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In der italienischen Abteilung der Korrespondenz sitzt der Nobile Marinetti, ein bewegliches, schwarzes Männchen von etwas zweideutiger Eleganz in Kleidung und Gebärde. Aber er zeigt Fritz bei jedem Anlaß freundschaftliche Zuneigung, und Fritz nimmt es dankbar hin. Seine ersten Erfahrungen haben ihn gegen Landsleute mißtrauisch gemacht. Auch sucht er italienischen Verkehr, zu steter Übung im Sprechen. Zwar sagt ihm an dem Nobile mancherlei nicht zu: seine ölige Freundlichkeit, das ständige Betonen seiner edlen Geburt, dabei die vielen falschen Ringe, das scharfe Parfüm und die allzu lang getragene Wäsche. Überhaupt ist nur einer unter den paar hundert neuen Dienstgenossen, den er sich von Herzen zum Freunde wünschen könnte: der junge Guido Colonna, ein schlanker Junge, um den es wie ein Mantel von Reinheit liegt. Er trägt tiefe Trauer, doch das eintönige Schwarz läßt sein schönes Gesicht nur klarer leuchten. In den Bureaus flüstert man sich seine Geschichte zu: Der Vater, ein reicher Großgrundbesitzer, hat sein und der Frau Vermögen an der Börse verspielt und sich das Leben genommen. Der Sohn hat das Studium aufgegeben und den Bankposten angetreten, um die Mutter zu erhalten. Ein guter Kopf, er hätte es sicher zum Professor gebracht! Poveretto! — Zu ihm fühlt Fritz sich drängend hingezogen; aber der junge Colonna tut kühl und fremd seinen Dienst und wünscht offenbar keine Annäherung. Und noch hat Fritz keine Möglichkeit, wählerisch zu sein. So schließt er sich an Marinetti an.

Das Zimmer bei Herrn Kurz und seiner Witwe wird aufgegeben. Marinetti weist ihm ein anderes, bei einem alten Koch, der von früher her angeblich in irgendwelchen schleierhaften Beziehungen zum edlen Hause Marinetti stehen soll. Der Koch und seine Frau sehen aus wie das Menschenfresserehepaar im Märchen. Ihre südliche Mundart bleibt unverständlich. Das Zimmerchen liegt im Dachgeschoß eines zweiten Hinterhauses, blickt auf einen stillen, kümmerlich begrünten Hof und stumpfrote Ziegeldächer. Abends klingt Musik aus den ärmlichen Häusern, Gitarren, Mandolinen und weiche, biegsame Stimmen.

Bald hat Fritz einen neuen Bekanntenkreis: Marinetti führt ihn an einem Stammtisch ein, der allabendlich ein gutes Dutzend Börsenagenten und junge Kaufleute vereint. Der Ton ist frei und wenig gewählt. Ist das fremdartig bunte Abendessen vorüber — lachsrote Zuckermelonen, stark gepfeffert; Reis mit rohen Trüffelscheiben, Lerchenbrüste mit Polenta — und mit billigem Landwein reichlich begossen, dann beginnt meist ein Kartenspiel, Hasard der ödesten Art. Naschi Waschi, Grüne Wiese oder Einundzwanzig. Fritz tut mit, doch die Begeisterung der ersten Tage geht bald in leise Ablehnung über. Daß er fast ständig verliert, drückt ihn weniger, obwohl er weiß, daß sein schmales Taschengeld nicht zu lange reichen kann. Aber was sind das für Menschen, die da fieberhaft nach Kupfermünzen gieren, kleinste Verluste mit Faustschlägen auf den Tisch und schmetternden Lästerungen begleiten, ewig Betrug wittern und unerlaubte Kniffe, und sich nach ehrenrührigen Beschimpfungen doch wieder überschwenglich vertragen?

Oft geht es auch in eines der vielen Nachtlokale, wo selbsttätige Spielmaschinen zu leichtem Gewinst locken. Vor flirrenden Farbscheiben entfaltet sich wütender Spieleifer. Auch die Maschine ist nicht sicher vor dem Vorwurf schmutzigen Betruges. Kaum hat einer mehr als drei Einsätze verloren, da werden heulend Wirt und Kellner zusammengerufen, verbrecherischer Handhabungen beschuldigt, mit Verwüstung oder doch Meidung des Lokals, auch polizeilicher Anzeige bedroht. Dann gibt wohl der Wirt eine Runde schillernden Likörs zum besten, man läßt ihn freudig bewegt hochleben und beglückwünscht sich insgeheim zu dem schönen Erfolg energischer Beredsamkeit über einen verstockten Bösewicht.

Der Nobile Marinetti plätschert eifrig in dem vertrauten Element, grinst gierig im Gewinnen, schreit angemessen beim Verlieren und verschmäht gelegentliche kleine Selbsthilfen nicht. Warum sollte man auch nicht einen verlorenen Einsatz zu retten versuchen, wenn es rasch und unauffällig geschieht, ohne daß der Bankhalter es merkt? Und merkt er’s doch, dann werden ihm, nach dröhnenden Unschuldsbeteuerungen, die paar Kupfermünzen großartig zugeschoben — als Geschenk, da! So handelt ein Edelmann!

Fritz hat das Manöver mehrmals mit angesehen, und seine ohnedies geringe Wertschätzung für den neuen Bekannten ist rasch geschwunden. Wenn ihn aber Marinetti, wie es immer öfter geschieht, mit fabelhafter Nebensächlichkeit um ein Darlehen angeht, so mag er nicht nein sagen. Der Mann hat eben doch die Manieren der großen Welt — da darf er nicht zurückstehen! —

Eines Abends, als das gewohnte Hasard mit giftigem Zank und schließlicher Versöhnung zu Ende gegangen ist, schlägt Marinetti einen „Giro artistico“ vor, eine Kunstreise, und die Runde grölt Beifall. Fritz hat den Sinn des Vorschlags nicht begriffen, aber er schließt sich neugierig an, als der lärmende Aufbruch erfolgt. Über breite Straßen und Plätze hinweg geht der Weg, in enge, verzwickte Seitengäßchen, an Winkeln und Sackgassen vorbei. Schlüpfriger Unrat auf höckerigem Pflaster. Süßliche Fäulnis in der Luft. Die Schritte hallen schwer, öde Hauswände bellen die lauten Stimmen nach. Marinetti, an der Spitze, taucht in eine schmale Tür, die andern hinter ihm. Ein dunkler Gang, an seinem Ende glitzert Licht aus Türritzen. Dann ein Salon von fadenscheinigem Prunk, zerrissene Plüschbänke an den Wänden entlang, unter blinden Spiegeln. Eine fette Alte in speckiger Seide erhebt sich träge, mustert mißbilligend die große Schar der neuen Gäste. Marinetti flüstert eine galante Begrüßung, da klatscht sie in die Polsterhände, krächzt in das schwammige Dämmer des Stiegenhauses hinaus: „Mädchen, in den Salon!“ Oben schlagen Türen, Stöckelschuhe klappern die Steinstufen herunter, dann drängen sich weibliche Gestalten herein, zwei, drei, fünf: hohe Seidenstrümpfe, oft geflickt, durchsichtig dünne, kurze Seidenhemdchen, nach Kinderart mit Maschen bebändert, und wüste, zerstörte Gesichter unter getürmten Haaren, mit Schminke und Puder überkleistert, stumpfes Laster in nächtlich geweiteten Augensternen. Wie sie dem Schwarm der Männer nahen, überlegt unzüchtig in Wort und Haltung, scheinen sie unbeseelte, von einem Teufelshirn erdachte Werkzeuge niedrigster Lust. Und doch liegt mehr als Lockung in dem starren Lächeln, das sie alle zeigen. Angst ist darin, Angst ums tägliche Brot, Angst vor Roheit, Heimweh vielleicht; doch auch Haß und dunkle Drohung: „Hier bin ich, Mann, wie du mich gewollt hast! Kehr’ ein in den verfluchten Schoß — er soll dir Siechtum gebären, und Tod!“

Fritz drückt sich scheu in eine Ecke, zwischen Wunsch und Abwehr schmerzhaft schwankend. Die andern greifen herzhaft zu. Bald knallen liebkosende Schläge auf nacktem Fleisch, Dirnenlachen schrillt auf, und breite Zoten. Marinetti, ein derbes Bauernmädel auf den Knien, der die Stadt wohl die Frische, nicht die breithüftige Wucht nehmen konnte, Marinetti wendet sich halb über die Schulter zurück zu Fritz: „Warum so tugendhaft, Freund? Sehen Sie nur, welch schönes Stück Fleisch!“ Und leiser: „Im Vertrauen, das arme Kind ist verrückt nach mir, und ich kann nicht gut anders ... Unglücklicherweise habe ich kein Kleingeld zu mir gesteckt ... zwei Franks vielleicht ... Aber wenn Sie den Vortritt wollen ... gerne ...“

Fritz würgt der Ekel. Bevor er aber noch eine Antwort geben oder die verlangte Münze hervorziehen kann, nach der er mechanisch gegriffen hat, springen zwei handfeste Kerle herein, stellen sich zu beiden Seiten der Tür auf, ein dritter macht zwei lange Schritte bis in die Mitte des Zimmers, schreit befehlend: „Mädel hinaus — die Herren bleiben hier!“ — Polizei! Schon rennen die Mädchen kreischend davon, der Geheimpolizist läßt die Gäste längs der Wände in eine Reihe treten und tastet jeden einzelnen nach Waffen ab, mit kundigen, harten Griffen. „Was tragen Sie in der Westentasche?“ — „Ein Federmesser!“ — „Vorzeigen und öffnen!“ Die Klinge wird an der Breite des Handtellers gemessen; ragt sie darüber hinaus, dann ist es eine verbotene Waffe, auf deren Tragen Gefängnis steht. Fritz wartet trotzig, bis die Reihe an ihn kommt. Die rohe Polizeigewalt empört ihn. Plötzlich fühlt er ein Ziehen an der Rocktasche, greift hin und merkt, daß ihm Marinetti, sein Nachbar, ein grobes Jagdmesser zustecken will. Auf seine hastige Abwehr antwortet Marinetti mit einem zischenden Fluch und stopft die Waffe blitzschnell hinter sich in einen Riß des Sofas. Die Polizisten haben nichts gemerkt, sie haben wohl die Stammtischbrüder schon als harmlose Leute erkannt und führen die Untersuchung nur der Form halber flüchtig durch. Fritz und sein Nachbar bleiben verschont. Sobald die Polizisten die Türe freigeben, bricht die Runde, leicht verstört, auf. Marinetti sagt mit bleichem Grinsen: „Es war natürlich nur ein Scherz, ich wußte ja vom ersten Augenblick an, daß wir gar nicht mehr drankommen würden!“ — Fritz denkt angestrengt nach, dann sagt er mit größtem Nachdruck ein Wort, das er eben erst beim Koch gelernt hat, in die grinsende Larve: „Cimice — Wanze!“ Ein besseres Schimpfwort ist ihm nicht zur Hand. Der andere will auffahren, besinnt sich aber rasch, wohl wegen der schwebenden Schuld, und meckert tückisch. Fritz lacht herzhaft mit. Enttäuschung fühlt er nicht; doch heiße Freude am Abenteuer.

Draußen kurze Beratung; die „Kunstreise“ soll ja durch alle Frauenhäuser der Stadt führen, von den billigsten aufwärts, und darf wegen des kleinen Zwischenfalls nicht abgebrochen werden. Im Gegenteil — nun ist erst die rechte Stimmung da. Sie haben ihr grölendes Lachen wiedergefunden, und der und jener beteuert schmetternd, wie er den dreckigen Spitzel angeschnauzt, niedergebrüllt, nötigenfalls auch erwürgt hätte, wenn nicht eben ...

Und die Kunstreise geht weiter. Die roten Plüschmöbel werden besser, die goldgerahmten Spiegel heller, die Mädchen jünger — aber die Stimmung bleibt die gleiche: Angst, Haß und Drohung hinter starrem, lockendem Lächeln. Die Schar der Zechbrüder lichtet sich — manche bleiben zurück, von billigen Reizen bezwungen. Die andern toben weiter, wie Helden. Marinetti prahlt verächtlich, zu seiner Zeit sei es bei solchen Kunstreisen Ehrensache gewesen, in jedem Hause ein Mädchen zu lieben, mindestens eins ... „Langsam, langsam!“ brüllt der Chor. „Der Mensch ist kein Hahn!“

Den Endpunkt bildet ein prächtiges Haus, fast schon ein Palast, mit dem herrlich gottlosen Namen St. Peter im Obstgarten. An dessen Tor erhebt ein bärbeißiger Pförtner Eintrittsgeld, und ein großer Trupp springt ab. Nur zwei Agenten, deren einer, nach gezischeltem Hin und Her, für Marinetti mit bezahlt, und Fritz treten ein. Auch hier die hergebrachte Einrichtung, roter Plüsch und goldgerahmte Spiegel, doch von höherem Geschmack beherrscht. Keine „Mädchen“ mehr, junge Damen, die in Abendkleidern Konversation machen. Kein schrilles Gelächter, keine Handgreiflichkeiten. Fritz fühlt die kaum errungene Überlegenheit ins Wanken geraten: Dies hier wäre wohl wert, erlebt zu werden. Das ist nicht unzüchtiges Laster schlechthin, das sich mit Nasenrümpfen abtun ließe — hier braucht es weltmännischen Schliff, um unbelächelt bestehen zu können. Brennende Demütigungen: kleiner Bankvolontär, knappes Taschengeld, schlecht angezogen — — — Und doch: wo nimmt nur Marinetti, die häßliche Wanze, die Sicherheit her! Keinen Pfennig in der Tasche und scharmutziert wie ein Pascha, gönnerhaft fast. Die kleine Französin dort, mit weichen braunen Augen ... die sollte zu kaufen sein? Geld sollte die runden Arme, die zarten Beine, den ganzen, feinen Knabenkörper bewegen können? Nein, sicher: Geld gehörte wohl dazu, aber es gab nicht den Ausschlag. Dies schöne Kind war kein Lustautomat — sie wollte in Liebe erobert sein! Und Fritz fühlt heiße Zärtlichkeit für das zerbrechliche Wesen, das ihn schmachtend anblickt. Der Lebemann in ihm flüstert Einwände: „Gott ... ein Weib ... einfach zusammenpacken ... denk’ an Betty!“ Doch das strahlende Seidenkleid siegt. — Dann enge Geldsorge: „Wer weiß, wieviel sie verlangt ... sie wird dich überhalten ...“ Da bäumt sich hochgemut der Lebemann: „Geld spielt keine Rolle!“

So sitzt er stumm und läßt kein Auge von dem jungen Weib, das längst die Sachlage erfaßt hat und, als sicherste Lockung, scheue Zurückhaltung zeigt. Die andern wollen gehen. Wütende Scham: sie sollen nicht Zeugen sein ... sehen, daß er zurückbleibt! So geht er mit. Vorher aber blitzt er dem Mädchen zu: „Ich komme wieder!“ Und die braunen Augen antworten ein flammendes Ja.

Allein mit der braunen Yvonne in einem kleinen Gemach, das fast gesprengt wird von einem übergroßen Bett. Fremdartiges Waschgerät in einem Winkel. „Stätte der Unzucht ... Lasterpfuhl,“ klingt es schreckhaft in Fritz auf. Er steht linkisch stumm. Yvonne öffnet mit raschen, geübten Griffen das Kleid — sie trägt keine Wäsche darunter — wirft es sehr selbstverständlich ab, steht nackt vor ihm. Vor dem matten Glanz ihres jungen Körpers senkt er verwirrt den Blick. „Du hast noch keine Frau geküßt, sag’, mein Kleiner?“ Da springt sein Stolz auf, tief verletzt: „Ich? — Oh, Dutzende!“ Und er faßt herrisch zu, will sie unterjochen. Sie wehrt ihn mit trockenem Nachdruck ab: „Pfui, wie schlecht erzogen! So behandelt man eine Frau nicht! Hast du keinen Respekt?“

Respekt? Ist die Dirne toll? — Ein Weib, das nackt vor einem liegt, das man überdies noch bezahlt, teuer genug bezahlt, verlangt — — Respekt? — Nochmals will er sich auf sie stürzen — doch die braunen Augen glitzern ihm hochmütig entgegen, lähmen seinen Ansturm. Und wieder die spitze Stimme: „Man benimmt sich doch nicht wie ein Tiermännchen!“ Dann leise gurrendes Lachen über seine wütende Verwirrung: „Nun, nun, mein kleiner Wolf, nicht böse sein! Ich meine es gut, man muß dich ein wenig erziehen! Einen Cognac fine Champagne trinkt man doch auch nicht aus Bierhumpen! Man riecht daran, hält ihn gegen das Licht, nippt langsam ... und eine Frau sollte soviel Verfeinerung nicht wert sein?“ Ein kleiner Fuß wird hochgestreckt, und rosige Zehen, zart wie Finger, spielen in seinem Nacken. — So gibt es Wesen, die frei sind von der brennenden Scham, von dem Fluch sündiger Heimlichkeit, der doch auf dem Geschlecht lastet? Ein letztes Mal taucht das verbissene Zelotengesicht des Katecheten auf, seine schleimige Kehlstimme klingt an ... Dann des Vaters eisengrauer Kopf, arbeitsmüde, freudearm — und die sollten recht haben? Recht gegen den jungen Leib da, goldgebräunt unter freierer Sonne und ganz dem Leben zugewandt? Er hascht den spielenden Fuß, küßt ihn scheu, zögernd noch. Herrenwürde? Dann erkämpft er sich mit heißen Lippen ein Reich, an dessen Grenzen er bisher blind umhergetappt ist. —

Daheim in der Dachkammer — ferne Lauten zirpen, kämpfen spöttelnd mit des fetten Kochs Geschnarch, das durch die dünne Zwischenwand schüttert, — ziehen Frauen durch seine Träume — zum erstenmal Frauen, deren glatte Nacktheit unbefangen beherrscht wird von einem frohen Gesicht mit braunen Augen. Yvonnes Augen!

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