriger Schmutz auf Wegen und Straßen. Alles Leben auf den weiten Feldern ist erstorben. Keine Gespanne mehr, kein Arbeitslärm. Drinnen in den Straßen stehen die häßlichen Kleinstadthäuser doppelt unwirtlich im Wasserdunst. Wochenlang keine Sonne. Kaum, daß ein fahler Schein im Osten oder Westen zeigt, wo sie froheren Menschen auf- und untergeht. Fritz liebt die Jahreszeit. Er wirft seine Mißstimmung, seine wehrlose Knabensehnsucht, seine Todeswünsche in diese Natur, die stumm und trostlos ein unabänderliches Schicksal trägt. Und die Erde, ertrunken in grauem Regen, saugt den Tropfen Unglück auf wie ein Meer. Fritz fühlt sich zwerghaft klein vor den toten Feldern, und doch getröstet. Was war das alles — der Jammer mit den Eltern, den Lehrern, mit den Freunden, die einen um ein Butterbrot verrieten? Nichts, weniger als nichts — noch nicht soviel wie ein Hauch, der die Nebel da draußen einen Augenblick lüften könnte. Er neidete der Erde ihre Leidensgeduld. Jeder Stein, jeder kahle Zweig, der widerstandslos die Zeit überdauerte, weckte seinen Neid. Wer sein könnte wie die Steine, wie Sträucher und Bäume, — ruhig liegen, warten, bis das Leben kam — oder nicht kam. — Oft warf er sich auf die Rasenränder an den Feldwegen, riß mit bebenden Händen dicke Grasbüschel aus, schleuderte sie mitten in den Schlamm der Wagengleise: Kein leisestes Zucken verriet Widerstand; sie lagen welk und dürr, ließen sich vom Morast verschlingen. — Und Fritz haßte glühend das Etwas in ihm, das ihn ewig von diesem toten Frieden in der Natur trennte, dies dunkel Bohrende, das ihn ewig trieb, Verbotsschranken heimlich zu überklettern; — heimlich, das war’s; denn zu offener Auflehnung reichte die Triebkraft nicht. Heimlich: das waren tausend Lügen an jedem Tage, stündliche Gewissensbisse, schaler Ekel oft — Betty, und der Alkohol, und Spaziergänge, wenn er lernen sollte. Heimlich: das war der Mensch. Hier draußen gab’s keine Heimlichkeit — hier paarte sich alles, wuchs und starb, und scheute kein Trieb das Licht. Und kein Weg von den Häusern, den Städten voll Lüge zu den Feldern der Wahrheit. Mensch bist du — und Lug und Trug, Haß und Neid, Rachsucht und der ewig geduckte Nacken, sie sind dein Los. Das trage du, bis die Erde dich wieder nimmt und aus deinen verwesten Knochen Gras und Blumen Nahrung gibt! —

Von solchen Spaziergängen brachte der Junge immer eine fressende Wut zurück. Verbissen ergab er sich allerlei verbotenem Tun, denn auch dafür boten die frühen Abende erwünschte Deckung. Man konnte auf öffentlichen Straßen und Plätzen rauchen, wenn man nur die geringe Vorsicht übte, die Glut der Zigarette mit der hohlen Hand zu verdecken. Man konnte sich draußen in der Vorstadt, bebend zwar, doch mit ziemlicher Sicherheit, in üble Spelunken wagen und für wenige Pfennige mitgebrachte Fläschchen mit starkem Fusel füllen lassen. „Rosoglio“ — das Wort weckte Vorstellungen von orientalischer Ausschweifung, übte zauberhafte Lockung aus. Das Getränk schmeckte dann süßlich fade, hinterließ Sausen im Kopf, bitteren Nachgeschmack und leichte Übelkeit. Doch lag die Schuld natürlich nicht an dem Wundertrank — die Knabenkehle war noch nicht ausgepicht, nicht erwachsen genug, und nur Übung und wieder Übung konnte hier den Meister machen.

In kleinen Bierschenken wurden auch studentische Bräuche fleißig vorgeübt, aus schmutzigen, dicken Gläsern Unmengen abgestandenen Bieres getrunken, daß mancher sich elend übergab. Das war Selbstzucht zum Manne. Dann hieß es, mit dem Überrock am Arm, nach Hause rennen und dabei fleißig Pfefferminz kauen. Ohne Überwindung konnte man auch das gute Abendessen zu Hause stehen lassen, Überanstrengung beim Lernen vorschützen und, je nachdem, ein wenig Mitleid einheimsen. Und überschwellend vor Bosheit, auf neue Lügen sinnend, endlich schlafen gehen und auf Betty warten, die spät nachts oft geschlichen kam und Bett und Zimmer mit dem Geruch ihres Haares und ihrer groben Wäsche erfüllte. Und in keinem Augenblicke seines Wachseins ließ ihn die Lüge los. Wenn nach keuchender Umarmung das Mädchen ihn fragte, scheu, demütig: „Hast du mich auch ein wenig lieb?“ dann zwang er sich ein „Ja“ ab und genoß schmerzhaft die eigene Niedertracht. Denn er haßte die Räuberin seiner Jugendkraft, haßte sie glühend, und seinem Trieb gesellte sich Mordlust.

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