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Und Träume reifen: Die Freiheit ist nah! — Die Wochen verfliegen mit emsigen Vorbereitungen; Wäsche wird besorgt, Schuhe, ein Anzug, dessen Schnitt sich von der quäkerhaften Einfachheit der Schulgewänder vorteilhaft unterscheidet. Fritz geht ständig in leisem Fieber umher. Er sehnt sich so maßlos hinaus, daß die Allotria seiner Schulzeit ihm schal und reizlos erscheinen. Betty läßt ihn ganz kalt, er wehrt sie heftig ab, wenn sie sich ihm nähern will. Wozu jetzt noch Heimlichkeiten, die doch nur kläglichen Ersatz bieten konnten! In wenig Wochen war er an der Universität, der strengen Fuchtel endlos weit entrückt — da sollte das Freiherrenleben angehen! Übrigens fühlte er sich häufig seltsam müde, auch ein wenig ratlos vor dem neuen Lebensabschnitt. Ganz insgeheim regte sich mitunter die Selbsterkenntnis, daß ihm der streng geregelte Pflichtenkreis der Schule doch etwas fehle, daß die vertrauten Hintertürchen wohl ihren Reiz hatten. Nun gab es bald nichts mehr zu lügen — konnte das noch lustig sein?

Über die Wahl der Fakultät gab es langes Hin und Her. Fritz war beim besten Willen außerstande, eine bündige Antwort auf die Frage zu geben, was er nun studieren wolle? Er empfand es sogar als schmerzliche Schattenseite der neuen Freiheit, daß man ihn überhaupt fragte und nicht wie bisher immer einfach vor fertige Tatsachen stellte. Die Mutter liebte es, ihm den und jenen Bekannten in besonders glänzender Stellung als Beispiel zu nennen, mit der Frage, ob er nicht Lust hätte, dasselbe zu erreichen? Da war ein Gerichtspräsident, ein Universitätsprofessor, ein hoher Regierungsbeamter und, natürlich, auch der Vater, der Herr Sanitätsrat. Und Fritz hatte für jeden der angeführten Berufe ein zögerndes Ja. Das Fertige, die Machtfülle, reizten ihn. Zu innerst aber empfand er Grauen vor dem Beruf, der Tretmühle, dem Angehängtsein. Letzten Endes war es ja nicht zu vermeiden, man mußte eine „Stellung“ haben — aber später doch, viel später! Jahre noch lagen dazwischen — was konnte da alles geschehen? Er konnte einen Schatz finden, ein alter Fürst konnte ihn adoptieren, er konnte eine Erfindung machen, kurzum, zu rasendem Reichtum kommen — und dann ade! Gerichtspräsident, Professor und Regierungsrat! Er sah sich schon auf feurigem Rappen durch Wälder und Fluren sprengen, die ihm untertan waren, sah sein Schloß vor Augen, das stolz und weiß von steilem Hügel grüßte. —

Die Träume behielt er für sich, kaum daß er sie der Schwester andeutete, die ihn mit sehnsüchtigem Lächeln anhörte. Inzwischen ließen die Eltern nicht ab, ihn zur Entscheidung zu drängen. Einmal sagte ihm der Vater mit größtem Nachdruck: „Ich bestehe darauf, daß du dich selbst entscheidest! Du sollst nicht sagen dürfen, daß du zu einem Studium gezwungen wurdest! — Nun? Wird’s bald?“ — Und Fritz, um der Sache ein Ende zu machen: „Ich will Medizin studieren!“ — Dem widersetzte sich jedoch der Vater mit einer Heftigkeit, die mit der anfangs angekündigten Entschlußfreiheit in argem Widerspruche stand. Sonderlich stichhaltige Gegengründe wußte er übrigens nicht anzuführen, gab sich auch, wie gewöhnlich, keine Mühe dazu. Fritz erriet als wahren Grund, wie bei manchen anderen Verboten, dumpfe Eifersucht — es sollte nur einen Arzt in der Familie geben, wie es nur einen Jäger gab, einen Schützen. Da wurde die innere Gleichgültigkeit des Jungen zum bitteren Trotz, und er schwieg beharrlich auf alle weiteren Fragen, bis ihm endlich der Beschluß verkündet wurde, er sollte, wie Felix, Jura studieren. Als Jurist hätte er dann die Wahl unter zahllosen Berufen, könne eigentlich unter den gegenwärtigen Verhältnissen tatsächlich alles werden. „Bist du damit einverstanden?“ fragte der Vater dröhnend. „Ja,“ antwortete Fritz, verbeugte sich kurz und war entlassen. Draußen vertraute er sich der Schwester an: „Das haben sie natürlich längst ausgemacht gehabt, daß ich Jurist werden soll. Was sie da noch lang gefragt haben!? So ein blödes Theater, so ein verfluchtes!“ — Doch als die Schwester ängstlich fragte, ob er mit der Wahl unzufrieden sei, gab er großspurig zurück: „Ah was, mir ist doch das ganz wurst, für was die mich jetzt einschreiben — ich werde doch ganz was anderes — du wirst schon sehen!“

Dann kam der Abschiedstag. Die Mutter war gerührt, stammelte Ermahnungen, küßte ihn auf Mund und beide Wangen. Als sie ihm mit zitternder Hand das Kreuzeszeichen auf die Stirne machte, empörte sich sein wilder Unglaube und er hatte große Mühe, eine Gebärde wütender Abwehr zu unterdrücken. Der Vater, der ihn in die Hauptstadt bringen wollte, schien einer gewissen Weichheit nicht abgeneigt und sprach mit tiefer Kehlstimme. „Na, sieh dich noch einmal gut um, Junge,“ sagte er, „du gehst jetzt aus deinem Elternhaus — von nun an kommst du nur noch als Gast zurück!“ Und Fritz dachte blitzschnell ein gehässiges „Gott sei Dank!“, dann wandte er sich der Schwester zu, die mit zuckenden Lippen abseits stand. Sie kämpfte tapfer mit dem Weinen und lächelte, faßte seinen Kopf mit beiden Händen und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich werde immer an dich denken, immer!“ Dann küßte sie ihn mit den kühlen, schmalen Mädchenlippen, und eine Träne blieb auf seiner Wange. Da erst kam dem Jungen der Abschied zum Bewußtsein, die Trennung von diesem treuen, gütigen Wesen, das durch alle Bitterkeit und Süße der Jugendjahre neben ihm hergegangen war, immer bereit zu helfen, zu trösten und mitzuleiden. Hatte er ihr je vergolten, je auch nur gedankt? Eine rasende Angst packte ihn, als könnte es für immer zu spät sein. Gestern noch, als sie seinen Koffer packte, da hätte er ihr sagen müssen ... oder frühmorgens ... doch der Vater mahnte zum Aufbruch, mit seltsam heiserer Stimme. Da warf der Junge beide Arme um die schlanke Schwester und küßte sie wild. Und in diesem Kusse, bitter von reichen Tränen, lag Dank und Abschiedsweh und ein Gelöbnis unverbrüchlicher Treue an sie, die seine Kindheit in sich trug, seine Heimat und sein reinstes Gefühl.

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