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In der Börsenabteilung kommt Fritz an einen Tisch mit dem jungen Colonna, und die enge Arbeitsgemeinschaft ergibt bald engeren Verkehr. Wie viele gemeinhin verschlossene Menschen geht Guido, sobald erst das Eis gebrochen ist, ungehemmt aus sich heraus.

Der Verkehr mit Marinetti ist abgebrochen. „Ich habe es nie begriffen, wie Sie sich mit dem unmöglichen Menschen abgeben konnten!“ sagt Guido. Und Fritz schämt sich. Seine Schuld hat der Nobile übrigens bezahlt, allerdings erst auf nachdrückliches Verlangen, dann aber mit der gewohnten großartigen Gebärde: „Gott ja, die Kleinigkeit — ich habe tatsächlich kein Gedächtnis für solche Bagatellen! In meinen Kreisen ...“

Der Dienst in der Börsenabteilung ist schwer. Der kurze Vormittag zwar — neun bis halb zwölf — wird fast untätig, mit Zeitunglesen und Zigaretten verbracht. Nach der Mittagspause aber, um ein Uhr, geht es unter stärkstem Druck an das Aufarbeiten der neuen Börsenschlüsse. Dann schwirren die Maschinen an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, die Beamten, rote Flecken auf den Wangen, mit zwinkernden Augen und fahrigen Händen, liegen hingegeben über die Schreibtische geworfen, oder hasten nach Auskünften in die Nachbarzimmer. Abgehackte, ungeduldige Fragen finden knappe, gereizte Antwort, halb schreiend gegeben. Türen schmettern, die Diener rasen durch die Abteilung, teilen neue Stöße Post aus, sammeln die fertigen Briefe zur Unterschrift. Gegen sieben Uhr beginnt der Chef einen wilden Rundgang, Uhr in der Hand: „Meine Herren, beeilen Sie sich, die Post muß fort!“ Und wilderes Hasten hebt an. Nach sieben Uhr flaut der Wirbel ab, die Buchungsbriefe sind durch, nun folgen in Stößen die unwichtigeren Drucksachen, die mechanisch ausgefüllt werden. Die Zigaretten qualmen wieder, für die in den Arbeitsstunden keine Zeit war; von Tisch zu Tisch, von Zimmer zu Zimmer fliegen laute Scherzreden, Verabredungen für den Abend. Vergessen die feindselige Hast. — Zwischen acht und neun leeren sich die Räume.

Fritz verachtet die Sklavenseelen, die sich so willenlos der Hetzpeitsche fügen. Doch ihr wildes Tempo nimmt ihn mit, reizt ihn, seinen Mann zu stellen. Der Abend findet ihn mit wirrem Kopf, müde und hungrig, doch friedlicher Betrachtung geneigt. Dann geht er mit Guido langsam durch die Straßen der Stadt, die nun im Spätherbst allabendlich in schwerem Nebel liegt. Nebel! Die Bogenlampen glotzen wie ungeheuere Kugelaugen, nasse Kälte kriecht spinnenfingerig durch dickste Gewänder, tastet nach warmem Leben. Die arbeitsame Stadt aber, von harter Tagesfron befreit, genießt ihren Feierabend, unbekümmert um die gespenstige Drohung der sumpfgeborenen Ungeheuer, die dumpf lauernd und doch ohnmächtig die Luft erfüllen. Vor den breiten Zinntischen der Bar drängt sich die schwatzende Menge der Kaufleute und Angestellten um die abendlichen Apéritifs, schillernde Getränke, halb Medizin, halb scharfer Nervenkitzel. Gasthäuser, die hinter unscheinbarer, schmaler Gassenfront langgestreckte Innenräume bergen, schlucken gierig neue Gäste. Gleich beim Eingang, von der Straße aus sichtbar, locken und prunken wuchtige Schautische, reich beladen mit riesigen Bratenstücken, mit Mastgeflügel, Fischen, Langusten, mit Trüffeln, Käslaiben und ausgesuchtem Obst. Die Gäste stehen genießerisch wählend davor; manche, die einen unverhofften Börsengewinn gelandet haben mögen, fordern prahlend Taglöhnerportionen von seltenen Leckerbissen; andere halten sich bedächtig an die strotzenden Rinderstücke; dann verteilen sie sich an die vielen kleinen Tische, machen Neukommenden Platz. Da und dort klingt noch die Erregung des Arbeitstages in heftigen Gesprächen nach. Die Seide! — Muster, Kokons und Halbgespinnste wandern durch prüfende Finger, werden gekostet, berochen, leicht angesengt und genau bewertet, bis sie endlich wieder in bauchigen Taschen verschwinden. Morgen ist auch ein Tag — nun heißt es ungeheuer essen, um dem abgejagten Körper halbwegs zu ersetzen, was er tagsüber hergeben mußte. —

Fritz sieht die wirbelnde Feierstimmung wie ein Schauspiel an; die wirkenden Triebkräfte, Börsenspiel, Umsatz, Geldgewinn, lassen ihn unberührt, kalt. Anders Guido. In dessen bleichem Gesicht arbeitet zuckende Erregung: „Siehst du, wie sie ums goldene Kalb rasen? Wo ist der Prophet, der ihnen den Götzen zerschlüge! Sind das noch Italiener — diese Halbamerikaner, die sich um Spielgewinste balgen? Oh, ich wollte euch ...! Gib mir Geld, viel Geld, Milliarden, dann beherrsche ich die Börse und treibe das Kleinzeug da zu Paaren, daß ihm Hören und Sehen vergeht! Draußen vor den Toren liegt weites, fruchtbares Land unter den Posümpfen begraben, wartet auf die Erlösung durch ehrliche Menschenhände — oh, ich wollte den Kerlen das Spiel verleiden, wollte sie zurückpeitschen zu nützlicher Arbeit!“ — „Laß sie doch,“ meint Fritz gleichmütig, „schließlich leben wir von ihrem Laster, du und ich, und tausend Bankmenschen!“ — Doch Guido fährt heftig auf: „Du und ich? Verzeih, das ist nicht dasselbe! Ich weiß, was ich will, ich will Geld verdienen, rasend viel Geld, und dazu muß ich den Schwindel von Grund auf mitmachen, wenn mich auch der Ekel halb erstickt. Aber du? Du bist nicht Fisch, nicht Fleisch. Sitzt in der Bank und kümmert sich nicht ums Geschäft — könnte studieren und tut’s nicht — was willst denn du?“ Und Fritz, jäh erschrocken, bleibt ihm die Antwort schuldig. Endlich stammelt er, halb trotzig: „Du kennst meinen Vater nicht ...!“ Und Guido sagt hart: „Nein, ich kenne ihn nicht — aber glaub’ mir, es gibt ärgere als ihn!“ Fritz will auffahren, qualvolle Erinnerungen losschreien, doch Guido unterbricht ihn hastig: „Laß, sag’ mir nichts, höre erst mich! — Jetzt muß ich nach Hause, die Mutter erwartet mich, aber nachher ... Oder halt: begleite mich nach Hause, wir gehen dann in den Leseklub; ich wollte dich ohnedies längst einführen!“

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