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Da sind sie wieder, die engen Gassen und Plätze, mit schlüpfrigem Schlamm auf Fahrdamm und Bürgersteig, die häßlichen Häuser, die sich verwittert, schmutzig ducken, die weiten Felder ringsum, die im Grau des sprühenden Nebels verschwimmen. Alle Dinge haben Blicke, Gesichter und ihre stumme Sprache: „Zogst du nicht aus, das Leben zu erstreiten? Wo ist die Siegerkrone, wo die Freude, die du an deinen Wagen ketten wolltest? Woher die bitteren Falten um deinen Mund, du stürmender Bezwinger?“ — Und Fritz schleicht scheu und verbissen an den hämischen Häusern entlang. Das Mitleid der Menschen aber folgt ihm auf Schritt und Tritt. Ihm entrinnt er nicht — es hat scharfe Augen, schnelle Beine und eine geläufige Zunge. Es blickt hinter geschlossenen Fenstern hervor, es züngelt aus Menschengruppen auf, an denen er vorbeihastet, oder es stellt sich ihm breit, selbstbewußt, drohend fast, in den Weg: „Ich bin das Mitleid, ich will deinen Dank zehnten, wag es nicht, mich abzuweisen!“ — Und es hat einen weiten Mantel, in dessen Falten Haß, Neid, Eifersucht und Selbstgerechtigkeit sich kichernd verbergen. Verfluchtes Mitleid!

„Was seh’ ich, der Jüngste vom Herrn Sanitätsrat? Sie tun mir ja so furchtbar leid, so jung, kaum ins Leben getreten — und nun diese böse, böse Krankheit! Ein Blutsturz, wie? Und was sagt denn der Papa? Glaubt er denn, daß es noch besser werden kann?“ — „Mein Gott, lassen Sie sich doch ansehen — Sie scheinen doch sehr angegriffen! Ein Blutsturz! — Mein Mann sagt immer: nur nichts mit der Lunge! Das ist das Ärgste!“

Verfluchtes Mitleid!

Zu Hause: Die Mutter, vergrämt, ewig auf Schonung bedacht, den Tageslauf mit Ermahnungen begleitend. Der Vater ernst und leicht gereizt. Sein eigener Sohn — lungenkrank! Schande! Nun — wenn stete Aufsicht und strenggeregelte Lebensweise helfen können — daran soll’s nicht fehlen!

Gretl bleibt still. Sie fühlt, daß Mitleid den Bruder quälen müsse. So zeigt sie ein aufmunterndes Lächeln, wenn ihr auch Tränen in der Kehle sitzen.

Fritz selbst empfindet alle Befürchtungen und düsteren Voraussagungen, als könnte ihm die Krankheit ans Leben gehen, immer noch als übertrieben lächerlich. Er fühlt sich nun, da die Blutung überwunden ist, so wenig wie je in seiner Bewegungsfreiheit gehemmt. So weit es auf ihn, auf seinen Körper ankommt. Kein Fieber, kaum ein wenig Husten — keines der ekelhaften Symptome, von denen Zeitungen und Konversationslexikon zu erzählen wissen. Er hat die Krankheit fast vergessen, wäre innerlich bereit, das Studentenleben unverzüglich aufzunehmen. Die andern aber und vor allem der Vater: die haben nicht vergessen, vergessen keinen Augenblick, daß er krank, schonungsbedürftig, unfrei ist, und daß man ihn also, natürlich zu seinem eigenen Besten, mit Verboten umzirken muß. Rauchen, Trinken, abends ausgehen, Theater, Jagd — kurz alles, was den „Erwachsenen“ ausmacht, die Freiheit also — alles wird schroff verboten. Dazu auch noch das bescheidene Maß von Sport, das ihm während der Schulzeit bewilligt war — Radfahren, Fußball. Sie brechen ihm die Flügel — und er läßt es ratlos verbittert geschehen. Von Jugend auf hat er gegen die wuchtige Persönlichkeit des Vaters, gegen seinen starren, oft ungerechten Willen, wohl blinde Verneinung, auch Haß aufgebracht, doch nie offenen Trotz, Widerstand. Wie oft hatte er, mit glühender Verachtung gegen sich selbst, seinen Sklavensinn verflucht, das Ducken, Lügen und heimliche Toben, hatte wilde Vorsätze gefaßt, — um sie dann vor einem Blick des Vaters in Nichts zerflattern zu sehen. Und jetzt: zu unbändig stürmisch war sein Lebensdrang, zu sprühend jung, zu ungeleitet er selbst noch, als daß ruhige Überlegung ihm den Weg zu innerer Freiheit hätte weisen können. Wenn er nun alle unerfüllbaren Wünsche abtat, den freien Verzicht auf alles aufbrachte, was nach des Vaters Meinung mit seinem Zustand unvereinbar war, sich zu einem zahmen Stubenleben, mit Büchern und physikalischen Experimenten entschloß? Gab es nicht unter den Erwachsenen Nichtraucher, Nichttrinker, Nichtjäger in Menge? Machten wirklich nur diese Genüsse so unbedingt das Leben aus, daß man sich sie nötigenfalls heimlich verschaffen mußte, um vor sich selbst Geltung zu behalten? — Und in jäher Sehnsucht nach friedlicher Ausgeglichenheit mit seiner Umgebung warf er sich auf Bücher, fraß die väterliche Bibliothek gierig in sich hinein, bis ihm der Vater eines Tages einen Cooperband wegnahm: „Das ist noch lange nichts für dich; such’ dir was Vernünftiges, Weltgeschichte oder Brehm! Und überhaupt hast du von jetzt ab zu fragen, was du lesen darfst! Meine Bücher sind durchaus nicht für dich da!“ Noch hielt sich der Junge, ließ zwar die Bücher sein, warf sich aber auf Physik, baute elektrische Anlagen, Läutewerke, Lampen, Motor, alles von einer Batterie gespeist. Eine Spielerei nur, doch er nahm sie ernst, träumte sich über Jahre hinweg, zum mächtigen Fabriksherrn, bis der Vater auch hier eingriff: „Die Bastelei ist vollständig wertlos — Techniker wirst du ja doch nicht! Fang’ etwas Nützliches an!“

Und da war es vorbei mit allem guten Willen: die Krankheit war nur ein Vorwand, um das Überwachen, Hineinreden, Schurigeln, Drillen ungestört andauern lassen zu können! Darauf allein kam es an, ihn weiter unterm Absatz zu behalten. Um seine Jugend wollte man ihn betrügen!

Böse Zeit! Die Tage schleichen grau und leer. Draußen Regen, Nebel, Stürme. Selten ein Sonnenblick. Beim Frühstück sagt der Vater ein Mal ums andere: „Bei diesem Wetter ist es natürlich ausgeschlossen, daß du ausgehst!“ Und die Wohnung wird zum Kerker. Doch: unten im Keller wohnt der Hausmeister, ein Schuhmacher. Wenn man den besuchte? Das heißt doch nicht ausgehn? Ein Besuch innerhalb des Hauses! — Da unten hockt der Schuster an seinem Werktisch. Die Luft ist schwer und fade — es riecht nach Pech, Leder, altem Schuhwerk und Armeleute-Küche. Durch das kleine Fenster hoch an der Decke dringt fahles Licht, bricht sich in der runden Schusterkugel, die an einer Schnur hängt. Man sieht die Beine der Leute, die auf der Straße vorübergehen. Der Schuster fühlt sich geehrt durch den Besuch, gibt gewichtig Aufklärung über sein Handwerk, läßt es grinsend geschehen, daß Fritz sich im Einschlagen der widerspenstigen Holznägel versucht. Allmählich wird er wärmer, erzählt Stücklein aus seiner Gesellenzeit; er hat ganz Deutschland auf der Walz durchquert, war auch tief im Böhmischen drin und in Tirol. Eine freie, eine wechselvolle, eine bedeutende Zeit! Die schönen, fremden Gegenden, die lustigen Spracheigentümlichkeiten, merkwürdige Bekanntschaften in den Herbergen unterwegs, wohl auch Zwischenfälle mit hohen Ortsobrigkeiten, wegen unerlaubter Erleichterung übervoller Obstbäume oder Weinstöcke — und die Mädel, die Mädel! Durch Wochen jede Nacht eine andere, dann wieder, wenn sich’s grade traf, eine Meistersfrau, die dem jungen Gesellen auch nach Feierabend zu tun gab ... vorbei! Jetzt hat der Schuster ein todböses Weib, das gottlob tagsüber außer Haus ist, auf Bedienung. Aber sie belauert seine Arbeit, seine Ausgänge, knausert mit dem Essen, es gibt Zank und Streit, wohl auch Prügel. „Ich hob sie heiraten missen,“ sagte der Schuster in seinem groben Deutsch, „weil ich ihr a Kind gemacht hob. Ober das hat sie nur geschwindelt, die Bestie. Dos Kind wor von ganz wen andern! — So a Drach, so a böser, ich sog Ihnen, Herr Fritz, monches Mol könnt mich gleich der Teifel holn! So a Kanalje, so a verfluchte!“ Dann bricht er plötzlich ab und lauscht, ob die Frau nicht eben die Treppe herunterschleicht oder gar schon an der Türe steht und horcht, wie es ihre Gewohnheit ist.

Fritz hört ihm gerne zu. Das, ja das war Leben, diese Maßlosigkeit im Genuß! Was, ein Apfel dann und wann, ein Gläschen, ein Weib? Nein! Einen Baum leer fressen, daß man wochenlang das Bauchweh nicht los wurde, den Schnaps in Flaschen, den Wein in Krügen, das Bier in Kübeln saufen, daß Sinn, Verstand und alle Bedenken zum Teufel gingen, und die Weiber kurzerhand zusammenpacken, in einem Graben, in einem Kornfeld, auf dem Heuboden, im Stall — wo sich’s gerade traf. Das tat ein ganzer Kerl! — Er dachte an Betty. Die hatte er bei seiner Rückkehr nicht mehr vorgefunden. Sie war in ihrem Heimatsdorf verheiratet. Aber ihre Nachfolgerin? Ein strammes Bauernmädel, der das heiße Blut aus den Augen blitzte — warum nicht die? Auch dem Schuster gefiel sie. „Dos is a tüchtige Trulle,“ sagte er. „Ober solche junge Mädel sein noch dumm — die fürchten sich vorm Kinderkriegen! Do is nix zu machen!“ Aber Fritz bekam sie doch, fast mühelos, und sein inneres Übergewicht über den weitgereisten Schuster war wiederhergestellt, wenn er ihm auch seinen Triumph verschwieg. —

Und dann war es Winter, ein reicher Winter, mit viel Schnee, Sonne und klarem Frost. Weiß und blauer Schneerauch adelte die Einförmigkeit der engen Gassen, der flachen, toten Felder. — Da ist der Hund Huck, ein gelbweißer Kolli, mit schmalem Kopf und prächtiger Halskrause, nicht sonderlich klug, aber feurig und Fritz blind ergeben. Die beiden ergänzen sich wunderbar: der junge Mensch, der überall die Verbitterung über sein hartes Geschick mit sich trägt, der eigenwillig Schranken setzt zwischen sich und dem weißen Meer draußen, und der gereifte, verständige Hund, der die Freiheit liebt und die weiten Schneeflächen in rasendem Laufe durchpflügt. „Was rennst du so und freust dich, Huck, dummer Huck? Bald müssen wir wieder zurück in die Stadt, dort wartet der Maulkorb auf dich und die Leine!“ Aber Huck läßt sich nicht die Laune verderben, er rennt und springt, wälzt sich im Schnee, überschlägt sich und mit einem Gebell, das fast jubelndes Lachen ist, will er seinen Herrn dazu bringen, sich gleich hemmungslos der Freude hinzugeben. Umsonst — der vergißt Maulkorb und Leine nicht, ist ständig ihrer Schrecken eingedenk. „Glücklicher Hund!“ denkt er. Und die Schneefelder blauen weit: „Komm, du Mensch! Wir leben!“ Er aber sieht nur den Tod, sehnt sich nach ihm und folgt doch, anstatt sich willenlos zum Sterben hinzubetten, haßerfüllt der dunklen Stimme, die ihn zum Dasein zurückruft. —

Nach einförmigen Wochen eine Unterbrechung: Eine neue Blutung. Ohne vorherige Anzeichen, gänzlich unerwartet. Nur unbedeutend auch — doch immerhin Anlaß zur Unterdrückung der letzten Reste bescheidener Freiheit. Die Besuche beim Hausmeister fallen fort, desgleichen die Spaziergänge mit Huck. Tagelanges Bettliegen erst, dann Zimmerhocken. Fritz rast in seiner Kammer, rennt den Kopf gegen die Wände, beißt sich die Knöchel blutig: „Hund Gott, warum mir das, warum?“ Und er hofft auf den rächenden Blitz, der ihn zur Strafe für seine Lästerung zerschmettern soll. Doch der Himmel schweigt. „Bin ich so nichtig, daß ich dich nicht einmal beleidigen kann, Hund, meld’ dich, wenn du bist!“ Und toter Unglaube löst den Aufruhr ab. Fritz beginnt wahre Sträflingsliebe auf sein Zimmer zu verwenden, räumt selbst auf, macht sein Bett alleine, hält besonders den kleinen Schreibtisch in peinlichster Ordnung. Auf dem runden Blechuntersatz des Tintenzeugs liegen links drei Bleistifte, rechts drei Federhalter, sorgfältig ausgerichtet. Tintenlöscher, Mappe, Lineal haben ihre genau bestimmten Plätze. Das ist sein Reich, das er regiert. Bis der Vater einmal den sorgfältigen Aufbau bemerkt und alles durcheinanderwirft: „Was soll denn der Firlefanz! Wie eine alte Jungfer! Schämst du dich nicht?!“ Fritz baut heimlich wieder auf, der Vater aber macht sich von da ab den Spaß, täglich zwei, dreimal ins Zimmer zu kommen und Unordnung zu machen. Fritz läßt es geschehen. Der Schritt des Vaters, seine Art, die Türen zu öffnen und zu schließen, seine Bewegungen in dem kleinen Zimmer, alles schnell, laut, energisch, selbstsicher: ich bin der Herr! — Fritz läßt es geschehen. Und wenn der Vater draußen ist, legt er langsam die Bleistifte wieder zurecht, die Federhalter und das andere. Aber er zittert in glühendem Haß. Oh, wie er den Vater haßt! Einmal hört er ihn im Vorflur stolpern. Und bei dem Gedanken, er könnte hingefallen sein und sich weh getan haben, faßt den Jungen wilde Freude, er reibt sich die Hände, schwenkt die Arme, strampelt mit den Beinen, in lautlosem, wildem Jubel.

Kurze Zeit darauf kommt eine kleine Wandermenagerie in die Stadt. Ein runzliger Elefant, ein alter Löwe, ein Tiger, eine Boa — alle halbtot vor Hunger und durch das ständige Reisen zum Stückgut entwürdigt. Nur einer zeigt Leben, unheimlich gespenstisch: ein Wolf. Der rast hinter den dicken, rostigen Eisenstäben auf und ab. Der Käfig ist so eng, daß die Bewegung des Tieres zum ewigen Wenden wird, links, rechts, links, rechts. Die Augen, der triefende Fang glühen Blutdurst, Sehnsucht nach Weite, nach Gewalttat, nach Fleisch. „Hier, der russische Steppenwolf, der Schrecken des Landmanns, der größte Feind der Schafherden,“ erklärt der Besitzer. „Wenn man dieses Tier gefangen hält, dann rennt es hinter den Gitterstäben immer auf und ab, bis es von ihrem Flimmern erblindet. Auch dieser Wolf ist blind — aber er ist noch sehr böse!“ Und der buntgekleidete Mann fährt mit einer Eisenstange klirrend über das Gitter. Da heult der Wolf schaurig auf, springt an den Wänden hoch, beißt wütend in das Eisenwerk, das ihn von der Freiheit trennt. Doch das hält gut.

Fritz steht dabei, und Haß und Tränen würgen ihn zum Ersticken. „Das bist du,“ kocht es in ihm. „Ein gefangener Wolf, geblendet, der ins Gitter beißt!“ Gretl, neben ihm, legt unvermittelt die Hand auf seinen Arm: „Ich möchte fort,“ sagt sie. „Das ist so traurig hier!“

Und sie gehen. Draußen liegt die Vorstadtwiese in grellem Abendschein. Die Luft ist weich, in dem zertrampelten Rasen regt sich da und dort ein elender grüner Halm; es riecht stark aus allen Pfützen: das ist Frühling! Fritz wirft in jäher Bitterkeit beide Arme hoch und spuckt wütend aus. Und die Schwester geht stumm und blaß neben ihm.

Nach einer Weile fängt der Bruder an: „Wenn ich wenigstens eine Liebe hätte, so eine richtige Studentenliebe, der man Blumen schenkt, und Gedichte macht, und überhaupt ... Alle meine Schulkameraden haben so wen gehabt, nur ich nicht! — ich hab’ mir schon gedacht: sie dürfte nicht zu weit von uns wohnen, weil ich doch oft schlecht weg kann, und von zu Hause müßte sie ziemliche Freiheit haben, damit sie mit mir spazieren gehen kann, weißt du?“ — „Ja,“ sagt Gretl verlegen, „da wäre die Else Kalisch, die geht doch immer mit Studenten.“ — „Kennst du sie?“ fragt der Bruder. Doch sie wehrt hastig ab: „Nein, nein, nur vom Sehen. Aber sie wird doch immer beim Lyzeum erwartet!“ „Ach so, sie hat schon einen,“ meint Fritz enttäuscht. — „Es ist doch beinah jedesmal ein anderer,“ belehrt ihn die Schwester, „sie hat viele Bekanntschaften, allerdings!“ — „Ach Gott, so eine!“ murrt Fritz. — „Aber sie wohnt keine hundert Schritt von uns, in der Seilergasse,“ gibt Gretl zu bedenken. — „Ist das am Ende die jüngste Tochter von dem Finanzrat, die blonde?“ fragt Fritz. Gretl nickt. „Aber wie soll ich die kennen lernen? Kann ich sie denn einfach so ansprechen?“ — „Ich glaube schon,“ sagt Gretl. — „Aber wenn sie mir einen Korb gibt?“ — „Das tut sie nicht!“ sagt Gretl. Und ein Unterton in ihrer Stimme läßt den Bruder auffahren. „Mein Gott, alle können nicht so fein erzogen sein wie wir!“ sagt er bissig. „So ein guter Vater, wie unser Vater! Alle Hochachtung!“ — Da wird Gretl rot vor Eifer: „Sprich nicht so!“ bittet sie. „Er meint es gut, glaub’ mir! Aber ihr versteht euch nicht, das ist der Jammer! Das quält mich so ...“ Und sie schluchzt kurz auf. Der Bruder lacht höhnisch, aber er sagt nichts. Und im Weitergehen drückt ihm Gretl scheu und flüchtig die Hand.

Wenige Tage später macht Fritz die Bekanntschaft der blonden Else, indem er ihr, nach alter Sitte, erst eine halbe Stunde „nachsteigt“, wobei das erkorene Opfer mehrfach überholt, umkreist und angelächelt wird, und sich endlich in einem stillen Winkel der Anlagen „anschmeißt“. Es enttäuschte ihn, zu seiner eigenen Verwunderung, daß alles so glatt ging. Was waren das für Mädel, die sich so einfach ansprechen und begleiten ließen? Er dachte an Gretl, und Verachtung für diese Fremde wollte sich regen. Aber der einmal gefaßte Entschluß erlaubte kein Zurück: Hier war die Gelegenheit zu einer Studentenliebe, und sie mußte ausgenützt werden. Seine Eitelkeit wehrte sich zwar: Was war das schon für ein „Erfolg“, den er mit fünf, zehn oder noch mehr andern teilte? Und wie trostlos alltäglich war das alles, seine hergebrachten Komplimente, ihre Geziertheit, die leeren Reden hin und her. Doch er zwang diese inneren Einwände hartnäckig zum Schweigen. Er wollte lieben; und es gelang ihm bald. Sein Verhältnis zu Minna, der Nachfolgerin Bettys, hatte sich sehr rasch hemmungsloser gestaltet, als ihm lieb war. Das Mädel tat ja, als hätte sie körperliche Ansprüche an ihn zu stellen! Nun, da er die Liebe zu der blonden Else, der Unberührbaren, in sich groß zog und hütete, bot sich ihm ein willkommener Vorwand, Minna fernzuhalten. Der Gedanke an Untreue kam ihm nicht. Was hatten die auch miteinander zu tun, ein Mädel an dem man gedankenlos seine Herrenlust kühlte, und eine Jungfrau, die man anbetete? —

Nun liegen die Felder in jungem Grün, das Wetter ist mild und Fritz kann sich ohne große Schwierigkeit zu täglichen Spaziergängen von Hause entfernen. Meist trifft er sich mit seiner Erwählten auf einsamen Feldwegen an der Stadtgrenze; dann gehen sie langsam nebeneinander hin und er versichert in gewählten Worten, wie sehr und ausschließlich der Gedanke an ihren blonden Liebreiz seine einsamen Stunden fülle. Sie hört ihn sittig an, weiß im rechten Augenblick schämig zu erröten, hat aber manchmal auch eine Art, ihn hastig von unten her anzublitzen, die ihm unbehaglich ist. Verdammt, das ist ja genau so wie Betty oder Minna ... Doch entsetzt weist er den lästerlichen Gedanken alsbald von sich. —

Elsa schwärmt für die Natur und wird nicht müde, mancherlei Schönheiten mit frohen Ausrufen zu begrüßen. Ein bunter Sonnenuntergang, ungewöhnliche Wolkenbildungen, doch auch ein blühender Obstbaum oder ein schillernder Käfer veranlassen sie oft, unvermittelt stehen zu bleiben: „Sehen Sie nur, wie schön!“ sagt sie dann wohl. Und fügt andächtig hinzu: „Ja, die Natur!“ Fritz vermag ihr dabei nicht zu folgen. Der Begriff „Naturgenuß“ fehlt ihm völlig. Wohl kennt er das tierische Behagen, sich oben in Weißwasser im reifen Sommer in einem Waldwinkel zu dehnen und sich mit den grüngoldenen Fichten, dem weichen Moos eins zu fühlen. Doch auch da verläßt ihn nur in seltenen Augenblicken das Gefühl, er sei in fremdem Hause zu Gast. Von der Feldebene hier unten trennen ihn quälende Schranken; und Elsas selbstherrliche Art, die Vorgänge in der Natur wie ein bezahltes Schauspiel mit gelegentlichem gnädigem Beifall zu begleiten, weckt unbestimmten Ärger in ihm.

Einmal gibt es darüber eine kleine Auseinandersetzung. Fritz hat den Hinweis auf eine zartrosa Wolkengruppe mit mürrischem Schweigen beantwortet. Da sagt Elsa spitz: „Sie sind sicher kein guter Mensch — Sie haben gar nichts für die Natur übrig!“ —

Und Fritz gibt bockig zurück: „Erstens habe ich gar keinen Ehrgeiz, ein guter Mensch zu sein; so glänzend geht mir’s schon nicht. Und dann: wird die Wolke vielleicht schöner, wenn ich mich davor stelle und ‚Ach’ und ‚Oh’ rufe? Über so was kann man doch nicht reden!“ — „Sie sind aber doch sonst nicht auf den Mund gefallen!“ spöttelt Elsa. Und er haßt sie plötzlich. Sie scheiden verstimmt. Zu Hause fällt er trotzig über Minna her und übermannt sie. Doch nachher plagen ihn Ekel und Selbstverachtung. Ist er so grenzenlos verdorben, daß keine reine Liebe mehr in ihm wurzeln, ihn vor schmutziger Fleischlust bewahren kann? Warum ist Elsa ihm so fremd, so fern? Nun kennt er sie schon fast ein Vierteljahr, sieht sie täglich — und immer noch dies kalte „Sie“ und „Fräulein Elsa“ — und ein Handkuß dann und wann, als einzig gestattete Liebkosung! Wenn sie sich küssen ließe, das müßte ihm helfen! Aber ein Kuß? — Und er denkt an Gretl. Doch Gretl würde sich ja auch nicht auf der Straße ansprechen oder begleiten lassen ... Und als er fühlt, daß Elsa bei dem Vergleich schlecht wegkommt, beschließt er heftig, an Gretl dabei gar nicht weiter zu denken. Es konnte ganz gut sehr anständige Mädel geben, die sich auch einmal küssen ließen, wenn sie einen sehr lieb hatten. Und Gretl hatte gar nichts dabei zu tun.

Für den nächsten Spaziergang wählt er einen Weg, der einsam und in vielen heimlichen Windungen zwischen hohen Hecken hinführt. Elsa ist von gestern her noch leicht verletzt und gibt sich hoheitsvoll unnahbar. Er braucht lange, um zu seiner Bitte Mut zu fassen. Dann beginnt er leise: „Ich habe eine große Bitte, Fräulein Elsa!“ und bricht ab. Sie blitzt ihn aus den Augenwinkeln an, es sieht fast wie Spott aus. Seine Augen bitten beredt weiter, er faßt schüchtern nach ihrer Hand. Doch das Mädchen wehrt ihm ab: „Ich kann mir schon denken, was Sie wollen! — Ihr Männer seid alle gleich, — Liebe, Zutrauen, genügen euch nicht — ihr müßt mehr haben — das! Schämen Sie sich!“ Fritz ist sprachlos verwirrt: Ist es möglich, daß die Bitte um einen Kuß solcher Empörung begegnet? Und er fühlt, wie ihm das Weinen schmerzhaft in die Kehle steigt. Wütend strafft er das Gesicht, um das Zucken der Mundwinkel zu verbergen und stolpert trostlos neben dem Mädchen her. Da trifft ihn wieder, kurz und spöttisch, ein blitzender Seitenblick, und sein Mißtrauen will jäh aufspringen. Doch er zwingt es nieder, und sagt, nach langer Pause, sehr demütig: „Ist das etwas so Schmähliches — ein Kuß?“ Elsa dreht den Kopf weg, aber er sieht sie lächeln. Lebensfreude kehrt ihm zurück, er beugt sich, küßt den kindlichen Mund. Da beißt sie ihm scharf in die Lippe, daß er erschreckt zurückfährt — was war das? — Elsa sieht ihm gerade in die Augen und sagt: „Held!“ Nichts weiter. Er begleitet sie stumm nach Hause. Kaum ist er allein, meldet sich Siegergefühl. Doch Mißtrauen streitet heftig dagegen an, er muß sich mit Gewalt zwingen, den Vergleich mit Gretl auszuschalten: „Ihr Männer ...“ Könnte Gretl jemals so sprechen? — Doch endlich behauptet sich frohlockende Siegerfreude.

Am nächsten Tage bringt er Krachmandeln mit, schlägt vor, Vielliebchen zu essen, auf Dusagen. Und sein Stolz auf die kühne Erfindung fühlt sich leicht verletzt durch den allzu geringen Widerstand. Immerhin: „Du, Elsa, gib mir noch einen Kuß!“ Wie das klingt! Und er bekommt den Kuß, noch einen, kann sich ohne Bitten noch viele nehmen — das ist Liebe!

Dann zieht Elsa den linken Handschuh aus, zeigt ihm, in den Handballen blutig eingeschnitten F. „Das heißt Fritz“ sagt sie und sieht ihn fest an. „Das hab’ ich mir selber eingeschnitten, mit dem Taschenmesser!“ Er ist überwältigt. So wird er geliebt! „Schneidest du dir ein E?“ fragt sie lockend. — „Nein!“ sagt er überrascht. Doch als er sieht, daß die kurze Ablehnung sie verstimmt, fügt er schnell hinzu: „Schneid’ du mich, daß ich eine Narbe behalte! Zum Andenken!“ Sie drückt ihm wortlos die kleine Klinge in den Handrücken und zieht sie langsam durch, daß aus einem tiefen Schnitt reichlich Blut quillt. „Laß mich kosten,“ flüstert sie, beugt sich über seine Hand und er fühlt ihre scharfen Zähne. Er beginnt zu zittern vor Verlegenheit, reißt seine Hand zurück und umwickelt sie dick mit dem Taschentuch. Sie gehen stumm weiter, bis zu einer abgelegenen Feldscheuer. Da sagt Elsa: „Ich bin müde.“ Er, noch halb in Gedanken verloren, wirft seinen Mantel auf den Wegrand und ladet sie zum Niedersitzen ein. „Nein, nicht hier!“ sagt sie. „Gehn wir in die Scheune!“ Und während er sie verblüfft anstarrt, kommt unverhüllt der Ausdruck in ihr Gesicht, den er bisher in kurzen Augenblicken erspäht hat und nie wahr haben wollte: ein Blitzen in den Augen, die Lippen, dunkelrot, öffnen sich halb — das ist Betty, Minna, das ist der Schmutz! Seine Liebe ist verflogen. Was, Jungfrau, unberührbare! Wütende Enttäuschung und, stärker noch, Angst befallen ihn, Angst davor, mit diesem begehrlichen Weib allein zu sein in geschlossenem Raum. Blitzschnell jagt seine Erinnerung vergangene Eindrücke vorbei. Sein Mißtrauen, überwach nun und ungezügelt, zieht grausam die Summe: die leichte Bekanntschaft, die Bereitwilligkeit zu einsamen Gängen; die Empörung damals, als er um den Kuß bitten wollte — wie falsch und hohl, wohl nur gespielt, um ihn herauszufordern! Anbeten — die? — Bleich vor Verachtung macht er seine gezierteste Tanzstundenverbeugung und fragt: „Darf ich Sie nach Hause begleiten?“ — Da läuft sie wütend davon. Er fühlt sich in seinem Heiligsten verraten, weidet sich wollüstig an bitterem Weltschmerz. Auch Stolz meldet sich, daß er der Versuchung nicht erlegen ist. Die Angst ist vergessen. Keine leiseste Regung mahnt ihn, es könnte ein schönes und heiliges Feuer sein, das zwei junge Körper ineinander schmilzt. Ihm selber unbewußt sind seiner Seele wohl eingebrannt die Striemen jener Züchtigung, die ihn zum Glauben an den Storch zwingen wollte, und geifernde Pfaffenworte springen ihm durchs Hirn, von fleischlicher Vermischung und Unkeuschheit.

Wo bist du, sonniges Hellas!

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