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Das Abiturium stand vor der Türe. Fritz schien gänzlich unberührt von dem bitteren Ernst der Stunde, betrieb nach wie vor das Studium lässig nebenbei und verließ sich frohgemut auf seinen guten Kopf. Grammatik, sein Schreckgespenst, kam ja bei der Prüfung nicht in Betracht. Und bei dem Übersetzen aus dem lateinischen oder griechischen Urtext konnte ihm nichts geschehen. Davor zitterten wohl einige der Musterknaben, die Grammatikbüffler und Paradigmenreiter. Die hatten sich, in sklavischer Anpassung an den Lehrplan, durch lange Jahre den Kopf mit wüsten Regeln vollgepackt, und keiner, auch der Klassenerste nicht, hatte es im Latein, geschweige denn in Griechisch, zu irgendwas wie Stil gebracht. Dafür saßen sie meist kläglich hilflos vor der Stegreifübersetzung aus dem Urtext. Denn über dem krampfhaften Aufpassen auf Vokabeln und grammatischen Aufbau ging ihnen der Zusammenhang verloren. Der Jahreszensur schadete das nicht. Denn für die Mehrzahl der Lehrer war die klassische Literatur nicht etwa ein Wert an sich, sondern immer nur Prüfstein für das grammatikalische Wissen. Wie der Kasernendrill sich im Manöver bewährt. Fritz, der bekannt faule Bursche, hatte ewig mit der Grammatik zu kämpfen gehabt, dafür aber ehrliche Liebe zu der behäbigen Redseligkeit des Homer gefaßt, oder zu dem würdigen Bürger Tacitus, dem oft und oft der Stolz auf die eigene Tüchtigkeit zwischen die Zeilen rutschte. Danach aber hatte nie jemand gefragt. Und der Junge empfand es als ausgleichende Gerechtigkeit, daß sich nun bei der Abschlußprüfung das Blatt wendete.

Die Mutter brachte von Stadtbesuchen immer wieder die Kunde, daß der und jener unter Fritzens Mitschülern, nach dem Zeugnis tiefbewegter Eltern, weit über jedes Maß, Nächte und Nächte lang studiere. Und knüpfte lehrhafte Ermahnungen daran und gerührte Bitten. Der Vater aber verrannte sich in Schwarzseherei und zeigte nicht übel Lust, den Jungen vor der Prüfung aus der Schule zu nehmen, um sich, wie er sagte, die Schande zu ersparen, daß einer seines Namens und Blutes mit Pauken und Trompeten durchfalle. Nur dem wortreichen Zuspruch alter Freunde gelang es, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Auch Felix und Max rieten dazu, den Versuch doch zu wagen. Die beiden galten nun beim Vater vorübergehend fast als Herren, denn Felix hatte mit Auszeichnung seinen Doktor gemacht, Max war mit gutem Rang zum Leutnant befördert worden. Ziemlich gleichzeitig waren sie in der Vaterstadt angekommen und bei den Familienfestlichkeiten zu ihrer Begrüßung bekam Fritz manchen Vergleich zu schlucken, der für ihn wenig schmeichelhaft war. Die Vergleiche ließen ihn ebenso kalt, wie die dünkelhaften Ratschläge, mit denen Felix ihn überschüttete. Wohl aber kränkte es ihn, daß auch Max, mit dem ihn von Kinderzeiten her ein froher, wenn auch heimlicher Rebellengeist verband, daß auch Max Ausdrücke wie „der Alte“ nicht mehr litt, immer sehr förmlich und salbungsvoll von „unserem guten Papa“ sprach und auch sonst seine Stimmberechtigung im Familienrat gewichtig hervorkehrte. „Wenn ich mich für dich bei unserem guten Papa verwende, dann erwarte ich aber auch ...“ Solche und ähnliche Redewendungen, die Max gerne brauchte, entfremdeten ihm den jüngeren Bruder.

Eine Woche vor der Prüfung wurde der Unterricht geschlossen, um den Abiturienten Zeit zur letzten Sammlung zu geben. An einem der letzten Schultage gab es noch großen Krach. Fritz hatte sich, leicht erschreckt über die immerhin erheblichen Lücken seines Prüfungswissens, mit Feuereifer auf das Studium gedrängter Leitfaden gestürzt, die in der Klasse von Hand zu Hand gingen. Nun war ihm für einen bestimmten Tag die leihweise Überlassung einer Aufgabensammlung zur Physik versprochen. Gerne wäre er zu Hause geblieben, doch erschien es als völlig aussichtslos, vom Vater die Erlaubnis zu erwirken. Also wählte er den Ausweg, sich während der ersten Unterrichtsstunde krank zu melden. Den Vormittag brachte er bei einem Kameraden zu und arbeitete mit ihm das Hilfsbuch glücklich durch. Nun begab es sich aber, daß nach Fritz noch ein halb Dutzend andere auf den Gedanken kamen, vorzeitig wegzugehen, so daß mit denen, die ohne weiteres zu Hause geblieben waren, rund ein Drittel der Klasse fehlte. Der Rektor konnte es sich nicht versagen, die Bürschlein, knapp bevor sie seiner Gewalt entrückt wurden, noch einmal seine Macht fühlen zu lassen und schickte den Schuldiener von Haus zu Haus, um nach den „Kranken“ zu sehen. Natürlich waren viele nicht zu Hause — so auch Fritz. Dafür wurden dann wieder Gruppen von vier und fünf betroffen, die in furchtbarem Tabaksqualm auf irgendeiner sturmfreien Kostbude büffelnd zusammenhockten. Als Fritz, leicht beklemmt, mittags heimkehrte, wurde er von der Mutter tränendüster empfangen und die Brüder brachen mit wuchtigen Worten den Stab über ihn. Der Vater nahm den Vorfall zum Anlaß, um sich des längeren über Fritzens Charakterlosigkeit auszulassen und die düstersten Prophezeiungen zu äußern.

Am nächsten Morgen gab es in der Schule ein Strafgericht. Der Rektor schwelgte, ein letztes Mal dieser Klasse gegenüber, im reichlichen Gebrauch von Blitz und Donner. Doch erwies es sich, daß alle zwölf Missetäter glaubhafte Ausreden, auch elterliche Zeugnisse zur Hand hatten — bis auf einen, Fritz. Ihm wurde nun anheimgegeben, bis zum Nachmittage ein elterliches, also zugleich ärztliches Zeugnis beizubringen, widrigenfalls er eine Karzerstrafe von drei Stunden zu gewärtigen habe. Der Junge war der Verzweiflung nahe und bat zu Hause flehentlich um Ausstellung des Zeugnisses. Der Vater lehnte es schroff ab: „Dir fehlt gar nichts, du bist nicht krank. Falsche Zeugnisse unterschreibe ich nicht. — Du hast dir die Suppe eingebrockt, nun löffle sie auch aus!“ Dabei blieb es. Dem Rektor schien es aber letzten Endes doch nicht geraten, allzu scharf zuzupacken — denn die elf anderen Zeugnisse waren naturgemäß alles eher als stichhaltig — und so gab er vor versammelter Klasse Fritz kund und zu wissen, daß ihm die rechtens verhängte Karzerstrafe in Gnade erlassen sei.

Eine Woche später begann das Abiturium. Am Morgen des zweiten Prüfungstages kam Fritz an die Reihe und bestand mit guter Durchschnittsnote. Seine erste Regung bei Verkündigung des Ergebnisses war Rachsucht und frohlockender Haß. Am liebsten wäre er dem Gorilla und dem Rektor an die Kehle gefahren. Doch bezwang er sich und stürzte grußlos aus dem grauen Steinbau hinaus auf die Straße, wo ihn die Brüder besorgt erwarteten. Sie wollten ihm zunächst nicht glauben, denn für sie war es nur die Frage gewesen, ob er auf zwei Monate oder auf ein Jahr durchfliegen würde. Dann aber zeigte Max ehrliche Freude über das kühne Stücklein, während Felix in seiner Anerkennung mit leisem Neid zu kämpfen schien: Da war also dem Jungen mühelos ein Erfolg zugefallen, um den er selbst bitter hatte kämpfen müssen. —

Der Heimweg führte an einer Bodega vorbei. Die Brüder traten mit dem Jüngsten ein und nahmen ihn, mit einigen Gläsern Portwein, feierlich unter die Erwachsenen auf. Der starke Wein auf leeren Prüfungsmagen hatte die betrübliche Wirkung, daß Fritz die Herrschaft über seine Gliedmaßen etwas verlor und unter entsetzlichen Lästerungen gegen die nun abgetanen Zwingherren, vor allem den Gorilla, dahinschwankte. Die Mutter, die mit Gretl am Fenster stand und nach dem Kandidaten ausspähte, mißverstand diese zügellose Haltung und sah darin den Ausdruck wütiger Zerknirschung über völligen Mißerfolg. In diesem Sinne begann sie eben den Vater vorzubereiten, als Fritz von den Brüdern hereingeschoben wurde und sofort ein häßliches Wort über den Gorilla fallen ließ. „Natürlich ist der Kerl schandbar durchgeflogen?“ fragte der Vater böse. Und man konnte sehen, daß es ihm im Grunde unlieb war, das Gegenteil zu hören, weil er die längst überdachte, erschütternde Strafpredigt nun ungebraucht bei sich behalten mußte. Es folgten wortreiche Auslassungen über den geradezu haarsträubenden Dusel, den der Faulpelz bewiesen hatte. Hier tat sich Felix sachkundig hervor.

Gretl aber benützte einen unbewachten Augenblick, um dem Bruder zuzuflüstern: „Alle haben gesagt, du fliegst unbedingt. Aber ich nicht! Ich hab’ gewußt, du kommst durch!“ — „Ah was,“ zischelte Fritz zurück und mimte Verachtung, „die wissen viel, wer ich bin! Ich und durchfliegen — zum Lachen!“ Aber er küßte der Schwester die kleine feste Hand.

Abends bekamen die drei Brüder die Erlaubnis auszugehen. Sie setzten sich in eine Bierstube. Max erzählte kernige Witze, Felix gab gönnerhaft einige Stücklein aus seinem Studentenleben zum besten und Fritz war nahezu glücklich, nur ärgerte es ihn, daß ihn die Brüder augenscheinlich für viel ahnungsloser hielten, als er es tatsächlich war. Doch hütete er sich wohl, etwas von seinen Nebensprüngen zu berichten. Natürlich kam auch die Prüfung nochmals zur Sprache, und Felix meinte scherzhaft, doch mit unverkennbarer Bitterkeit: „Du weißt ja gar nicht, wie gut du’s hast! Wenn ich denke, was ich gekeilt hab’, damals noch dazu, knapp nach der Geschichte mit meinem Aug’! Nächte und Nächte durch! Und nie ein Lob, und immer Krach — alles mit Auszeichnung war selbstverständlich, und weniger als sehr gut war schon elende Lumperei — und du? Bei dir haben sie ja förmlich geweint vor Freude, weil du nur nicht durchgeflogen bist. Und, sind wir ehrlich — du warst doch wirklich unanständig stinkfaul!“ Doch Fritz war um die Antwort nicht verlegen: „Wer hat dich denn gezwungen zum Büffeln? Und was hast du denn gehabt davon? Schließlich hat der Alte ja doch geschimpft! — Na, bei mir hat er auch geschimpft — aber ich hab’ mich wenigstens nicht zerrissen! Auszeichnung oder nicht — danach fragt einen später kein Teufel!“ — „Na, mit solchen Ansichten wirst du’s ja weit bringen,“ gab der Älteste würdevoll zurück. Doch Fritz merkte gut, wie betroffen er war.

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