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Der Abendzug der Gotthardtbahn stampft durch nächtige Felder. Guido und Fritz, der Bank mit Mühe entronnen, kauen atemlos an Weißbrot, Käse und kaltem Fleisch. „Verdammt,“ sagt Fritz, „ich hab’ schon geglaubt, wir kommen nicht mehr mit! Im letzten Augenblicke wollte mich der Chef noch einen ellenlangen Brief umschreiben lassen, wegen eines lächerlichen Fehlers. ‚Radiert wird nicht!’ sagt der Schöps. Aber ich hab’ natürlich doch radiert. So eine Schufterei, daß man auch am Sonnabend bis in die Nacht hinein felbern muß!“ — „In der Buchhaltung ist’s noch ärger, da sitzen sie jetzt jede Nacht bis ein, zwei Uhr über der Bilanz!“ meint Guido gleichmütig.

Fritz würgt schweigend an einem übergroßen, trockenen Bissen, verschluckt sich, hustet krampfhaft und lauscht gespannt in sich hinein, von eiskaltem Schreck durchzuckt: „Ist das nicht wieder ...“

Aber es ist nichts. Die Knochenhand läßt sein Herz los, das wild lostobt und langsam wieder in Gleichtakt fällt. „Verfluchtes Gerippe, nun hättest du mir wohl gerne die Freude verdorben! Grad nicht! Hier fahre ich mitten durch die Weltgeschichte, lauter große Namen um mich her — Mailand, Gotthardtbahn, Como — und die Scala, und mein Klub ... das ist so meine tägliche Umgebung! Und es kommt noch besser, wart’ nur! In die verfluchten Rübenfelder kriegst du mich nicht mehr!“ Und beseligt sprudelt er Lästerungen vor sich hin, ersinnt fabelhafte Schimpfworte, singt endlich nach der Sterbearie der Traviata laut hinaus:

Verfluchter Knochenmann, du dummes Luder,

Nein, nein, du kriegst mich nicht, ich bin zu jung für dich!

„Was hast du?“ fragt Guido erstaunt. „Mir ist was eingefallen,“ grinst er zurück.

„Como!“ brüllt es draußen. Sie verlassen den Zug, der eilig weitersaust, wandern durch den kleinen Bahnhof in den stillen Ort hinaus. Die Nacht ist klar geworden. Zackige Hügelkuppen zerreißen den mondlosen Sternenhimmel. Weithin dehnt sich, leicht gewölbt, die bleifarbene Wasserfläche, spiegelt glitzernd die Lichter der Strandhäuser wider. Leise und langsam pocht der See an die Kaimauern. Es klingt wie ruhiger Pulsschlag. Unendlicher Friede. —

Sie gehen ein Stück auf der breiten Straße nach Chiasso, biegen dann in einen engen Waldweg ein. „Das ist ein Schmugglerweg, der die großen Serpentinen abschneidet,“ erklärt Guido. Und Fritz fühlt kribbelnden Stolz. — Da kriecht man nun auf Schleichwegen durch eine fremde, mitternächtige Landschaft, so ganz selbstverständlich — Donnerwetter, ja: das war nun doch wohl schon Leben!

Spät nachts pochen sie an die Tür einer kleinen Schenke in Chiasso, durch deren morsche Fensterläden noch trübes Licht schimmert. Aufgeregtes Hin und Her drinnen, dann eine rauhe Stimme: „Wer ist draußen?“ — „Keine Angst, ich bin’s, Colonna!“ sagt Guido und flüstert dem Freunde zu: „Sie haben uns für Gendarmen gehalten — sie haben öfter Schmugglerbesuch!“ Fritz stampft vor Entzücken lautlos mit den Füßen.

In der rußigen Wohnküche, von einer eisernen, altmodischen Öllampe dürftig erhellt, sitzen ein paar dunkelhäutige Gesellen beieinander, verwitterte Filzhüte auf den struppigen Köpfen, die weiten Samthosen von roten und blauen Leibbinden gegürtet. — Es mögen harmlose Dörfler sein, die eben erst jenseits der Grenze ihren Wochenbedarf an Reis und Öl gegen Tabak und Zündhölzer eingetauscht haben und nun bescheiden den Sonnabend feiern. Aber Fritzens aufgestachelte Phantasie denkt sie zu wüsten Grenzräubern um, deren jeder ungezählte Zöllner auf dem Gewissen hat. Und prüfend sucht er den Don José unter ihnen herauszufinden.

Die eine Schmalwand nimmt fast ganz ein riesiger offener Kamin ein, der mit einem Vorbau wie ein kleines Haus ins Zimmer ragt. In der rußigen Höhlung steht ein klobiger Dreifuß mit schwarzgebranntem Kessel. Auf den schmalen Steinbänken, hart neben der sterbenden Glut, sitzen die Freunde einander gegenüber, und Fritz vergeht fast in stolzem Wohlgefühl. Was war man doch für ein Kerl, der solche Nächte in Räuberschenken einfach so mit machte!

Ungern nur und auf Drängen des Freundes entschließt er sich zu kurzer Ruhe in der dürftigen Schlafkammer. Das bleiche Morgenlicht findet sie wieder in der rußigen Küche, vor riesigen, henkellosen Schalen mit heißer Milch und Traubenschnaps. Lustiges Frühstück! Wenn das der Vater wüßte!

Dann die mattgelben Wiesenhänge des Monte Generoso, gegen den Gipfel zu brüchige Schneefelder. Die Luft ist rein und mild. Überall springt die Fremde in den Sehkreis, mit weißen, seltsam nackten Häusern, flachen Ziegeldächern, mit Zypressen und Pinien, mahnend: welche Auszeichnung, das sehen zu dürfen! Unerhörtes Übergewicht über die Eltern — die waren nicht weiter als Bozen. — Die Eitelkeit wächst.

Oben, bei der verwehten Zahnradbahnstation, beginnt Guido prunkende Namen aufzuzählen: links der Como-See, mit den spitzen Buchten von Como und Lecco, rechts der Lugano-See, dort hinten taucht ein Stück vom Lago Maggiore auf, dort liegt die Isola Bella; weit im Norden flammen Schneeberge, die gehören schon zum Engadin ... und da ... und dort ...

Fritz hört selbstgefällig zu. Das ist wohl was anderes als das flache Rübenland mit halbslawischen Nestern ...! Pallanza Menaggio ... Bellaggio ...

Doch plötzlich fühlt er, wie das strahlende Antlitz der Landschaft sich verzerrt zum kalten, höhnischen Grinsen, voll Verachtung: „Du Überwinder, der den Vater morden wollte — sieh, wie du auf Schritt und Tritt den Gedanken an ihn mit dir schleppst, wie ein entlaufener Sklave die gesprengte Fessel! Du siehst nicht, wie die Pinie da unten, fächerig, zart, in dunklem Grün gegen See und Himmel steht, siehst nicht die weißen Wolken über Wiesenhügel treiben, siehst das Farbenspiel der Seewellen nicht, und die Freude an der seligen Weite, an lichtem Leben ist dir fremd. — Namen brauchst du und Zahlen, die dir ins Ohr klingeln, und deine zertretene Eitelkeit aufrichten und stärken sollen: ‚Das hab’ ich gesehen!’ — Blind könntest du sein, und sähest darum nicht weniger! Armseliger Wicht!“

Wahr, tausendmal wahr! Der Gedanke an den Vater verläßt ihn nicht. Wird der Haß nie sterben? Oder — ist es kein Haß? Ist es ...

Aber er tut die Schwäche mit wütendem Kopfruck ab: Haß ist es, gerechter Haß! Und wer ihm den antasten will, der ist sein Feind! — Stumm und trotzig steigt er neben dem Freunde die steilen Hänge hinab, an die sonnigen Ufer. Und fragt verbissen immer aufs neue nach Namen, hört kaum die Antwort, fragt weiter — und fühlt brennend, am ganzen Körper, den lachenden Hohn der Berge und Täler um ihn: „Komm wieder, wenn du frei bist!“

Unten am See trillern die Lerchen in den weiten Gärten. Da sagt Guido: „Wart’, gleich hier wohnt ein Bekannter — vielleicht borgt er mir sein Gewehr, dann könnten wir ein wenig auf die Jagd gehen!“ — „Jagd, gibt es das hier?“ fragt Fritz begeistert. — „Natürlich, wart’ nur!“ ruft Guido zurück und eilt einem reichen Landhause zu, das aus alten Bäumen hervorleuchtet. Fritz hat sein ungetrübtes Selbstbewußtsein wieder. Das ist die rechte Antwort auf das Hohnlachen: „Komm wieder, wenn du frei bist!“ Ein Gewehr in die Hand, und Löcher in die grinsende Fratze gedonnert! Die Kreatur beschleichen, überwinden, töten ...

Da kommt Guido zurück, mit einer schweren Entenflinte von schöner englischer Arbeit, und mit einem seltsamen Messinggehäuse. Fritz erhebt sachverständige Bedenken: „Hast du keinen Hund mitgebracht?“ — „Hund — wozu denn?“ lacht der andere. „Wo fangen wir an?“ fragt Fritz. — „Gleich hier, auf dem Stück Sturzacker,“ sagt Guido, gibt Fritz das Gewehr, der es mit Kennermiene prüft, öffnet und schließt, und kniet mit dem Messinggehäuse auf den Ackerboden. Auf einen Stift, der aus dem Deckel ragt, werden rechtwinklig zueinander zwei kleine Querbalken aufgesetzt, in die viele kleine Spiegelstückchen eingelassen sind. Dann das Knirschen einer aufgezogenen Uhrfeder, und die beiden Querbalken beginnen sich wirbelnd zu drehen, einer rechts, einer links herum. Die Spiegelstückchen schießen bunte Blitze im Sonnenschein, Guido kommt eilig zurück, nimmt das Gewehr, ladet und drückt den Freund hastig in die Knie: „Jetzt still, sie werden gleich da sein!“ — „Was soll denn kommen — Raubvögel?“ flüstert Fritz verständnislos. Aber Guido hält die Augen fest auf das wirbelnde Spiegelwerk geheftet und schüttelt ablehnend den Kopf. Er ist aufgeregt, und aus seinem starren Blick spricht richtiges Jagdfieber. Fritz beginnt ebenfalls die Umgebung des Uhrwerks scharf zu belauern — vielleicht soll ein Fuchs kommen, oder ein seltener Nager, Hamster vielleicht? Da wirft ihn ein donnernder Schuß fast auf den Rücken vor Schreck. „Was war’s? Hast du getroffen?“ fragt er bebend. Aber Guido, weiß bis in die Lippen, springt wortlos die fünf Schritte bis zum Uhrwerk, bückt sich einmal, noch einmal und hebt zwei Körperchen auf. Fritz, auf Wild von mindestens Hühnergröße gefaßt, sieht erst gar nichts, dann, als Guido sieghaft die Beute schwenkt, erkennt er Lerchen. Lerchen, mein Gott! Sie sind so lächerlich klein und wehrlos — man könnte sie fast in die Mündung der schweren Entenflinte stopfen ... das heißt Jagd? — Aber Guido ist sehr stolz: „Zwei auf einen Schuß! Wart’ nur, wir müssen ein volles Dutzend zusammenbringen. Das gibt ein feines Nachtmahl! — Willst du jetzt versuchen?“ Doch Fritz verneint stumm. Er sieht die weiten Nadelwälder von Weißwasser vor sich, denkt an den Vater, der wochenlang unverdrossen einem heimlichen Berghirsch nachspürt ... Wieder der Vater! — Aber er ist doch ein Weidmann! — Dies hier, auf Singvögel donnern aus halben Kanonen ...

Und zum erstenmal stemmt er der prunkenden Fremde den Stolz auf die arme Heimat entgegen.

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