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Ein kurzer, warmer Frühling ist unversehens zu strahlendem Frühsommer geworden. Wie das wuchert und blüht! Nun werden die Werktage in der Stadt zur lastenden Bürde, die Sehnsucht nach Wald und Wasser singt im Blut. An jedem Wochenende geht es hinaus an die Seen; einmal auf die Berge bei Lecco, den Monte Pertüs und die kleine Grignetta. Da führen schmale Pfade durch wahre Dickichte von Alpenrosen, und eisige Bäche schäumen. Der kleine Lugano-See ist weicher, von hügeligem Laubwald umgeben und beherrscht von dem kahlen Almenkegel des Generoso. Am schwersten ist dem Lago Maggiore beizukommen, der kann recht hochmütig sein, mit der verwaschenen Pracht seiner Schlößchen und den altmodischen Terrassengärten. Doch wird die eitle Lust an Namen langsam überwunden, und langsam schwindet auch die kalte Distanz zu der fremden Landschaft. Keine drohende Frage mehr klingt aus der großartigen Weite, auch kein Hohn. Es gibt Raststunden voll seliger Entrückung, wo jeder Nebengedanke stumm zerrinnt in dem Meer von friedlicher Stille.

„Sag, Guido, glaubst du, daß jedes Volk sich das Land ausgesucht hat, das ihm am besten zusagte — oder hat der Boden die Menschen geformt, die auf ihm gelandet sind?“ —

„Ich glaube sicher nicht, daß der Boden uns Menschen formen kann — wir sind die Herren der Erde!“

„Ach Gott, arme Herren, Guido! Im Winter sterben wir vor Kälte, im Sommer vor Hitze — und wenn der Boden nichts tragen wollte, müßten wir verhungern!“

„Er muß tragen, wir zwingen ihn!“

„Zwingst du Hagel, Blitz und Regen? — Und wenn schon — wie willst du auf Rübenboden Wein ernten, Reis und Oliven? — Nein, nein, wir sind Kinder der Scholle, nicht ihre Herren. Und glücklich, wer die Seele des Himmelsstriches mit bekommt, unter dem er geboren ist. Der mag zufrieden sein mit noch so hartem Los, denn er kennt kein besseres und hat die Sehnsucht nicht, es kennen zu lernen. Aber wer im grauen Norden aufwächst mit einer südlichen Seele, der bleibt arm und heimatlos!“

„Sprichst du von dir?“

„Ja und nein. Hier ist alles Weite, Überfluß, Schönheit — wie leicht ist es da, zufrieden und gütig zu sein. Aber du ahnst ja nicht, wie trostlos arm an Freude es dort oben bei uns ist! Häßliche Häuser, eng zusammengewinkelt, um den kostbaren Rübenboden zu schonen. Ringsum ebene Felder, weiß im Winter, braun im Frühling, grün im Sommer, gelb im Herbst — in ewigem Wechsel. Wie sollen dort frohe Menschen erwachsen? Dort ist das Leben eine Schuld, die abgearbeitet werden muß. — Ich denke an meinen Vater — was wäre aus dem geworden, hätte ihn das Schicksal in diese Landschaft gestellt. Und aus mir ...!“

„Du stehst ja mitten drin in der gepriesenen Landschaft!“

„Ja — aber die Kindheit dort oben läßt mich nicht los!“

„Wirklich, läßt sie dich nicht los, du Ärmster! — Nun, ich glaube weit eher, du willst sie nicht loslassen — oder?“

„Nein, ich will nicht,“ sagt Fritz langsam.

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