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Das Zimmer ist gemietet und einen Monat im voraus bezahlt. Doch es erweist sich als schlimmer Hereinfall: Schmutz, Lärm und kleine Diebereien; das Essen schlecht und unpünktlich aufgetragen: wie konnte das ein Landsmann empfehlen? Die Erklärung ergibt sich bald: Herr Kurz steht in zarten Beziehungen zu der Wirtin, einer etwas abgebrauchten Witwe auf der Kippe des Altwerdens. Er fährt nicht schlecht dabei — nimmt die Mahlzeiten in ihrem Zimmer, und die kleine Magd muß ihnen auftragen, was gut und teuer ist. Sie besorgt Theaterkarten; jeden Abend sieht man sie in bunter Pracht aus dem Hause segeln. Herr Kurz steuert auf seine Art zum Haushalt bei, indem er gelegentlich einen grünen Landsmann oder sonstigen Bekannten als Zimmerherrn anschleppt. Fritz ist wütend über den listigen Betrug, dabei nicht frei von ehrfürchtigem Neid: das war immerhin ein Stück großes Leben — ein Verhältnis mit einer Witwe! Ein Schuft dieser Kurz, aber doch ein Teufelskerl! — Und der bezahlte Monat mußte abgesessen werden. —

Einmal in der Bank, als sie eben allein in dem engen Zimmer sind, fragt Herr Schmitt mit offenem Hohn: „Na, sind Sie recht zufrieden mit Ihrem Quartier?“ Und als Fritz errötend schweigt, fährt er spöttisch fort: „Mir können Sie’s ruhig sagen — mich hat er ja auch hingeschleppt, als ich neu ankam! Ich weiß Bescheid!“ Fritz fährt giftig auf: „Warum haben Sie mir nichts gesagt?“ Doch der andere zuckt gleichmütig die Achseln: „Ich werde mich wohl hüten, mich einzumengen! Jeder hat das Recht auf seine eigenen Dummheiten!“ Fritz ist sprachlos vor soviel Niedertracht. „Was habe ich Ihnen getan?“ stammelt er endlich. — „Getan? Gar nichts!“ gähnt Herr Schmitt. „Aber warum sollte ich mir Ihretwegen den Kurz zum Feind machen? — Seit gestern trägt er übrigens einen neuen Ring — zu dem werden Sie wohl unbewußt beigesteuert haben!“ Ein schadenfrohes Kichern geht schleunig in wütendem Maschinenklappern unter. Denn aus dem Nebenzimmer klingt die Stimme des Chefs.

Das also ist die Fremde, die vielersehnte? — Grundsätzliche Bosheit und Schadenfreude auf Schritt und Tritt, geistlose Abschreibarbeit dazu — jeder kleinste Fehler Anlaß zu hämischer Zwischenträgerei. Und die fremde Sprache, von der er kaum mehr als fünf Worte versteht! Oft sprechen Kurz und Schmitt in seiner Gegenwart unvermittelt Italienisch, schießen Seitenblicke und wiehern straflos Hohn — und er kann ihnen nichts anhaben. Einmal stellt er sie wohl zur Rede: „Ob sie ihn meinten?“ Da bellen beide empörte Abwehr, Herr Kurz rennt eilends aus dem Zimmer, und keine zehn Minuten später wird Fritz vor den Direktor gerufen. Der sagt, kalt wie immer: „Für studentische Raufhändel ist bei uns keine Zeit! Hier wird gearbeitet! Und da Ihre Vorbildung für das Bankfach ohnehin recht mangelhaft ist und Sie also ständig auf die wohlwollende Nachsicht Ihrer Kollegen angewiesen sind, so kann ich Ihnen nur doppelt dringend zu verträglichem Benehmen raten! Ich hoffe auch ganz bestimmt, nie wieder eine Klage darüber zu hören — sonst müßte ich Ihnen raten, doch lieber an die Universität zurückzugehen. Dort könnten Sie dann nach Herzenslust den Ehrenstandpunkt wahren!“

Beim Rückweg durch die dunklen Gänge hatte Fritz mit wütenden Tränen und dem trotzigen Wunsch zu kämpfen, nun alles hinzuwerfen und zurückzugehen ... Doch die ruhige Besinnung kam bald nach: zurück? Noch einmal als Besiegter zurück, diesmal aus eigener Schuld, sich von Mitleid foltern lassen und von Schadenfreude, und, schlimmer noch, alle düsteren Vorhersagen des Vaters dadurch rechtfertigen? Nein — zurück nicht! Dies hier mußte zu überwinden sein: an Kleinkrieg, mit listiger Bosheit und Verleumdung, war er von jung auf gewöhnt. Der nächste Feind: die Sprache! Der galt es beizukommen. Und Haß, Rachsucht, Trotz, wilde Selbstbehauptung, alles, was an aufpeitschendem Gefühl in ihm ist, stürzt sich auf die fremden Laute, die ihn rings umgeben, sucht ihr Gewirr zu erschließen.

Teures Geld für einen Lehrer ausgeben? — Alles, was entfernt nach Unterricht, nach Schule schmeckt, ist ihm unweigerlich verhaßt. Der Gorilla fällt ihm ein und er spuckt wütend vor sich hin. Aber die Preistäfelchen in den Schaufenstern bieten Anschauungsunterricht. Bei kleinen Einkäufen hilft gelegentlich die Zeichensprache nach. Eine Zahnbürste fehlt. Endloses Rennen durch lange Geschäftsstraßen, bis sich in einem Schaufenster das Gesuchte findet. Doch ohne Bezeichnung. Kurze Schüchernheit — dann steht er im Laden, wetzt den Zeigefinger an den Zähnen und deutet ins Schaufenster hinaus, wie ein Taubstummer. Die Verkäuferin reicht ihm Zahnpulver — nein! Zahnpasta — nein! Sie macht einen gutmütigen Scherz — zeigt einen Schwamm, einen Reibfleck. Da stampft er wütend mit dem Fuß und greift nach der Klinke. Und schon liegt die Zahnbürste vor ihm. Sie ist hart und viel zu breit für ihn — doch für heute mag’s genügen. Der Preis ist schamlos übertrieben — aber ein klingendes Wortgebilde ist für immer gewonnen.

Ein Sprachführer, ein Wörterbuch? Nein! Stück um Stück will er die Sprache erobern, die Türe einbrechen, die ihm das Aufgehen in dieser fremden Welt verwehrt.

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