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Da ist der Klub. Ein reicher Sonderling hat ihn mit großen Mitteln gegründet, doch seine Schenkung an strenge Bedingungen geknüpft. Eine große Bücherei ist in zwei Sälen und drei kleineren Räumen untergebracht und birgt das Beste, was in vier Sprachen geschrieben wurde. Um die großen Mitteltische stehen bequeme Stühle, begehrter noch sind die großen Lehnsessel in den Fensternischen, unter abgedämpften Seitenlampen. In allen Leseräumen ist das Sprechen strenge verboten. Dicker Bodenbelag dämpft den Schritt. Durch die wohlverwahrten Fenster dringt kein Außenlärm. Die gewünschten Bücher dürfen nur mit kleinen Zetteln angefordert werden, gegrüßt wird mit stummem Nicken. Die Bibliothekare gleiten auf Gummisohlen die hohen Stehleitern auf und nieder. Die tote Stille springt den Eintretenden erst schreckhaft an, bis er, nach wenig Augenblicken, ihre Wohltat dankbar zu fühlen beginnt.

Hinter gefütterten Doppeltüren zwei kleine Spielzimmer. Nackte Wände. Unter gedämpften Mittellampen lange Tische, jeder mit vier ins Holz eingelassenen Schachbrettern. Es darf nur Schach gespielt werden, Gespräche sind auch hier verboten, mit Ausnahme der knappen Worte, die das Spiel erfordert. Die Figuren gleiten lautlos auf kleinen Filzunterlagen. Durch die samtige Stille klingt nur das Atmen der Spielenden und immer wieder das eine Wort: „Schach! ... Schach!“

Als letzter Raum, nochmals durch Doppeltüren verwahrt, ein Sprechzimmer; dicke Filzvorhänge teilen es zu einem halben Dutzend Nischen, in denen zwei, drei Stühle um ein rundes Tischchen stehen. Zu dem Bodenbelag der anderen Räume kommt hier noch deckenhohe Wandbespannung, die den Stimmenklang dämpft und einsaugt. Man spricht im Flüsterton.

In keinem der Klubräume dürfen Speisen oder Getränke verabfolgt werden.

Doch nur auf den ersten Blick scheinen die strengen Satzungen greisenhaftem Eigenwillen entsprungen. Ohne sie läge die Gefahr mangelnder Auslese allzu nahe. Denn nach des Stifters Willen ist der Mitgliedsbeitrag niedrig bemessen, für den Ärmsten erreichbar: anderthalb Franks im Monat. Die lauten Brüder, die ohne Wein und Karten keine Muße kennen, sie mögen anderswo unterkriechen. Die hier unter den grünen Leselampen lautlos über Bücher gebeugt sitzen, das sind die wahrhaft Ruhebedürftigen, denen harter Broterwerb tagsüber keine Zeit läßt zu innerer Sammlung und zum Ausfüllen schmerzlich empfundener Lücken.

Fritz wird von Guido dem Verwalter vorgestellt, der in einem winzigen Büro neben der Eingangshalle sitzt. Guidos Fürsprache kürzt die Aufnahmsförmlichkeiten ab. Zum Schluß nur die würdevolle Mahnung: „Wir sind an die Stiftungsvorschriften gebunden, mein Herr. Besonders das Sprechverbot wird streng gehandhabt. Dreimaliger Verstoß dagegen hat unweigerlich den Ausschluß des Mitgliedes zur Folge. — Bedenken Sie das rechtzeitig, mein Herr, es wäre peinlich für mich und Sie ...“

Dann durchschreiten die Freunde langsam die stillen Gemächer und landen endlich in einer Winkelnische des Sprechzimmers. Fritz sieht der versprochenen Erzählung siegessicher entgegen: Das jäh verstoßene Stutzerle, die gegenseitige Angeberei; dann Felix und sein Auge, die Geschichte vom Storch, die Tanzstunde und vieles, vieles andere — was könnte Guido dem an die Seite zu stellen haben? Noch einmal, wie früher so oft schon, empfindet Fritz, wie das Bewußtsein früh und schuldlos erlittener Unbill ihn mit brennendem Stolz erfüllt, wie, seit dem Erwachen dieses Bewußtseins, seine Tage in der verbissenen Erwartung verstrichen sind, das Leben, das Leben würde gutmachen, reichlich gutmachen, was elterlicher Unverstand gesündigt. Zwar will auch diesmal die innere Stimme laut werden, die ihn seit den letzten Jahren immer eindringlicher mahnt, das träge Warten aufzugeben, dem Leben, der fremden Gewalt, mit Taten die Vergeltung abzuzwingen. Doch noch einmal behält der wehleidige Stolz die Oberhand: „Wie ist mir unrecht geschehn!“

Da beginnt Guido zu sprechen, leise spöttisch, als hätte er des Freundes Gedanken erraten:

„Als ich dich zum ersten Male sah, da fühlte ich gleich, daß du irgendwie an deinem Vater krankst. Eine Jugend, wie die meine, schärft einem den Blick für so was. Und seither habe ich gesehen, daß du verteufelt stolz darauf bist. — Ein paarmal Prügel zur Unzeit, grundlos vielleicht, harte Worte, unsinnige Verbote, die sogenannte strenge Zucht — das schmerzt lange nach! Und du denkst dir nun, kein anderer kann Schlimmeres erfahren haben — wie? — Nun — laß dir sagen: Mein Vater war ein bildschöner Mensch, so wunderbar wohlgebildet bis in die Fingerspitzen, daß man ihm die unadelige Geburt gern nachsah. Doch unter der Maske alter Kultur steckte ein lasterhafter Rohling. Ihr guten Deutschen habt noch nicht Zeit gehabt, den Typus auszubilden. Ihr habt den Haustyrannen im verschwitzten Wollhemd — wie harmlos! Nun gut — meine Mutter verliebte sich in die schöne Maske. Der bloße Gedanke an Niedertracht lag ihr so fern — sie glaubte an den Menschen. An Warnungen hat es nicht gefehlt, ihre Eltern boten alles dagegen auf. Sie hat ihn doch geheiratet. Oh, er wußte sie schlau zu fangen, der Hund: ‚Wenn Sie etwa finden, daß ich Ihrer nicht würdig bin, Contessa, ich trete zurück!’ Das einer Frau wie meiner Mutter, der die Treue zum gegebenen Wort nicht als Tugend, sondern als selbstverständliche Pflicht im Blute lag! — Sie hat ihn geheiratet. Die ersten paar Wochen mag ihm ihre Reinheit Spaß gemacht haben. Dann begann er sie zu vernachlässigen, nahm sein altes Leben wieder auf — Pferde, Weiber, Karten. Meine Mutter brachte mich mit Lebensgefahr zur Welt. Die Schonung aber, die jeder Rüde seiner Hündin gönnt, die brachte der Mensch für meine Mutter nicht auf. Die kanonischen Gesetze verbieten es der Frau, sich dem Manne zu entziehen; darauf berief sich der Schuft, weil er wußte, daß die Bramatis streng katholisch sind. Genug, er brachte sie ein zweites Mal dem Tode nah, bis meine Mutter, um mich nicht schutzlos in seiner Gewalt zu lassen, um ihr Leben zu kämpfen begann. Zu kämpfen, versteh mich recht — er hat sie blutig geschlagen, hat ihr ganze Strähnen Haare ausgerissen, bis sie ihm einmal, halb irrsinnig vor Schmerz, einen kleinen Spielzeugdolch in die Hand stieß; da bekam er Angst. Denn er war feig, oh, feig!

Du denkst: Scheidung? — Vergiß nicht: katholische Ehen sind unlösbar. Und dann: sie hatte ihn gegen den Rat, halb gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet — sollte sie nun ihren entsetzlichen Irrtum eingestehen? Das verbot ihr Stolz. Sie mimte vor aller Welt stilles Glück. Und was ich dir bis jetzt sagte, das habe ich langsam aus alten Dienern herausgefragt, der Amme meiner Mutter, die als Kammerfrau bei ihr geblieben war, und dem alten Kutscher Battista; die sind beide tot.

Sehr bald aber lernte ich selbst sehen, und ich kann dir sagen, mein erstes klarbewußtes Gefühl war tödlicher Haß gegen den Mann, bei dessen bloßem Schritt meine Mutter zitternd erbleichte. Und das Furchtbarste: sie liebte ihn immer noch. Und es gab Zeiten, wo ich sie selbst darum mithaßte.

Als ich sechs Jahre alt war, nahm er, unter dem Vorwand, ich sollte zu Hause unterrichtet werden, seine Geliebten als meine Lehrerinnen ins Haus. Der Form halber mußte ich dann und wann eine Stunde bei ihnen sitzen. Ich habe sie noch in der Nase, die seidenraschelnden Weiber mit gefärbten Haaren, gepudert und geschminkt. Denk’ auch daran: mit sechs Jahren wußte ich schon, was eine Dirne ist. Der Haß ist ein guter Lehrmeister!

Unterrichtet hat mich meine Mutter. Mein Vater kümmerte sich gar nicht mehr um mich, seit ich ihm einmal, als Achtjähriger, mit einem Kindersäbel zu Leibe gegangen war, als er mich schlagen wollte. Er war so feig! — Aber die Maitressenwirtschaft ging weiter, und die ‚Lehrerinnen’ wurden immer jünger, schließlich waren es halbe Kinder, selbst der Schule kaum entwachsen. Es gab schmutzige Geschichten, Erpressungen. Einmal wär’ es ihm fast an den Kragen gegangen, er sollte vor Gericht. Damals gestand meine Mutter ihrem Vater alles, bat um seine Hilfe. Ich horchte an der Tür. Ich war elf Jahre alt. Ich höre heute noch, wie der alte Mann, mein Großvater, wild aufschrie und dann hilflos schluchzte. Kein Wunder: er wollte den Kerl vernichten — und meine Mutter bat kniefällig für ihn. Sie liebte ihn immer noch. Immer noch. So wurde alles vertuscht — aber mein Großvater, mein schöner, vornehmer Großvater starb kurz darauf. Eine Bramati in solchen Händen — das hat ihn wohl umgebracht.

Mein Vater, — wie das klingt, he? — mein Vater trieb es munter fort. Ich sage dir: Keine Unzucht ist unserm Haus erspart geblieben — nach den Mädchen kamen die Knaben — ewig Erpressungen, Klatsch, die Diener wurden frech. Und ewig die lähmende Angst vor dem Skandal, vor dem Staatsanwalt. So bin ich aufgewachsen.

Ich wollte Kunstgeschichte studieren, vielleicht selbst Maler werden. Als ich im dritten Semester war, kam das Ende.

Mein Vater hatte sprichwörtliches Glück im Kartenspiel. Er wird wohl falsch gespielt und aus Angst vor Entdeckung damit aufgehört haben — jedenfalls: dieses Glück verließ ihn plötzlich. Die Verluste nahmen überhand. Da warf er sich in Börsenspekulationen, verband sich, natürlich, mit dem übelsten der hiesigen Makler, einem gerichtsbekannten Wucherer und Halsabschneider. Auch der kam nun fast täglich als Gast ins Haus. Ich hätte den Kerl weiß Gott gerne die Treppe hinabgeworfen — nur die Rücksicht auf meine Mutter band mir immer wieder die Hände. Aber ich begann meinem Vater nachzuspüren, ihn zu umlauern, seinen Schreibtisch durchzustöbern, bis ich endlich einen Wechsel mit gefälschter Unterschrift in die Hände bekam. Es war ein halber Zufall — aber doch auch feine Spitzelarbeit! Da brachte ich meine Mutter in das Landhaus am Comersee, das wir damals noch besaßen, fuhr allein in die Stadt zurück und kaufte einen schönen, amerikanischen Revolver, das Beste, was zu haben war. Den legte ich abends, als mein Vater alleine in seinem Zimmer saß, vor ihn hin und sagte: ‚Du hast auf einem Wechsel über 100000 Lire die Unterschrift des Marchese Boselli gefälscht. Der Wechsel und alle sonstigen Beweise liegen in versiegeltem Umschlag beim Notar Sciaccaluga, mit der Weisung, sie morgen früh acht Uhr dem Staatsanwalt zu übergeben, wenn er bis dahin nicht Gegenbefehl erhält. Diesen Gegenbefehl werde ich ihm sofort nach deinem Tode geben, sonst nicht. Das schwöre ich dir. Und damit du ungestört nachdenken kannst, will ich dein Zimmer abschließen und draußen warten!’

Was glaubst du, er hat mich winselnd wie ein Hund um Gnade angebettelt. Ich schloß ihn im Zimmer ein und saß die lange Nacht draußen auf dem Gang. Ums Morgengrauen kam dann der schwache Knall. Ein gefälliger alter Hausarzt hat Tod durch Unfall beim Reinigen einer Waffe festgestellt. Das war vor drei Jahren, an meinem neunzehnten Geburtstag.

Dann kam der Zusammenbruch. Unser Haus, das alte Stammhaus, das Landgut, alles wurde verkauft. Der Makler hat uns schwer betrogen, aber ich kam gegen seine Kniffe nicht auf. Ihm zuliebe bin ich zur Bank gegangen. Er soll der erste sein, den ich an die Wand drücke. Und bald ist es so weit.“

Der dunkelgekleidete Diener kommt aus dem Nebenzimmer, sagt laut und eintönig: „Mitternacht, meine Herren! Es wird geschlossen!“ und bleibt wartend in der Tür stehen. Fritz begrüßt die Unterbrechung. Er ist im Innersten aufgerührt und macht sich mit leisem Grauen klar, was er empfindet. Das Ungeheuerliche an dem fremden Schicksal entgleitet ihm. Nur die Erkenntnis brennt sich ihm ein, daß so, und nur so väterlicher Zwingherrschaft begegnet werden durfte, gleichgültig, in welchem Ausmaß sie sich zeigte. Indem man einen stahlharten jungen Willen dagegen setzte und seinen Weg selbst suchte. Nicht durch verlogene Unterwürfigkeit und heimliche Seitensprünge. Mit ungeahnter Gewalt donnert die fremde Stimme in ihm alle wehleidigen Erinnerungen nieder mit der Frage: „Wenn dir unrecht geschehen ist, du Junger, was hast du dagegen getan?“

Sie gehen durch die langsam entschlafende Stadt. Guido sagt unvermittelt: „Was ich dir heute sagte, weiß niemand außer dir und mir. Mir hat es wohlgetan, das alles einmal auszusprechen, aber ich glaubte auch dir zu nützen. Ich hab’ dich gern — ihr Deutsche gehorcht tieferen Gefühlen, seid nicht so unmittelbare Triebwesen wie der Durchschnitt hierzuland. Doch vielleicht hast du nur den Vatermord herausgehört — denn ich habe ihn ja getötet — und verdammst mich jetzt?“

Da fährt Fritz aus tiefem Nachdenken auf: „Nein, nein, glaub’ das nicht! Jetzt weiß ich: Wir alle müssen unsre Eltern morden, in Liebe oder in Haß, müssen sie morden. Sonst geht es uns ans Leben. Du hast ja tausendmal recht! Daß ich mich nicht gewehrt habe! Weißt du was — das ist der Eunuchenglaube, den sie uns von klein auf eintrichtern: Wenn dir einer die linke Backe schlägt, so halt ihm die rechte hin! So wehrt sich ein Kadaver — mit Verwesung! — Oh, was hab’ ich mir antun lassen — ich könnte heulen, wenn ich dran denke!“

Da faßt ihn Guido lächelnd beim Arm: „Laß gut sein — du stehst noch immer nicht drüber! Nicht zurück — vorwärts mußt du schauen! Läßt du dich nicht immer noch treiben? Weißt du denn überhaupt, was du willst?“

Da ist sie wieder, die quälende Frage: wollen? Blitzartig zucken Bilder vorbei — ein Palast in weitem Park, Vollblutpferde, Jagdhörner, ersterbende Lakaien — aber der Weg dahin? Ein Schatz — ein Wunder? Auf die Fee warten, oder auf die guten Zwerge, wie der arme Hirt im Märchen? Endlich sagt er trotzig:

„Du hast leicht reden — du bist in einer Großstadt aufgewachsen, hier, unter diesem Himmel, und wenn dein Vater noch so arg war, darum war doch dein Haus ein alter Palast, und du hattest Diener und Pferde, und ein Landgut ...“

„Das entbehre ich leicht. Und ich werde mir alles wieder schaffen!“

„Mag sein — du hast das alles jedenfalls schon gehabt, du kennst es! Aber ich? Ich tappe ja noch wie blind herum! Ich muß erst sehen lernen! Dann werde ich sagen können, was ich will!“

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